Der Untertan. Heinrich Mann

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Название Der Untertan
Автор произведения Heinrich Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726479829



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„Dich lass’ ich auch nicht fort.“ Und Agnes: „Warum denn auch? Ich schreibe meinem Papa und lass’ es ihm durch meine Freundin i schicken, die in Küstrin verheiratet ift. Dann glaubt er, ich bin dort.“

      Später gingen sie nochmals aus, nach der anderen Seite, wo Wasser floss und der Horizont von den Flügeln dreier Windmühlen umsegelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mieteten es und schwammen dahin. Ein Schwan kam ihnen entgegen. Der Schwan und ihr Boot glitten lautlos aneinander vorüber. Unter herniederhängenden Büschen legte es von selbst an — und Agnes fragte unvermittelt nach Diederichs Mutter und seinen Schwestern. Er sagte, dass sie immer gut zu ihm gewesen seien, und dass er sie liebhabe. Er wollte sich die Bilder der Schwestern schicken lassen, sie waren hübsch geworden; oder vielleicht nicht hübsch, aber so anständig und sanft. Die eine, Emmi, las Gedichte, wie Agnes. Diederich wollte für beide sorgen und sie verheiraten. Seine Mutter aber, die behielt er bei sich, denn ihr hatte er alles Gute im Leben verdankt, bis Agnes gekommen war. Und er erzählte von den Dämmerstunden, den Märchen unter den Weihnachtsbäumen seiner Kindheit und sogar von dem Gebet „aus dem Herzen“. Agnes hörte zu, ganz versunken. Endlich seufzte sie auf. „Deine Mutter möchte ich kennenlernen. Meine hab’ ich nicht gekannt.“ Er küsste sie, mitleidig, achtungsvoll und mit einer dunklen Empfindung von schlechtem Gewissen. Er fühlte: jetzt hatte er ein Wort zu sprechen, das sie ganz und gar für immer trösten musste. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. „Ich weiss,“ sagte sie langsam, „dass du im Herzen ein guter Mensch bist. Du musst nur manchmal anders tun.“ Darüber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldigte sie sich: „Heute hab ich gar keine Furcht vor dir.“

      „Hast du denn sonst Furcht?“ fragte er reumütig. Sie sagte:

      „Ich habe mich immer gefürchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinnen früher war es mir oft, als könnte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie müssten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit grossen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, musste ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerissenen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne hätte ich sie auf den Rücken gelegt, damit sie die Augen schloss. Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal —“ sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, „manchmal sogar du.“

      Der Hals mar ihm zugeschnürt, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. „Agnes! Süsse Agnes, du weisst gar nicht, wie ich dich liebhabe . . . Ich hab’ Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab’ ich mich nach dir gesehnt, abet du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut . . .“ Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hörte ihm zu, entzückt, die Lippen geöffnet. Sie jubelte leise: „Ich wusste es, so bist du, du bist wie ich!“

      „Wir gehören zusammen“, sagte Diederich und presste sie an sich; aber er war erschrocken über seinen Ausruf: „Jetzt wartet sie;“ dachte er, jetzt soll ich sprechen.“ Er wollte es, aber er fühlte sich gelähmt. Der Druck seiner Arme auf ihrem Rücken ward immer kraftloser . . . Sie bewegte sich: er wusste, nun wartete sie nicht mehr. Und sie lösten sich voneinander, ohne sich anzusehen. Diederich schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Sie fragte nicht, weshalb; sie strich ihm tröstend über das Haar. Das währte lange.

      Über ihn hinweg, ins Leere, sagte Agnes: „Hab’ ich denn geglaubt, dass es dauern würde? Es musste schlimm enden, weil es so schön war.“

      Er fuhr auf, verzweifelt. „Es ist doch nicht aus!“ Sie fragte:

      „Glaubst du an das Glück?“

      „Wenn ich dich verlieren soll, nicht mehr!“

      Sie murmelte: „Du wirst fortgehen, hinaus in das Leben und mich vergessen.“

      „Lieber sterben!“ — und er zog sie an sich. Sie flüsterte an seiner Wange:

      „Sieh, wie breit hier das Wasser ist, ein See. Unser Boot hat sich von selbst losgemacht und uns hinausgeführt. Weisst du noch, jenes Bild? Und der See, auf dem wir schon einmal im Traum fuhren? Wohin wohl?“ Und noch leiser: „Wohin mit uns?“

      Er antwortete nicht mehr. Ganz umschlungen und die Lippen aufeinander, senkten sie sich rückwärts immer tiefer über das Wasser. Drängte sie ihn? Zog er sie? Niemals waren sie so sehr eins gewesen. Diederich fühlte: nun war es gut. Er war, mit Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht gläubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun war es gut.

      Plötzlich, ein Stoss: sie schnellten in die Höhe. Diederich hatte so viel Kraft gebraucht, dass Agnes von ihm fort und zu Boden fiel. Er strich sich über die Stirn. „Was haben wir denn da?“ — Noch kalt vom Schrecken und als sei er beleidigt, sah er weg von ihr. „So unvorsichtig darf man nicht sein beim Bootfahren.“ Er liess sie allein aufstehen, griff sogleich nach den Rudern und fuhr zurück. Agnes hielt das Gesicht nach dem Ufer gewendet. Einmal wollte sie zu ihm hinsehen; aber sein Blick traf sie so misstrauisch und hart, dass sie zusammenfuhr.

      In der sinkenden Dämmerung gingen sie, immer schneller, die Landstrasse zurück. Zuletzt liefen sie fast. Und erst als es dunkel genug war, dass sie ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkannten, sprachen sie. Morgen früh kam Herr Göppel vielleicht heim. Agnes musste heim . . . Wie sie beim Wirtshaus ankamen, pfiff in der Ferne schon der Zug. „Nicht mal mehr essen kann man!“ sagte Diederich mit künstlicher Unzufriedenheit. Hals über Kopf die Sachen holen, zahlen und fort. Der Zug fuhr ab, kaum dass sie drin waren. Ein Glück, dass sie Atem zu schöpfen und die eiligen Geschäste der letzten Viertelstunde zu besprechen hatten. Das letzte Wort darüber war gefallen, und nun sass jeder da, allein bei trüber Lampe und betäubt wie nach einem grossen Misserfolg. Das dunkle Land da draussen, hatte es einmal gelockt und Gutes versprochen? Das sollte erst gestern gewesen sein? Man fand nicht zurück. Kamen nicht endlich die Lichter der Stadt und befreiten einen?

      Bei der Ankunft waren sie darüber einig, dass es sich nicht verlohne, in denselben Wegen zu steigen. Diederich nahm die Trambahn. Hände und Augen streisten sich nur.

      „Uff!“ machte Diederich, als er allein war. „Das wäre erledigt.“ Er sagte sich: „Es hätte ebensogut schief gehen können.“ Und mit Empörung: „So eine hysterische Person!“ Sich selbst würde sie sicher am Boot festgehalten haben. Er hätte das Bad allein nehmen müssen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! „Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiss Gott, noch ärger an der Nase herumgeführt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre für das Leben sein. Nun aber Schluss!“ Und festen Schrittes ging er zu den Neuteutonen. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage büffelte er für das mündliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratorium. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er musste sich gestehen, dass er Herzklopfen habe. Zögernd öffnete er die Zimmertür: — nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schliesslich doch jedesmal dazu, dass er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen.

      Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geöffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtisch werfen — zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit misstrauischen Augen griff er hier und da eine Zeile heraus. „Ich bin so unglücklich . . .“ „Kennen wir!“ antwortete Diederich. „Ich wage mich nicht zu Dir . . .“ „Dein Glück!“ „Es ist schrecklich, dass wir uns fremd geworden sind . . .“ „Wenigstens siehst du es ein.“ „Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen? . . .“ „Gerade genug!“ „Ich kann nicht weiterleden . . .“ „Fängst du schon wieder an?“ Und er schleuderte das Blatt endgültig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Überschwenglichkeiten bedeckt und zum Glück nicht abgeschickt hatte.

      Eine Woche später aber, wie er in der Nacht heimkam,