Der Kurier des Zaren. Jules Verne

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Название Der Kurier des Zaren
Автор произведения Jules Verne
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726642896



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Alexander zu Ehren veranstalteten Fest ihm mitgeteilt wurde, Napoleon habe soeben mit der französischen Vorhut den Njemen überschritten. Der Zar verliess jedoch das Fest nicht, und trotz der ausserordentlichen Wichtigkeit einer Nachricht, die ihm sein Reich kosten konnte, liess er keine Spur von Beunruhigung merken . . .“

      „. . . die auch auf seiten unseres Gastgebers nicht zu bemerken war, als ihm General Kissoff mitteilte, die Telegraphendrähte seien soeben zwischen der Grenze und dem Regierungsbezirk Irkutsk zerschnitten worden.“

      „Ach! Dieser besondere Vorfall ist Ihnen bekannt?“

      „Er ist mit bekannt.“

      „Was mich angeht, möchte es freilich seine Schwierigkeit haben, nichts davon zu wissen, denn mein letztes Telegramm ist bis Udinsk gelangt,“ bemerkte mit gewisser Genugtuung Alcide Jolivet.

      „Das meinige bloss bis Krasnojarsk,“ erwiderte Harry Blount in einem Ton, aus dem kein geringeres Mass von Genugtuung klang.

      „Dann wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nikolajewsk ergangen sind?“

      „Jawohl, mein Herr, und zwar gleichzeitig mit dem Telegramm an den Regierungsbezirk Tobolsk, die Kosakenregimenter zusammenzuziehen.“

      „Stimmt wie eine böhmische Orgel, Herr Blount. Diese Massnahmen sind mir gleichfalls bekannt geworden — Sie dürfen mir schon glauben, dass meine liebenswürdige Cousine morgen verschiedenes davon erfahren wird.“

      „Genau so, wie es auch den Lesern des Daily-Telegraph bekannt sein wird, Herr Jolivet.“

      „Ja, sehen Sie, wenn man für alles Augen hat, was vorgeht . . .“

      „Und Ohren für alles, was gesprochen wird . . .“

      „Wird einen interessanten Feldzug geben, Herr Blount.“

      „Den ich mir nicht entgehen lassen werde, Herr Jolivet.“

      „Dann kann es ja der Fall sein, dass wir uns auf einem Boden wiedertreffen werden, der wesentlich weniger Sicherheit aufweist als das Parkett dieses Saales.“

      „Weniger Sicherheit schon, aber —“

      „— aber auch weniger Glätte,“ versetzte lachend Alcide Jolivet und fasste seinen Kameraden noch gerade rechtzeitig, als er beim Kehrtmachen das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Hierauf trennten sich die beiden Berichterstatter, im grossen und ganzen recht zufrieden, dass keiner dem anderen vorausgeeilt war. Tatsächlich waren sie einander wert.

      Im selben Augenblick taten sich die Türen der mit dem grossen Saal zusammenhängenden Gemächer auf. Dort standen mehrere grosse Tafeln, herrlich gedeckt und verschwenderisch mit kostbarem Porzellan und goldenen Geschirr beladen. Auf der mittleren Tafel, sie für die Fürstlichkeiten und für die Mitglieder des diplomatischen Korps bestimmt war, strahlte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert, der aus Londoner Werkstätten stammte, und um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten unter dem Lichtfeuer der Kronleuchter die tausenderlei Bestandteile des herrlichsten Services, das je seinen Weg aus der Porzellanmanufaktur von Sèvres gefunden hat.

      Die Gäste des Neuen Palais begannen nun sich nach den Sälen zu verfügen, wo zum Essen gedeckt war. In diesem Augenblick trat General Kissoff, der eben wieder eingetreten war, rasch zu dem Offizier der Gardejäger. „Nun?“ fragte ihn dieser lebhaft, ganz wie er es zum erstenmal gemacht hatte.

      „Weiter als bis Tomsk laufen die Telegramme nicht mehr, Sire.“

      „Auf der Stelle einen Kurier!“

      Der Offizier verliess den grossen Saal, um in ein anstossendes geräumiges Gemach zu treten. Es war ein Arbeitskabinett, sehr schlicht mit altem Eichenmobiliar ausgestattet und auf der Eckseite des Neuen Palais gelegen. Einige Gemälde, darunter mehrere mit Horace Vernet gezeichnete Ölbilder, hingen an der Wand. Der Offizier riss das Fenster auf, als wenn es seinen Lungen an Sauerstoff gefehlt hätte, und schlürfte auf einem grossen und breiten Balkon die reine, klare Luft einer herrlichen Julinacht ein. Unter seinen Augen dehnte sich, in Mondschein gebadet, ein befestigter. Wall, in dessen Bereich sich zwei Kathedralen, drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Um diesen Wall herum dehnten sich drei scharf unterschiedene Städte: Kitaj-Gorod, Hjeloj-Gorod und Semljanoj-Gorod, ungeheure Stadtviertel europäischen, tatarischen und chinesischen Charakters, überragt von Spitz- und Glockentürmen und Minaretts, von den Kuppeln von 300 Kirchen, von grünen Domen, auf deren Spitzen silberne Kreuze strahlten. In einem kleinen Fluss mit gewundenem Lauf spiegelte sich das Mondlicht wider. Dieses ganze Bild stellte ein merkwürdiges Mosaik aus buntscheckigen Häusern dar, die sich in einem mächtigen Rahmen von zehn Meilen im Umfang eingefasst fanden. Dieser Fluss war die Moskwa, diese Stadt war Moskau, dieser befestigte Wall war der Kreml und der Offizier der Gardejäger, der mit übereinandergeschlagenen Armen, mit träumerischer Stirn dem von dem Neuen Palais über die alte Moskowitenstadt zitternden Lärm flüchtig lauschte, war der Zar.

      2. Russen und Tataren

      Wenn der Zar so unvermutet — in dem Augenblick, als das Fest, das er den Zivil- und Militärbehörden und hervorragenden Persönlichkeiten von Moskau gab, in seinem vollen Glanz stand — sich aus den Sälen des Neuen Palais entfernte, so war der Grund dafür in dem Umstand zu suchen, dass sich jenseits der Grenzen des Urals zur Zeit sehr ernste Ereignisse abspielten. Es liess sich nicht mehr daran zweifeln, dass ein feindlicher Einfall dem russischen Zepter die sibirischen Provinzen zu entreissen drohte. Das asiatische Russland oder Sibirien bedeckt eine Oberfläche von 560 000 Meilen und zählt ungefähr zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich vom Uralgebirge, das Russland von Europa scheidet, bis zu den Küsten des Stillen Ozeans. Im Süden wird es von Turkestan und China, stellenweis freilich in ziemlich unbestimmter Weise, begrenzt, und im Norden erstreckt sich, vom Karischen Meer bis zur Beringstrasse, das Eismeer. Das asiatische Russland war in Gouvernements oder Provinzen geteilt, und zwar in die von Tobolsk, Jenisseisk, Irkutsk, Omsk und Jakutsk; es umfasste zwei Distrikte, die von Ochotsk und von Kamtschatka, und besass zwei Landbereiche, die auch der moskowitischen Herrschaft unterworfen waren: die Kirgisensteppe und das Tschuktschenland. Dieses ungeheuer grosse Steppengebiet, das von Westen nach Osten über 110 Grade in sich einschliesst, war zugleich Deportationsstätte für Verbrecher und Verbannungsstätte für solche Personen, über die Landesverweis verhängt worden war.

      Zwei Generalgouverneure waren die Vertreter höchster Zarengewalt in diesem weiten Landgebiet. Einer von ihnen residierte in Irkutsk, der Hauptstadt des östlichen Sibirien, der andere in Tobolsk, der Hauptstadt des westlichen Sibirien. Der Tschuma, ein Nebenfluss des Jenissei, scheidet beide Sibirien. Noch zog keine Eisenbahn ihren Strang durch diese unermesslichen Flächen, unter denen sich Gebiete von tatsächlich erstaunlicher Fruchtbarkeit befinden. Noch schaffte kein Förderwagen auf eiserner Schiene Riesenschätze aus den Bergwerken, die auf weite Strecken hin den sibirischen Boden reicher unter als auf seiner Oberfläche machen. Des Sommers reiste man dort im Tarantass oder in der Telega, des Winters im Schlitten. Eine einzige Verbindung, aber eine elektrische, bestand zwischen der West- und Ostgrenze Sibiriens, nämlich ein Draht von über 8000 Werst Länge (8536 Kilometer). Jenseits des Uralgebirges lief er durch Jekaterinburg, Kassimow, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Nischni-Udinsk, Irkutsk, Werkne-Nertschinsk, Strelinsk, Albasin, Blagowstensk, Radde, Orlowskaja, Alexandrowskoj, Nikolajewsk. Für jedes bis an seinen Endpunkt laufende Wort mussten 6 Rubel und 19 Kopeken bezahlt werden. Von Irkutsk zweigte sich ein Sonderdraht ab nach Kjachta an der mongolischen Grenze, und von da, zu 30 Kopeken das Wort, schaffte die Post die Telegramme in 14 Tagen nach Peking. Dieser Draht von Jekaterinburg nach Nikolajewsk war es, der zuerst vor Tomsk und einige Stunden nachher zwischen Tomsk und Kolywan zerschnitten worden war — und darum hatte der Zar nach General Kissoffs zweiter Meldung bloss mit den Worten: „Auf der Stelle einen Kurier!“ geantwortet.

      Der Zar stand seit einiger Zeit schon unbeweglich am Fenster seines Kabinetts, als die Pförtner von neuem die Tür öffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle. „Tritt ein, General,“ sprach der Zar kurz, „und sage mir alles, was du von Iwan Ogareff weisst!“

      „Es ist ein äusserst gefährlicher Mensch, Sire,“ antwortete der erste Chef der