Lernen aus dem Lockdown?. Группа авторов

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Название Lernen aus dem Lockdown?
Автор произведения Группа авторов
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783895815454



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Ostertag

       LOCK ME | LOCK MICH DIE KUNST UND ALTE ROUTINEN IM NEUEN ALLTAG

      Jörg Albrecht

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      SCHWANKHALLE, BREMEN, 30. April 2020, Foto: Jürgen Petersen (Techniker), war im Haus, um die Saalbestuhlung unter Einhaltung der Abstandsregelung zu simulieren.

      VORWORT

      Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber

      „Alles fühlte sich an wie nach einem Unfall“, schrieb Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, am 21. März 2020 in einem Facebook-Posting. Und so war es auch: Das Gewohnte war plötzlich zum Stillstand gekommen und bedroht. Eine Woche zuvor hatten die Theater des Landes angesichts der eskalierenden Corona-Pandemie sämtliche Vorstellungen abgesagt. Einen echten Lockdown gab es in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwar nicht, wohl aber einen des Kulturlebens: Alle Bühnen, Konzertsäle, Ausstellungshäuser, Festivals waren durch die (insgesamt eher milden) Kontaktbeschränkungen zur Untätigkeit gezwungen. Und jetzt? Wie wollen wir nach der Krise weitermachen? Können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Nicht nur als Gesellschaft, sondern auch als Freie Theatermacher*innen?

      In den ersten Wochen des pandemiebedingten Ausnahmezustands waren die Medien voll mit Reflexionen und Statements zu dem, was die Krise an Veränderungen mit sich bringen könnte. Im August, kurz vor Drucklegung dieses Bandes, wirkt es eher so, als würde die Welt sich wie gewohnt weiterdrehen. Zu begrüßen ist das angesichts ihres Zustands nicht. Deshalb haben wir inmitten der Theater-Zwangspause Akteur*innnen der Freien Szene dazu eingeladen, in Texten und Fotos Momentaufnahmen aus einer Zeit festzuhalten, in der nichts mehr war wie gewohnt und die Frage unumgänglich wurde, wie es denn eigentlich weitergehen soll: politisch, ästhetisch, strukturell.

      Die Beiträge blicken aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen: Sie zeigen auf, dass vor dem Virus und auch sonst eben nicht alle gleich sind, sie fragen nach Solidarität, Ein- und Ausschlüssen. Sie behandeln die Verletzbarkeit des Körpers im Theater, die durch das Virus plötzlich offenbar wird, sie diskutieren den Status künstlerischer Existenz, deren Prekarität, so hat die Pandemie es gezeigt, ganz wesentlich von finanziellen wie sozialen Ressourcen bestimmt wird. Auf der ökonomischen Ebene fragen die Autor*innen, wie sich Kunstförderung, Honorarstrukturen und Gemeinwohl angesichts der veränderten Situation und auch darüber hinaus neu denken ließen. Und können wir das alles auch im Internet machen? Schließlich weitet sich der Blick auf die gesellschaftliche Ebene, mit Beiträgen zur Kunstfreiheit oder zur sozialen Bedeutung des Freien Theaters.

      Eigentlich hatten die Impulse 2020 ihren 30. Geburtstag feiern wollen, u. a. mit einer Akademie zur Festivalgeschichte. Diese und viele andere Veranstaltungen mussten wegen der Kontaktbeschränkungen ins Folgejahr verschoben werden. Eine um den Großteil der Programmpunkte reduzierte Digitalversion des Festivals trat an die Stelle von Versammlung und Begegnung vor Ort in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr. Die geplante Jubiläumspublikation wurde mitsamt der Akademie vorerst auf Eis gelegt. Und so ist dieser Band nicht zuletzt ein Dokument des Verlusts, einer Leerstelle. Diese Leerstelle gilt es auszuhalten, denn nur so kann sie uns ein Spiegel sein.

      Haiko Pfost, geboren 1972 im Schwarzwald, ist für die Festival-Ausgaben 2018 bis 2023 künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festival. Er ist gelernter Industriekaufmann und hat Theater- und Religionswissenschaft sowie Psychologie in Berlin studiert. Als Festivaldramaturg arbeitete er beim Festival Theaterformen, beim steirischen herbst, bei den Internationalen Schillertagen sowie als Mitglied der Programmjury des Festivals Politik im Freien Theater. Gemeinsam mit Thomas Frank gründete er 2007 brut — Koproduktionshaus Wien und leitete das Haus bis 2013.

      Wilma Renfordt ist seit 2017 Dramaturgin beim Impulse Theater Festival. 1982 geboren, wuchs sie am Rand des Ruhrgebiets auf und arbeitete nach dem Theaterwissenschafts-Studium an der FU Berlin frei als Dramaturgin, Autorin und kuratorische Assistenz, u. a. als Teil der Gruppe copy & waste. 2016/17 war sie Dramaturgin beim steirischen herbst. Falk Schreiber, Kulturjournalist. Geboren 1972 in Ulm, Studium in Tübingen und Gießen, Zeitschriftenvolontariat in Hamburg. Seit 2018 freischaffend, schreibt u. a. für Theater heute, Tanz, Nachtkritik, Hamburger Abendblatt, taz über Darstellende und Bildende Kunst. Mitglied diverser Fachjurys. Lehrt journalistische Praxis.

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      LICHTHOF THEATER, HAMBURG, 6. Mai 2020, Foto: Gesine Lenz (Produktionsleitung), besuchte picnic beim Videodreh zu „aria for no audience“ im leeren Theater.

      ATEMPAUSE WO SICH DAS LEBEN BAHN BRICHT

      Stefanie Wenner

      Pause war in der Schule immer das, wo das Leben stattfand. Pausen waren dazu da, der Schule einen Sinn zu geben, in großen Teilen. Die Pause war wild und frei, aufregend später, in der Pubertät. Sommerpause war in meiner Zeit als Arbeiterin an einem Theater so etwas wie Sendepause, aber in Teilen vergleichbar mit dem, was Pause in der Schule auch war: Leben. Wenn wir versuchen, unseren Atem zu pausieren, wird rasch klar, dass das enge Grenzen hat. Mit etwas Übung lassen sich diese Pausen verlängern. Mit etwas Übung wird auch erlebbar, dass wir mit unserem Atemrhythmus unsere Wahrnehmung massiv verändern und unsere körperliche Existenz intensivieren können. Wo die Atempausen enden, bricht sich das Leben Bahn, unser Leben. Das wir nicht beherrschen, das uns gegeben ist, Atemzug, für Atemzug. Willentlich aufhören zu atmen – eine unlösbare Aufgabe. In der Pause wird der Zug des Lebens erlebbar, etwas, das mich durchströmt, ich kann es nicht festhalten, aber ich kann meine Wahrnehmung dafür intensivieren. Die Pause, die das Theater hierzulande durch Covid-19 erfährt, stellt es in seiner gegebenen Form infrage. In „Pause“ steckt auch, dass etwas final endet, zur Ruhe kommt, aufhört. Das ist die Bedeutung der altgriechischen Wurzel des Wortes, die auf den Stillstand verweist. Die Menopause wäre so eine Art der Pause, die ein Ende benennt. Eine Pose, eine zur Ruhe gekommene Bewegung, hat indes ebenso mit der Pause zu tun. Eine Theaterpose assoziieren wir mit einer archetypischen, eher überkommenen Spielweise. Das Theater selbst kann eine Pose des Bürgertums sein, eine Kultur, deren Pause im absoluten Sinne womöglich gekommen ist. Denn dieses Theater basierte auf Verträgen und Konventionen, deren Wegfallen wir nicht betrauern müssen. So entsteht in der Pause Raum für Neues, für das, was Theater heute sein kann, erneut erneuert, Magie. Für neue, heilende Verträge, eine weitere Dimension der Pause, in der Etymologie des englischen put, setzen, stellen, legen, eine Handlungsoption aus dem Potenzial der Unterbrechung heraus, die nicht wieder aufnimmt, was vorher schon ein Problem war. So kann diese Pause, dieser Moment von Ruhe, zur Vorlage, zur Pause dessen werden, was kommen mag, was wir uns herbeiimaginieren. Was wir nun tun, welche Praktiken wir hier etablieren, kann zur Blaupause werden und zur Basis einer neuen Theaterkultur der Zusammenkunft menschlicher und nicht-menschlicher Körper, eine Feier der Gegenwart, anerkennende Teilhabe, Pause als Befreiung. Der Druck des Lebens bricht sich Bahn durch die versteinerten Institutionen, die Leben in ihrem Sinne angeeignet und verwertbar gemacht haben. Wir pausen ab, was die Pause ermöglicht hat, und kommen zu einem neuen, lebendigen Theater, new life theater. Wir atmen.

      Stefanie Wenner, Professorin für Angewandte Theaterwissenschaft an der HfBK Dresden seit 2015, Promotion in Philosophie an der FU Berlin 2001, seither Kuratorin und Dramaturgin in der Freien Szene, u. a. am HAU Berlin und bei den Impulsen. Seit 2014 Betreiberin von apparatus, gemeinsam mit Thorsten Eibeler. Dort Arbeit an der Herstellung besserer Darstellung von Wirklichkeit mit den Mitteln von Theater und Kunst.

      ZEIGE DEINE WUNDE

      Falk Schreiber

      Zeige deine Wunde. Mache dich angreifbar. Öffne dich, breite die Arme aus, atme tief ein. Atme die Aerosole ein. Mache dich angreifbar.

      Hier deine Wunde. Hier dein Körper, hier deine Infektion, hier deine Verletzung. Hier deine Angst.