Péter Nádas' Parallelgeschichten. Группа авторов

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Название Péter Nádas' Parallelgeschichten
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772001246



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ereignet sich im Jahr 1989, um die Zeit der sogenannten Wende. Nádas konterkariert natürlich diese einfache Interpretation – ein gestalterisches Mittel des Autors ist ja das Spiel mit Lesererwartungen – und fügt Ereignisse ein, die diesen Rahmen sprengen. Etwa die Geschichte des Hauses der Familie Demén in Budapest, die sich irgendwann im späten 19. Jahrhundert abgespielt haben dürfte. Ein zweites Ereignis liegt Jahrhunderte zurück, passt aber logisch in die Geschichte, da es die antisemitische Tradition in Deutschland aufzeigt, nämlich die Geschichte von „Rabbi Ammon aus Cleve“. Die Geschichte fängt also „eigentlich“ im Mittelalter an. Und es gibt auch einen über 1989 hinaus liegenden weiteren Zeitpunkt, der als „eigentliches“ Ende angegeben werden kann, nämlich den Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit, den Zeitpunkt der Veröffentlichung, weil der Autor ja gar nicht anders kann, als zu berücksichtigen, was während des Schreibens um ihn stattfindet. Welche Perioden der Text auch immer behandelt, untilgbar bleibt die Perspektive der Periode, in der der Autor ihn verfasst, also die zwanzig Jahre von 1985 bis 2005.

      Zumindest ebenso interessant wie das, was aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Roman sichtbar gemacht wird, ist das, was unsichtbar bleibt. Wenn Karakas im Lukács-Bad mit András Rott den Einsatz von Ágost Lippay bespricht, dann muss Karakas ein Staatssicherheitsdienst-Offizier sein, da niemand außer Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes die Identität anderer Offiziere kennt. Doch Karakas, Rott und Lippay gehörten wohl nicht nur dem Staatssicherheitsdienst an, sondern waren auch Parteimitglieder. So stellt sich die Frage: Warum fällt im Buch kein Wort über die kommunistische Partei Ungarns?

      Auf den historischen Hintergrund bezogen lautet die Frage daher: Was von diesem Hintergrund erscheint im Roman? Alles beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Othmar Schuer und István Lehr kommen von dort. Der eine ist Rassenbiologe, der andere offener und dann geheimer Nationalist. Ihre Kinder wachsen in den späten 1930ern, während der 40er- und beginnenden 50er-Jahre auf, also während des Nationalsozialismus und des Stalinismus von 1933 bis 1953. Das verbindende Zentrum wäre so gesehen die Person Erna Demén, die mit István Lehr verheiratet ist und deren Bruder Miklós Demén stalinistischer Politiker war. Sie müsste also am direktesten mit beiden politischen Systemen in Verbindung stehen, wäre sie nicht als Frau den Männern bloß beigestellt. Eine zweite verbindende Figur wäre János Kovach/Wolkenstein, Sohn einer nationalsozialistischen Wissenschaftlerin und eines ungarischen Kommunisten, doch auch er ist keine Hauptfigur. Die Hauptfigur ist Kristóf Demén, zu dessen vielen Gesichtern etwa Carl Maria Döhring gehört, bzw. jene Gesichter, die wir durch Schilderung von Figuren wie Carl Maria Döhring verstehen lernen.

      Was bedeutet es nun, dass das Geschehen um Othmar Schuer im Jahr 1919 das früheste Ereignis in diesem historischen Panorama und jenes um Carl Maria Döhring im Jahr 1989 das späteste ist und beide in Deutschland stattfinden? Offenbar orientiert sich Nádas an der Periode des sogenannten Kurzen 20. Jahrhunderts.2 Und es sagt aus, dass die dargestellten ungarischen Geschichten und Ereignisse nicht nur in vielfachen Gesichtspunkten mit den deutschen in Verbindungen stehen, sondern dass jene von diesen umrahmt werden. Das suggeriert, dass das, was in Ungarn passierte, eine Reaktion auf bzw. eine Reflexion der deutschen Geschichte sei. Das wäre aber angesichts des geschichtlichen Hintergrundes – wenn unter diesem die große, durch die Wissenschaft erforschte Geschichte verstanden wird – eine deutliche Vereinfachung. Ungarn konnte im 20. Jahrhundert innerhalb gewisser, natürlich wiederholt sehr eng gesteckter Rahmen immer seine eigenständige Politik machen. Und vor allem: Jede geschichtlich, also etwa politisch, aber auch kulturgeschichtlich agierende Figur konnte und kann sich entscheiden. Als Erwachsener ist jeder verantwortlich dafür, was er damit anfängt, was ihm als Kind widerfahren ist. Das gilt für jede im Roman auftretende Figur gleichermaßen. So muss man nicht in politisch exponierten Kreisen verkehren. Und wenn jemand die Entscheidung trifft, zur Zeit einer Gewaltherrschaft sich an der Gewalt zu beteiligen oder sich den Gewalttätigen anzubiedern, dann ist das eben seine Entscheidung. Nádas’ Roman Parallelgeschichten legt mit einer faszinierenden Intensität dar, wie Verbrechen und das Umfeld von Verbrechen funktionieren. Ob sich ein Wissenschaftler, Gefängniswärter, Künstler, Übersetzer etc. arrangiert, ob er mitläuft oder selbst lenkt, ob er aus Gründen der Gewinnsucht oder damit er zur Elite gehört, egal, wofür diese Elite steht, dabei sein will: Jeder wird Teil des Systems, das er mitgestaltet.

      Seinem Roman stellt Péter Nádas ein Parmenides-Zitat über den Kreislauf der Geschichte voran. Es scheint also auch im Roman selbst darum zu gehen, dass dieser Kreislauf nicht durchbrochen werden kann: Carl Maria Döhring verübt aufs Neue das Familienverbrechen, und Ágost Lippay wiederholt die Involvierung seines Vaters in die Strukturen der Staatsgewalt. Das gilt insbesondere auch für die Frauenfiguren, denen zwar ein mehr oder weniger schillerndes Leben, wie das einer Balletttänzerin oder der Ehepartnerin von berühmten Wissenschaftlern, aber keine eigenständige Entwicklung zugebilligt wird. Es scheint aber im Roman auch eine andere Möglichkeit auf. So beim Kommissar Kienast, der an hereditärer Epilepsie leidend im Kindesalter in eine NS-Anstalt gesperrt wurde, aber als Polizist am Ende des Romans gerade unterwegs ist, das Verbrechen Carl Maria Döhrings, mit dem das Buch begonnen hat, aufzuklären. Kienast ist ein Beispiel dafür, dass man aus dem Kreislauf ausbrechen kann. Ein anderer Ausweg ist die Emigration, wie jene des Architekten Alajos Madzar. Wobei Emigration nicht als Scheitern, sondern eben als Chance angesehen werden muss – eine Interpretation, die in diktatorischen Regimen gern in Verruf gebracht wird.

      Die Frage, um welche Geschichte es bei Nádas geht, lässt sich auch einschränken, indem man danach fragt, wie die Gesellschaftsschicht heißt, deren Geschichte hier entfaltet wird. Welcher Gesellschaftsschicht gehören die Figuren des Romans an? Es ist ohne Zweifel das Bürgertum, und zwar in der Vielschichtigkeit dieser Kategorie. Es sind Staatsbeamte, die gewillt sind, die Vorgaben der jeweils etablierten Politik zu exekutieren, es sind Staatsbürger, also Citoyens, die die politischen Weichenstellungen nicht nur passiv über sich ergehen lassen, sondern vielfach aktiv mitgestalten, motiviert durch die Hoffnung auf persönliche Karrieremöglichkeiten, und es sind auch Kulturbürger, die als Wissenschaftler „etwas voranbringen“ und ihre moralischen Wertvorstellungen verwirklicht sehen wollen. Sie verstehen sich als die Mehrheit, die daher ein demokratisches Recht habe, ihre Mehrheitsposition als politisch Bestimmendes durchzusetzen. Sie fühlen sich als diejenigen, deren Zeit nun gekommen ist. Daher werden die relevanten Kämpfe innerhalb der Gruppe selbst geführt. Sie sind genauso Täter wie Opfer, wobei durchaus auch der Fall vorstellbar ist, dass die Tat durch erlittenes Leid gerechtfertigt wird. Nádas’ Figuren repräsentieren das ungarische Bürgertum. Es sind ein Architekt, eine Psychoanalytikerin, ein Politiker, ein Wissenschaftler, ein Holzhändler, ein Schiffskapitän, ein Übersetzer und ihre jeweiligen Familienangehörigen. Das Bürgertum der Zwischenkriegszeit war nach 1945 zunächst Objekt stalinistischer Säuberungen und ab Ende der 1950er-Jahre Mitträger des Systems. Die kommunistischen Funktionäre stammten aus ihm oder wuchsen in es hinein. Das prägte die Schicht, und diese Schicht ist es, die in Nádas’ Buch seziert wird. Die Träger der Geschichte sind bei Nádas die Bürger. Und zwar, indem das Bürgertum eine spezifische – ungarische, mitteleuropäische – Bedeutung bekommt. Und diese Schicht kann auch bei Nádas nicht scheitern, weil sie sich im Kreislauf perpetuiert.

      Falls wir den Vorschlag, uns auf die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts zu konzentrieren, lediglich als romangestalterisches Prinzip ansehen, das die Interpretation des Romans anregen und nicht einschränken soll, lässt sich die Frage stellen: Was sagen Nádas’ Parallelgeschichten über ihre Entstehungszeit 1985–2005 aus? Was waren also die letzten fünf Jahre des ungarischen Staatssozialismus und die ersten fünfzehn der Nachwendezeit bis zum Eintritt Ungarns in die Europäische Union? Es war eine Neuorientierung, oder zumindest ein Versuch der Neuorientierung. Merkwürdigerweise arbeitet sich die Nádas’sche Neuorientierung am Verhältnis Ungarn-Deutschland ab. Alles andere – insbesondere die Sowjetunion – kommt lediglich am Rande vor. Interessant ist auch, dass 1989 zwar als Ausgangspunkt gesetzt wird, es aber doch um die Periode der 1930er- bis 1960er-Jahre geht, wenn Momente aus dieser Periode extensiv entfaltet werden. Alles andere ist Vorgriff und Nachhall. Dieser Vorgriff und dieser Nachhall erklären oder erhellen aber nichts. Sie blitzen irgendwo auf, wohl auch im Gedankenlabyrinth der handelnden Figuren, gehen aber in der Flut der Körperwahrnehmungen und Umweltbeschreibungen gleich wieder unter. Sie stehen als Chiffre für die zeitliche Anfangslosigkeit und Unabgeschlossenheit. Dafür also,