Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Название Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman)
Автор произведения Karl May
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026866886



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Erfüllung ist möglich, allerdings nur in Rücksicht auf die Eigenthümlichkeit der Veranlassung. Sie haben bereits gehört, daß der Pflegevater dieses jungen Mannes vor Schreck gestorben ist?«

      »Gewiß!« antwortete Fanny. »Es mag entsetzlich sein! Der Sohn ein Einbrecher, der Vater todt vor Schreck und die kleinen Kinder nun im Waisenhause! Die Familie soll da drüben auf der Wasserstraße gewohnt haben, so, daß man von uns grad in ihre Fenster blicken kann. Ich vermag nicht, einen Blick hinüber zu senden!«

      »Es ist Ihnen von da drüben so Schlimmes gekommen,« sagte der Assessor. »Ich kann den Zusammenhang nicht begreifen. Ich vermag nicht einzusehen, wie der Riese aus dem Gefängnisse heraus zu dem Schreiber kommt.«

      »Es giebt zwei Erklärungen,« bemerkte da der Fürst.

      Die anderen blickten ihn erwartungsvoll an, und der Assessor sagte rasch:

      »Durchlaucht geruhen, von Erklärungen zu sprechen? Mir scheint für jetzt eine Erklärung noch unmöglich; ich würde bereits für einen Fingerzeig im höchsten Grade dankbar sein!«

      »Nun, glauben Sie, daß Bertram's Unschuld ausgeschlossen ist?«

      »Ich verurtheile keinen Angeklagten, ehe ich nicht überzeugende Beweise seiner Schuld habe.«

      »So giebt es also zwei Fälle: Entweder ist Bertram schuldig oder er ist es nicht. Im ersteren Falle müssen wir wohl annehmen, daß er mit dem Riesen den Einbruch nicht direct hat besprechen können.«

      »Das ist zweifellos sicher.«

      »Also muß es eine dritte Person geben, welche den Plan dazu entworfen hat.«

      »Und wer könnte das sein?«

      »Haben Sie nicht an den ›Hauptmann‹ gedacht, Herr Assessor?«

      »Gewiß. Ich bin sogar auf ihn hingewiesen worden. Bormann nämlich behauptet, von dem Schließer herausgelassen worden zu sein; dieser aber stellt dies ganz entschieden in Abrede. Er will nicht das geringste davon wissen und sagt, daß es nur der Hauptmann gewesen sein könne, welchem es auf irgend eine, bis jetzt noch unerklärliche Weise gelungen sei, den Riesen aus dem Gefängnisse zu befreien.«

      »Das ist wohl möglich,« meinte der Fürst.

      Er wollte fortfahren, aber der Assessor fiel ihm in die Rede:

      »Auf welche Weise meinen Durchlaucht?«

      »Die Art und Weise ist auch mir dunkel, doch habe ich einen sehr guten Grund, zu glauben, daß der ›Hauptmann‹ seine Hand wirklich im Spiele hatte. Ich werde nachher diesen Grund näher bezeichnen. Vorher aber muß ich auf meinen unterbrochenen Satz zurückkommen.«

      »Die Annahme, daß Bertram schuldig ist?«

      »Ja. Ist er wirklich schuldig, so ist als sicher zu denken, daß er ein Untergebener des Hauptmannes ist.«

      »Der Schluß ist richtig, obgleich es mir nicht wahrscheinlich sein will, daß der Hauptmann sich dieser Art von Kräften bedient.«

      »Nun, so kommen wir zu unserem zweiten Falle, Herr Assessor. Bertram ist unschuldig!«

      »Welchen Grund gäbe es, dies anzunehmen?«

      »Gnädiges Fräulein bemerkten vorhin, daß man von hier aus die Fenster von Bertram's Wohnung sehen könne?«

      »So ist es,« antwortete Fanny von Hellenbach. »Ich habe mich orientirt. Ich kann von meinem Zimmer aus fast gerade in diese Fenster blicken.«

      »In diesem Zimmer hat der Einbruch stattgefunden?«

      »Ja.«

      »Wenn man hinüberblicken kann, so ist anzunehmen, daß man auch von drüben herüber in die Fenster dieses Zimmers sehen kann!«

      »Gewiß!«

      »Gnädiges Fräulein, brannte bei Ihnen Licht, als die That geschah?«

      »Ja.«

      »Ah! Denken Sie sich Bertram, zu derselben Zeit drüben an seinem Fenster stehend. Er blickte herüber nach dem erleuchteten Fenster. Er sah, daß dasselbe von außen geöffnet wurde, er erblickte die Gestalt oder auch wohl nur den Schatten eines Mannes, welcher einstieg, jedenfalls in verbrecherischer Absicht; er folgte dem augenblicklichen Drange seines Herzens, diese Absicht zu vereiteln!«

      »Das läßt sich allerdings als möglich denken; aber er war bewaffnet und hatte die geraubte Kette in der Hand, als er ergriffen wurde. Diese beiden Punkte fallen schwer in's Gewicht.«

      »Sollten sie sich nicht auch erklären lassen? Wie ist der Riese an die Mauer gekommen?«

      »Er befand sich, wie sich zeigte, in dem Besitze einer eisernen, ausgezeichnet construirten und zusammenlegbaren Leiter. Diese diente aber nur zur Ersteigung des Fensters. Er ist zweifelsohne durch das Haus der Wasserstraße herübergekommen. Der Schlüssel zu diesem Hause fand sich in seiner Tasche, und die Gartenmauer, welche beide Grundstücke trennt, hat er mit Hilfe einer Holzleiter erklettert, welche zu dem Hause der Wasserstraße gehörte.«

      »Diese Leiter blieb lehnen?«

      »Ja. Sie wurde von den Polizisten bemerkt, nachdem die Arretur vollbracht war.«

      »Ist das Messer recognoscirt worden?«

      »Ja. Die kleinen Geschwister des Angeklagten, welche sich im Waisenhause befinden, sagten aus, daß es ihnen gehört habe.«

      »Und wo hat sich der Angeklagte vor der That befunden?«

      »Die Kleinen konnten darüber nichts sagen. Nun ist zwar noch eine größere Schwester vorhanden, aber diese scheint infolge des Schreckes geistig gestört zu sein –«

      »Dieses arme Mädchen!« fiel Fanny ein.

      »Ich nahm sie in's Verhör,« fuhr der Assessor fort. »Sie konnte sich zwar besinnen, daß ihr Bruder zum Abendbrot geladen gewesen sei, aber wo, das war ihr entfallen. Er war dann nach Hause gekommen und in seine Kammer gegangen, nach einiger Zeit aber in höchster Aufregung zurückgekommen und zum Zimmer hinausgesprungen.«

      »Ah, meine Vermuthung!« sagte der Fürst. »Das ist es, was ich wissen wollte! Lassen Sie mich fortfahren! Bertram also erblickte den Einbrecher von Weitem; er faßt den Entschluß, die That zu vereiteln. Die Seinen können ihm dabei nicht helfen, darum hält er es für besser, ihnen gar nichts zu sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Er ergreift das Messer, rennt die Treppen hinab und in den Hof; dort liegt die Leiter. Er klimmt hinauf, springt drüben hinab und eilt auf die Hinterseite dieses Hauses zu. Dort erblickt er die Leiter, welche zum Fenster emporführt. Er klettert eiligst hinan, findet das Fenster offen, steigt ein und sieht den Einbrecher bei seinem Raube. Er will ihn hinweg schleudern, reißt ihm dabei die Kette aus der Hand, und in diesem Augenblicke dringen die Polizisten in das Zimmer. Sie sehen ihn mit Kette und Messer; sie halten ihn also für einen Complicen des Riesen und nehmen ihn gefangen. Ist das nicht denkbar, Herr Assessor?«

      Der Beamte war den Worten des Fürsten mit größter Spannung gefolgt. Jetzt sagte er:

      »Durchlaucht, ich bewundere höchst Dero außerordentliche Kombinationsgabe. Es ist, als ob man bei der Handlung zugegen wäre. In diesem Augenblicke lerne ich dem Ereignisse allerdings eine ganz andere Seite abzugewinnen.«

      »Das soll mich außerordentlich freuen!«

      »Ich erinnere mich, daß zwei der Polizisten sagten, welche am hinteren Thore Wache hielten daß sie einen Menschen eiligen Laufes von drüben herkommen sahen, welcher die Leiter erklimmte. Darauf hörten sie oben einen Ruf ›Zurück, Elender!‹ oder so ähnlich, und dann –«

      »Ja,« fiel Fanny schnell ein, »das waren die Worte, welche auch ich gehört habe.«

      »Hat einer der Polizisten sie gesprochen?« fragte der Fürst.

      »Ich muß mich erkundigen,« antwortete der Assessor.

      Der Fürst zuckte die Achsel und sagte in höflichem Tone, dem aber doch eine Art von Strenge anzuhören