Der Mann, der alles sah. Deborah Levy

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Название Der Mann, der alles sah
Автор произведения Deborah Levy
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701668



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durch an Gebäuden angebrachte rote Fahnen.«

      »Auf keinen Fall.« Ich blickte mit meinen tiefblauen Augen in seine blassblauen Augen. »Ich werde erwähnen, dass es Fliegen gibt. Und dass die Straßenbahnen oft von Frauen gefahren werden.« Ich kannte ihn noch nicht gut genug, um ihm mitzuteilen, dass ich mich daran gewöhnt hatte, zensiert zu werden, weil Jennifer mir verboten hatte, sie mit meinen alten Worten zu beschreiben.

      Wir setzten unsere heitere Unterhaltung fort. Walter ging flott in seinem dicken Wintermantel, während ich in meiner leichten Jacke mitzuhalten versuchte. Er erzählte mir, wie sehr ihm der Name eines bestimmten Gebäcks in Prag gefiel. Es hieß »Kleiner Sarg« und bestand zum größten Teil aus Sahne. Ich nahm an, er sprach von einem Eclair.

      Er fragte mich, ob ich das Werk der tschechischen Künstlerin Eva Švankmajerová kennen würde. Ich kannte es nicht. Er bewunderte einen Satz, den sie geschrieben hatte; er würde ihn jetzt für mich zu übersetzen versuchen. Er schloss die Augen – »Also« – und runzelte lange die Stirn, während er die Worte über drei Sprachen hinweg, Tschechisch, Deutsch, Englisch, zu erfassen versuchte, dann öffnete er die Augen wieder, boxte mich gegen den Arm und warf sein Haar zurück. »Es lässt sich nicht übersetzen.« Was er in Prag wirklich gern tat, war, ein Gläschen Sliwowitz zu kippen, »einen sehr alten, aus Mähren«. Bald würde er mich dem Universitätsrektor vorstellen, der mir sehr wahrscheinlich einen guten Schnaps anbieten würde.

      Nach einer Weile fragte er mich, warum ich hinken würde. Ich erzählte ihm auf Deutsch vom Fast-Unfall auf der Abbey Road, und er sagte auf Englisch: »Sprechen wir nun deutsch oder englisch miteinander?«

      »Nun, vielleicht halbe-halbe«, sagte ich auf Deutsch.

      »Wie kommt es, dass Sie fließend Deutsch sprechen?«, fragte er auf Englisch.

      »Meine Mutter wurde in Heidelberg geboren.«

      »Dann sind Sie zur Hälfte Deutscher?«

      »Sie kam mit acht Jahren nach Großbritannien.«

      »Hat sie zu Hause deutsch gesprochen?«

      »Nie.«

      Dieses Mal bedankte er sich nicht bei mir für die Information.

      Als ich weiter hinkte, fragte er mich unverblümt, ob ich lahm sei.

      »Ich bin nicht lahm. Ich habe nur eine geprellte Hüfte.«

      Ich sagte das laut und mit Gefühl. Ich wollte auf Walter Müller nicht wie ein Jammerlappen wirken. Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich wollte ganz anders wirken, aber die Wahrheit war, dass ich Bauchschmerzen hatte. Es fühlte sich an, als würde etwas mit einem Messer aus meinen Eingeweiden herausgeschnitten.

      Er bot an, meine Tasche zu tragen. Ich lehnte ab, doch er nahm sie trotzdem und schlang sie sich über die Schulter, während wir eine Straße mit Kopfsteinpflaster entlanggingen, die Marienstraße hieß. Nach einer Weile zeigte er auf das Krankenhaus, in dem seine Schwester als Krankenschwester arbeitete. »Die Ärzte sind sehr gut«, sagte er, »aber man bleibt besser nicht über Nacht dort. Sie könnte eine Röntgenuntersuchung für Sie organisieren, wenn Sie möchten.«

      »Nein!« Ich schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er lachte.

      »Sie sind stärker, als Sie aussehen.«

      Das hatte er wohl nicht ernst gemeint, weil er mich wegstieß, als ich ihm meine Tasche abzunehmen versuchte.

      In einiger Entfernung ratterte eine Straßenbahn vorbei.

      »Setzen Sie sich, Saul.« Walter zeigte auf eine Steinstufe vor dem Eingang eines der Wohnblöcke.

      Wie befohlen setzte ich mich auf die Stufe. Er setzte sich neben mich, meine Tasche zwischen den Knien. Alles war friedlich und ruhig. Ich bemerkte, dass Walter jetzt eine Brille aufgesetzt hatte und seine Zeitung las. Der Himmel hatte sich verdüstert, und sein linker Arm ruhte auf meinen Schultern. Ich war glücklich. Unerklärlich glücklich. Es fühlte sich an wie in dem Moment, als ich mit dem illegalen Pudel auf dem Schoß auf Mrs Stechlers Sofa gesessen hatte. Wir saßen lange dort.

      Nach einer Weile klopfte er mir auf die Schulter.

      »Erzählen Sie mir von Ihrem Unfall.«

      Ich fing an zu reden. Ich hörte mich Gedanken äußern, von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie hegte. Ich erzählte Walter, was mich auf der Abbey Road wirklich beunruhigt hätte, sei der Umstand, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben sei, als ich zwölf war. Irgendwie, irrationalerweise, kam mir der Gedanke, dass Wolfgang – so hieß der Fahrer, teilte ich ihm mit – dieselbe Person sein könnte, die auch sie getötet hatte.

      »Das ist eine verständliche Befürchtung«, sagte Walter.

      Ich erzählte ihm, dass meine Hände zu zittern begonnen hätten, als ich zum Ort des Unfalls zurückgekehrt sei, und dass ich mit der Frau, die mich um Feuer für ihre Zigarette gebeten hatte, auf der Mauer gesessen hätte. Das Zittern, so erzählte ich ihm, habe mit der Erinnerung an die ersten Sekunden zu tun, nachdem ich die Nachricht bekommen hatte, dass meine Mutter gestorben sei und nie wieder nach Hause kommen würde. Und mit einer weiteren Erinnerung an das Begreifen, dass das bedeutete, ich musste mit meinem Vater und meinem Bruder ohne meine Mutter leben, die ihren Körper wie eine menschliche Mauer benutzt hatte, um mich vor ihnen zu schützen.

      »Sie mussten vor Ihrem Vater und Bruder beschützt werden?«

      »Ja. Es waren große Männer. Sie hätten ihnen gefallen.«

      Er schüttelte den Kopf und lachte. »Das glaube ich nicht.«

      »Walter«, sagte ich, »wo ist die Mauer? Ich sehe sie nicht.«

      »Sie ist überall.«

      Ich sagte ihm, dass der tödliche Unfall meiner Mutter und mein kleinerer Unfall sich in meinen Gedanken vermischt hätten und dass ich immer noch unstillbar zornig auf den Fahrer sei, der sie überfahren hatte. Für mich sei er ihr Mörder. Der Tod meiner Mutter sei durch die vergangene Zeit nicht verblasst. Trotzdem hätte ich beim Überqueren der Straße nicht richtig aufgepasst.

      »Ach ja.« Walter faltete seine Zeitung zusammen, zuerst zur Hälfte und dann noch einmal. Als ich seine Finger dabei beobachtete, wie sie die Ecken glattstrichen, bemerkte ich Druckerschwärze von der Zeitung an ihnen. Zufällige Wörter waren aschgrau auf seinen Fingerspitzen verschmiert. In meinem Kopf vernahm ich Tippgeräusche. Auf eine Seite hämmernde Tasten. Als berichtete ich über mich selbst. Herr Adler ist ein unvorsichtiger Mann. Aber das war nicht, was Walter jetzt zu mir sagte.

      »Vielleicht mussten Sie es wiederholen oder so etwas in der Art?«

      »Was wiederholen?«

      »Die Geschichte.«

      Er beugte sich vor und fragte, ob er mir helfen könne, den linken Schnürsenkel zu binden. Er hatte sich auf unserem Spaziergang gelöst. Ich schämte mich unendlich. Er war freundlich und vorurteilsfrei, wie es Fremde manchmal sein können, für gewöhnlich, weil die Geschichte nicht dazwischenfunkte. Ich erhob mich und lief ohne ihn weiter. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, doch ich wollte nicht, dass er meine Tränen sah. Ich war gerade erst angekommen, und da war er, trug meine Tasche und band mir die Schnürsenkel, und jetzt weinte ich. Als er mich einholte, hatte er seine Brille abgesetzt. Auf seinem Nasenrücken war eine Kerbe, dort hatte sich das Plastikgestell eingedrückt.

      »He, Saul, warten Sie auf mich.«

      Er stand neben einer Frau, die eine Holzkiste trug. Es stellte sich heraus, dass darin kleine Blumenkohlköpfe waren. Walter sprach in einem Dialekt mit ihr, den ich nicht verstand. Ich glaube, er gab mir Zeit, mir diskret die Augen zu wischen. Das Problem war, dass meine Augen nicht trocknen wollten. Ich wischte sie ab, und noch mehr Tränen schossen heraus. Ich war äußerst beschämt, weil ich einen so großen Teil meines Kummers in die DDR mitgebracht hatte. Ja, es war wirklich eine große Portion. Ich brauchte meinen Freund Jack, der jedermanns Essen aufaß, um mir etwas abzunehmen. Jacks egoistisches Naturell war das Gegenteil von Walters, obwohl Walter nicht weniger anspruchsvoll war. Er war