Название | Mythos Mensch |
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Автор произведения | Frank Lisson |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075903 |
Unterschätzte Natur. – Dass wir uns nicht vorstellen können, wie etwas so Komplexes und Kompliziertes wie menschliches Leben aus der Natur hervorgegangen sein kann, sondern eines »Schöpfers«bedurft haben müsse, liegt freilich an unserer eigenen Beschränkung, die uns unsere Art auferlegt. Jedes andere Wesen, auch das primitivste, müsste, wenn es denken könnte, ebenso reagieren. Diese Kurzsichtigkeit, sich außerhalb des Spektrums von Pflanzen, Insekten, Fischen oder Säugetieren zu wähnen und von seiner »Ebenbildlichkeit Gottes« überzeugt zu sein, wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn der Mensch das einzige Lebewesen auf Erden verkörperte. Doch da es so viele Stufen und Entwicklungsgrade des Lebens gibt, verwundert die Behauptung, Leben könne nicht aus der Natur selber hervorgegangen sein, obwohl sich doch überall beobachten lässt, welche verschlungenen und verzweigten Wege der Artenbildung die Natur einzuschlagen fähig ist.
Zum Irren veranlagt. – Müssten nicht all jene, die vorgeben, »selber zu denken«, zu den gleichen Ergebnissen kommen? Denn was hätte »Selberdenken« für einen Sinn, wenn darin doch bloß die Rechtfertigung zur Verteidigung der eigenen Torheiten läge? Wie bilden und entwickeln sich verschiedene Anschauungen von der Welt, da doch allen Menschen stets die gleichen Wahrheiten, bloß hinter verschiedenen Wirklichkeiten verborgen, zur Verfügung stehen? Verschiedene philosophische Modelle können nur dort zustande kommen, wo unzureichend gedacht wird. Wie hätte es je Fraktionen geben können, wenn nicht alle Anhänger der verschiedenen Schulen auf ihre Weise irrten? Ein fehlerhaftes System weist einem anderen fehlerhaften System Fehler nach. Das war die Leistung des deutschen Idealismus, der sich für oder wider Kant definierte. Und darum ähneln sich die Verläufe kultureller Entwicklungen so sehr. Jeder kann leicht an sich selber beobachten, dass er zu denjenigen Einsichten, Urteilen, Qualitäten, die ihn jetzt bestimmen, einst noch nicht fähig war. Wo das gleiche oder gleich gedacht wird – wie in den sogenannten philosophischen Schulen –, haben wir es selten mit Überzeugungen aufgrund logischer Beweisführung zu tun, sondern mit mentaler Verwandtschaft: ähnliche Voraussetzungen oder Anlagen führen zu ähnlichen Ergebnissen. – Daher ist Philosophie vor allem eine Charakterfrage.
Worauf beruht Übereinstimmung? – Man stimmt überein heißt: man hängt der gleichen Stimmung an, teilt das gleiche Wollen, ist ähnlich veranlagt, verfolgt die gleichen Ziele, trägt sich mit den gleichen Absichten. Diese entstehen infolge ähnlicher Ausrichtungen und Erfahrungen, also aus rein subjektiver Prägung, über die niemand Gewalt hat. So ist der Mensch das Abbild der Reaktion seiner Instinkte auf bestimmte Ereignisse, woraus seine Anschauungen und Gesinnungen erwachsen, die ihn fortan steuern und die Menschen verschieden sein lassen. Denn die Welt ist das, was sich ereignet. Die Verhältnisse oder Beziehungen zwischen den Ereignissen ergeben das, was jede Generation als »Zeitgeist« erfährt. – Aus solchen, unseren inneren Erfahrungen schließen wir auf die Welt, denn wir suchen überall nach Analogien zu uns selber, also zu unseren Regungen. Wir mögen und bevorzugen, womit wir uns selber identifizieren können, worin wir uns erkennen, da wir die Welt nach uns selber absuchen. Worin wir uns wiederfinden, darin stimmen wir überein – notfalls auch gegen die Tatsachen objektiver Erfahrung.
Vom Mythos zum Logarithmus. – Alle Systeme – von Platon über Schopenhauer bis Marx – unterliegen dem Grundmakel, dass sie naturgemäß Menschenwerk sind und also unter den Bedingungen menschlicher Ausrichtung gleichsam mythologisch funktionieren, nicht aber an und für sich Geltung haben können. Alle Systeme spiegeln, wie der Mythos, nur die Möglichkeiten unseres Denkens, nicht aber die Welt oder die Dinge, wie sie für sich, also unabhängig vom Menschen bestehen. Denn Mensch und Welt bilden zwei in sich geschlossene Räume, die nur über die menschliche Empfindung miteinander verbunden sind. Deshalb ist uns die Welt »an sich« nicht zugänglich; wir gehören dort nicht hinein, sondern nur in jene, die das Bild ist, das wir uns von ihr machen. Die Denkfähigkeit, Perzeption etc., die den Menschen von allen anderen Lebensformen so wesentlich unterscheidet, schließt ihn eben deshalb von jener Welt aus, die alle anderen bewohnen. Eine Ahnung davon schlich bereits durch das Altertum, als sich Philosophen wie Thales, Anaximander oder Heraklit erstmals entschieden gegen die Macht der Mythen wandten; Hekataios von Milet versuchte nachweisbar vielleicht als erster, den Mythos zu rationalisieren… – Nun nehmen allmählich Maschinen den Platz der frühen Mythen ein; Geschöpfe, die freilich den Vorteil gegenüber den alten Göttern haben, tatsächlich greifbar zu sein, wo sie gebraucht werden.
Verweigerung. – Gewisse Tatsachen sind der menschlichen Eitelkeit und Naivität so zuwider, dass sie von jeder nachwachsenden Generation neu geleugnet werden; so die längst bekannte, völlig evidente und immer wieder ausgesprochene4 Wahrheit, dass »Seele« und »Geist« nicht für sich bestehen, nicht vom Organismus losgelöst zu denken sind, sondern bloß poetische Bezeichnungen für Genfunktionen darstellen, dass sie gar nichts anderes sein können als eben dieses, folglich mit der menschlichen Natur entstehen und vergehen. – Alle politisch-religiösen Anschauungen entsprechen menschlichen Eigenschaften. Es gibt keine »Kultur«, deren Motive nicht in der Natur des Menschen lägen. Der Einzelne hat darauf keinen Einfluss; jeder ist bloß Abglanz von Motivpaletten, deren verschiedene Farbtöne nach und nach zur Geltung gelangen.
Grundnatur. – Gibt es ein intellektuales Recht auf moralischen Widerstand gegen die Grundnatur menschlicher Verhaltensweisen, oder gibt es womöglich eine biologische Pflicht zum Erdulden,