Mond über Beton. Julia Rothenburg

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Название Mond über Beton
Автор произведения Julia Rothenburg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627022921



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nicht, dass sie direkt hinter dem Türspion steht. Dass sie niemals schläft. Dass ihre kleinen Jungsaugen im Bullauge riesig werden, die Augenbrauen noch buschiger, dass sie jedes Härchen sehen kann von ihrem Kleine-Jungs-Flaum.

      Oder dass sie, wenn sie aus ihrer Wohnung herauskommt, oben an der Balustrade steht, dass sie über den Platz schaut, dass sie sieht, wer das Haus verlässt, wer es betritt. Sie kann alles erkennen, was da unten vor sich geht.

      Die Familie aus dem Dritten mit ihren drei lauten Kindern, die hinkende Alte aus dem Fünften, die kleine Türkin, wenn sie morgens zur Arbeit muss. Wenn sie von der Arbeit wiederkommt, die Schminke verschmiert. Der dicke Familienvater, nur noch ein Schatten, ein großer Schatten immerhin. Die Söhne wie Welpen. Haarige, grausame Welpen. Stanca muss nur vom Balkon schauen, um zu wissen, was sie da treiben.

      Peer, der vor gar nicht so langer Zeit auch mal ein Welpe war, fiept in seiner Ecke. Wie die Zeit vergeht, denkt Stanca, da hat sie ihn doch gerade erst in der Gosse gefunden, das winzige Ding, am Kanal in einer Kiste. Die Kiste war aus Pappe und wackelte, und es regnete, und Stanca musste sich immerzu übers Gesicht wischen, weil ihr das Wasser in die Augen lief.

      Ist ein hässliches Vieh draus geworden. Haart viel, frisst viel. Und jetzt hat das Biest nicht mal mehr ein eigenes Zimmer. Muss aus seiner Höhle raus.

      Stank ganz schön, hat sie stundenlang geschrubbt. Und Peer, das faule Mistvieh, saß nur fiepend daneben und hätte beinahe wieder in die Ecke gepinkelt. Nichts da. Nicht mehr zumindest. Normalweise ist ihr das ja egal. Bei Peer und ihr heißt es: leben und leben lassen. Was soll sie ihm auch vorschreiben? Hat ja schon genug erlebt im Leben.

      Das ist etwas, das hat Stanca über die Jahre verstanden: dass man genug erleben kann. Tiere unter Tieren, so leben Peer und sie hier. Haarig ist sie auch, weiß sie selbst, überall hat sie Haare bekommen in den letzten Jahren. Ist froh, dass Heinrich das nicht mehr sehen muss. Die schöne Stanca, jetzt ein haariges Monster. Gut, schön war sie nie. Aber als er sie damals beim Dekorieren im Schaufenster gesehen hat, da hatte sie noch Kurven und lange blonde Haare, zum Zopf geflochten, das stand ihr gut, das brachte das runde Gesicht zur Geltung wie ein Foto in einem Rahmen.

      Peer winselt, und Stanca schlägt mit dem Besen nach ihm. Soll endlich das Maul halten, die Töle. Hätte sie ihn eben doch liegen lassen sollen, das winselnde Ding, damals in der Kiste, durchweicht, durchweichte Pappe, durchweichte Töle. Aber so ist sie eben, weiches Herz. Genau wie jetzt, dass sie hier jemanden aufnimmt, in ihrer Wohnung. In Peers Zimmer. Dass sie fortan mit Peer ein Zimmer teilt. Zimmer teilen, das musste man schon immer. Damals im Dorf mit den Eltern, dann auf der Arbeit den Arbeitsraum, dann mit Heinrich. Dann mit dem toten Heinrich. Dann mit dem Geist von Heinrich. Jetzt mit Peer.

      Es klingelt, da hat sie gerade den Schrank noch mal ausgewischt. Dass sie sich überhaupt solch eine Mühe macht für irgendein Jüngelchen. Es haben nur Jüngelchen geschrieben. Der hier war der Einzige, der Deutsch sprach. Sie hat sich nicht abgequält mit der korrekten deutschen Aussprache, um jetzt jemanden in ihre Wohnung zu lassen, der es nicht sprechen kann. Damals, das weiß sie noch, wie Heinrich über ihr Deutsch gelacht hat, so altmodisch, so spricht man doch nicht, Sabinchen. Dabei hatte der doch selbst einen Namen wie aus einem Deutschlehrbuch. Aber er hat sich gekümmert, trotz des Lachens, hat ihr Bücher besorgt und dann Kassetten, als er merkte, dass sie viel lieber zuhört, als zu lesen.

      Auf der Matte steht ein Jüngelchen mit großen Ohren und einem Rucksack, der größer ist als er selbst und über seinem Kopf hin und her schwankt. Er ist ganz weiß im Gesicht, hat die Arme verschränkt und schaut hin und her, hin und her. Peer winselt zwischen ihren Füßen hindurch.

      Jonas Schneider, sagt das Jüngelchen, und er ist so jung, kaum dem Stimmbruch entwachsen. Aber was weiß sie schon, die Jungs ziehen ja immer jünger aus, sterben später. Heinrich sah schon aus wie ein alter Mann, als sie ihn kennenlernte. Ein hübsches Gesicht, aber schon damals mit Glatze, fast, und Schmerbauch, dabei war er da sogar noch jung, verglichen mit später, ist alt geblieben, bis er alt war. Andere Eltern hätten gesagt: Was willst du denn mit so einem Alten? Bist doch jung, hast doch hübsche Zöpfe. Aber der Name, der Name hatte alles geändert, Heinrich, wie ein Prinz aus dem Märchen. Die Mutter hatte ganz verzückt einen Kaffee gemacht, den Guten, dabei hatten sie den so selten, hatten sonst immer das Pulver gespart, und für Heinrich gab’s auch das gute Geschirr. Da saß er am Tisch, da konnte man den Schmerbauch nicht sehen. Hat auch ganz brav um ihre Hand angehalten. Hat es auf Rumänisch versucht, herzzerreißend. Hat gleich wieder aufgehört, die paar Vokabeln, die er kannte. Und war ja auch unnötig, sie haben eh alle Deutsch gesprochen, Deutsch Deutsch Deutsch.

      Sie sitzen am Küchentisch, und Stanca schenkt dem Jüngelchen Kaffee ein. Trinkt er ganz artig, auch wenn er sich immerzu umschaut dabei. Soll er gucken. Auf die Einrichtung ist sie nicht stolz, aber hässlich ist sie auch nicht. Haben sich schließlich damals Mühe gegeben, also Heinrich, dass es auch schön ist für sie. Dass das junge Ding sich hier auch wohlfühlt. Schon in der alten Wohnung, alles hab ich neu gemacht für dich, hat er gesagt. Dabei war ja auf den ersten Blick zu sehen, dass das nicht sein Werk war, dass da eine Frau –

      Geputzt hat sie immer, alles sauber gehalten, wäre Peer nicht, die Wohnung wäre blitzesauber.

      Jetzt sabbert das Tier zu ihren Füßen, und Jüngelchen beugt sich runter, um es bei den Ohren zu kraulen, und Peer, der Jammerlappen, zuckt ganz nervös mit dem Schwänzchen umher und versteckt sich hinter Stancas Hausschuhen, den Clogs aus Plastik, an denen er die Ränder schon abgekaut hat.

      Es wäre für einen Monat zu haben?, fragt Jüngelchen, mit Namen Jonas.

      Dass die Deutschen sich jetzt solche Namen aussuchen. Hätte sie ein Kind gehabt, sie hätte es anders genannt. Namen mit G sind schön und alt.

      Sicher, sagt Stanca, sicher. Einen Monat, zwei Monate.

      Die Kaution in bar, sagt Stanca.

      Jüngelchen nickt, kramt schon in seiner Tasche. Stanca wartet und sieht zu, wie seine Finger zittern.

      Sie möchte zu ihm rübergreifen, ihm die Hand tätscheln, genau wie sie Peer den Kopf tätschelt, wenn er sich wieder aufregt, weiß Gott was für Alpträume das kleine Mistvieh umtreiben, welche Geister er sieht, grausame haarige Vorfahren, wenn er die Wand ankläfft. Aber sie kennt das ja, das mögen nur die Tiere, das Klopfen und Tätscheln auf Köpfe. Und überhaupt gibt es nichts zu klopfen. Sie braucht das Geld. Also begnügt sie sich mit Peer, und das Vieh gurgelt zu ihren Füßen vor sich hin.

      Jonas zählt die Scheine auf den Küchentisch.

      Du nimmst dir alles aus der Küche, was du brauchst, sagt Stanca. Das ist kein Problem für mich.

      Das ist nett, danke, sagt Jüngelchen und klopft mit den sauber gefeilten Fingernägeln auf dem Tisch herum. Da ist er, der Bruch, den es immer gibt, denkt Stanca. Und er verläuft in Deutschland zwischen den Männern, die ihre Fingernägel feilen, und denen, die es nicht tun, die anpacken. Aber das braucht Jüngelchen nicht. Sicherlich Student.

      Wir sind im Geschäft, sagt Stanca. Wie das klingt. Das hat Heinrich immer so gesagt. Hat er damals auch zu ihrem Vater gesagt, schalkhaft, Schulterklopfen. Sie erinnert sich noch genau an den Gesichtsausdruck des Vaters, er lachte oft, man sah die schwarzen Löcher, wo die Zähne fehlten. Auch Augen wie Löcher, die hatte ihr Vater. Er schaute zu Stanca. Sie nickte, er nickte auch.

      Das Jüngelchen nickt. Super, ich rauche auch nicht oder so.

      Ach, denkt Stanca, du kleiner Junge. Was ich von Männern schon alles gesehen habe. Da kannst du rauchen, so viel du willst.

      * * *

      Es ist März oder es ist April, und Ario liegt unter der Brücke. Zumindest: über ihm Streben. Tauben gurren. Autos brausen an ihm vorbei. Sein Schlafsack riecht nach Kotze. Sein Schlafsack riecht immer nach irgendwas, aber wenn es so penetrant riecht, muss es frisch sein. Sein Kopf dröhnt. Kann sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen ist. Kann sich nicht erinnern, wessen Anziehsachen er da trägt. Ist auch egal. Es riecht, und er hat höllische Schmerzen.

      Verpiss dich, sagt er zu einer Taube, die neben seinem Kopf nach ihrer eigenen Scheiße pickt. Kommt irgendwie komisch