Péter Nádas' Parallelgeschichten. Группа авторов

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Название Péter Nádas' Parallelgeschichten
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772001246



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Raum gebend, sondern es läuft eine Erzähllinie sozusagen im Hintergrund ständig mit. Die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert bildet insofern eine von diesen parallel gestellten Geschichten, weil Nádas mit „der Geschichte“ auf eine spezifische Weise umgeht.1 Die Geschichte bekommt eine besondere Bedeutung. Schlüsselereignisse der Erzählung, bestimmende Entwicklungen der Protagonisten lassen sich nur verstehen, wenn der Leser die geschichtliche Dimension mitberücksichtigt. Zweitens zeichnet sich der spezifische Umgang von Nádas mit der Geschichte dadurch aus, dass er – er schreibt ja kein wissenschaftliches Werk – bestimmte geschichtliche Zusammenhänge überdeutlich macht und andere ausblendet. So erscheint es immer dringlicher, den geschichtlichen Hintergrund von Parallelgeschichten etwas genauer anzuschauen.

      Erschwert wird dieser Zugang dadurch, dass der Roman auf langen Strecken im Geschichtlichen stehenzubleiben scheint. Es werden aus dem Fluss der Geschichte gewisse Momente herausgegriffen und zwar auch solche, die in der Ereignisgeschichte – die aus der politischen Geschichte sogenannte zentrale Ereignisse herausgreift und sie als isolierte Schlüsselstellen aneinanderreiht – keinen besonderen Stellenwert haben. So 1961 und 1938. Das dritte Jahr, das im Zeitregime des Romans großen Raum einnimmt, ist 1989, auch Wendezeit genannt. Bezogen auf den Umgang mit Geschichte ist der nächste interessante Punkt, wie diese Geschichtsmomente in der Romanstruktur untergebracht werden. Eröffnet wird die Erzählung mit 1989. Was wir dann lesen, ist gleichsam eine Vorgeschichte der Anfangsszene in einem Berliner Park der Wendezeit. Wichtig ist dabei auch festzuhalten, dass Geschichte zwar die ständig anwesende Parallelgeschichte ist, das Thema, der zentrale Aspekt des Romans aber nicht die Geschichte selbst ist, sondern der Versuch, die Identität des – wieder in mehreren parallelen Lebensläufen multiperspektivisch gebrochenen – geschichtlichen Individuums fassbar zu machen.

      Worum geht es in den Parallelgeschichten? Die These dieses Aufsatzes ist: Es geht um den Beweis, dass man unendlich nachdenken, sich mit den Details des Körpers, mit den Geschichten anderer, so insbesondere der eigenen Vorfahren beschäftigen kann, dies alles aber über die Frage, ob man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, nicht hinweghilft. Eine Verantwortung natürlich nicht für Taten, die man nicht selbst begangen hat, aber eine Verantwortung für die Folgen von Geschichten, die die Gegenwart, unsere Identität prägen. Denn wir stehen vor der Wahl, unsere Identität und unsere Gegenwart in der Entropie von Kausalketten aufzulösen oder aber die Worte zu finden, die die Logik des Schreckens verständlich machen.

      Péter Nádas’ 2005 publizierter Monumentalroman Parallelgeschichten ist nicht nur in der Hinsicht monumental, dass die ungarische Version 1500 Seiten lang ist, sondern in seinem Anspruch, nicht nur umfassend, sondern auch erschöpfend zu sein. Bestimmte Themen oder Themenkomplexe wie Körperlichkeit oder Raumordnungen werden im Buch so oft wiederholt und derart ausführlich besprochen, dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass sie den Autor über die Grenzen hinaus bis zum Exzess interessiert haben müssen. Umfassend und bis zur Besessenheit detailliert ist das Werk auch in der Darstellung von ausgewählten, historisch genau verortbaren Geschehnissen, so etwa von Einzelheiten der Vorbereitungen der Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns, der Vorbereitungen und der Vollziehung von sogenannten rassenhygienischen Maßnahmen während des Nationalsozialismus in Deutschland oder des Aufstands im Oktober und November 1956 in Budapest betreffend. Nádas reiht dabei Episoden aneinander, in denen sich die Geschichte Zentraleuropas im 20. Jahrhundert verdichtet. Diese Verdichtungen – in flüchtigen Begegnungen wie einem Geschlechtsakt, einer Taxifahrt, einem Telefonanruf – werden dann wieder jeweils in ihre einzelnen Momente zerlegt und diese Momente aus den Perspektiven der einzelnen handelnden oder das Handeln anderer erleidenden Akteure dargestellt. Was auf diese Weise entsteht, sind die parallel gestellten Schicksale, die den Roman ausmachen.

      Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ist der Roman ein rundes, geschlossenes Ganzes. Alle Parallelgeschichten werden zu Ende erzählt, alle Fäden werden verwoben. Indem nämlich die Geschichten sich wiederholen (etwa: als Kind politisch exponierter Eltern in Internate zu kommen) und die Figuren ähnliche Schicksale erleben. So schließt sich die Geschichte, indem wir erfahren, wer der Riese von der Margareteninsel war. Oder, indem wir erfahren, wer der Gefängniswärter unter Horthy, Rákosi und Kádár war, der, wenn es sein musste, zuschlug. Oder, indem wir sehen, wie Carl Maria Döhring und Kristóf Demén die gleiche Laufbahn durchlaufen; indem wir László Bellardi als Kind, als Schiffskapitän und als Taxifahrer erleben; indem wir die kartenspielenden Damen Dr. Irma Szemző, geborene Arnót, Margit (Mádi) Huber, Izabella (Bella) Dobrovan und Mária Szapáry sowie die im Rollstuhl sitzende Elisa Koháry, geschiedene Bellardi, als 20-jährige in Paris und Wien sehen und dann in den späten 30ern, 1944–45 und wieder 1957 und zuletzt 1961, als sie sterben. Das sind ja komplette Leben. Das Buch fängt mit einem Toten im Park an (der wenige Minuten davor noch lebte) und endet mit etwas Erschreckendem in einem Wohnwagen. Wir kommen also von Schrecken zu Schrecken. Wir bewegen uns im Kreis. Wir lesen dieselbe Geschichte immer wieder in Fortsetzungen und Variationen.

      Dabei bietet das Buch zahlreiche mögliche Lesarten an. Eine davon besteht darin, den Titel Parallelgeschichten nicht allzu wörtlich zu nehmen. So gesehen, handelt das Buch nicht von mehreren Geschichten, sondern nur von einer. Der Autor führt den Leser in diese Geschichte hinein, indem er eine Vielzahl von Episoden, Situationen, Figuren aufreiht, die, wie der Titel andeutet, parallel gesetzt werden und in wenigen Grundsituationen und in wenigen Figuren verschmelzen: im Kind politisch exponierter Eltern, inmitten von politisch extremen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts; in der Vatergestalt – sei es „der Riese“ von der Margareteninsel, sei es Gyula Bartler senior, der seinen Sohn prügelt und einen geistig Behinderten erschlägt; seien es Hermann und Gerhard Döhring in der Ortschaft Pfeilen; sei es Othmar Schuer beim Familienessen mit Gästen oder sei es der im Roman nie auftretende István Lehr. Die dritte Grundfigur ist die Frau bzw. sind die Frauen. Diese sind auffallend undifferenziert dargestellt. Wir erfahren aus der Geschichte Gyöngyvér Mózes’ wesentlich weniger an Bruchstücken als aus der von Ágost Lippay. Irma Szemző, Imola Auenberg oder Erna Demén erscheinen trotz ihrer zig Seiten umfassenden Beschreibung eindimensional. Sie scheinen bloß um die Männer zu kreisen. Imola Auenberg kann beispielsweise zwischen Mihály Horthy, Othmar Schuer, Albert Speer und Arno Breker nicht unterscheiden. Während wir die Männer in der Figur des Vater-Sohnes verstehen, verstehen wir die Frauen trotz seitenlanger und auch aus Frauenperspektive geschilderter Geschlechtsakte nie. Die eine Geschichte, die hier erzählt wird, handelt also von der Determiniertheit von Kindern systemtragender Verbrecher, und wie sich die Geschichte im Generationsrhythmus, ganz schematisch und zugleich von jeweils verschiedenen akzidentiellen Ereignissen mitgeformt, wiederholt. Deshalb ist im Roman jeder homo- oder zumindest bisexuell, jeder könnte mit jedem Sex haben, weil es eben nur zwei Gestalten sind: Vater/Sohn einerseits und Mutter/Schwester/Liebhaberin andererseits. Diese Figuren nehmen im Lauf der Geschichte verschiedene Persönlichkeiten an.

      Wenn die im Roman erzählten Geschichten nicht parallel, sondern oft wundersamerweise miteinander vernetzt sind, was für ein Bild der Geschichte entsteht für den Leser? Was erfahren wir über die Dynamik, die Erfahrbarkeit der Geschichte? Was wir erfahren, sind extrem intensiv und extensiv dargestellte Kreuzungsmomente. Dass sich also Menschen an bestimmten zeitlich und örtlich genau angegebenen Punkten begegnen. Diese aneinandergereihten Konstellationen machen den Roman aus.

      Ein weiteres romankonstituierendes Verfahren ist das In-den-Mittelpunkt-Stellen des Körpers. Nádas beschäftigt seinen Leser mit Geruch und Ausscheidung und Oberfläche und Pigment und Haar der Romanfiguren. Das erweckt den Anschein, es wäre das Verdrängte jetzt an die Oberfläche geholt worden. In Wirklichkeit war der Körper aber in der westlichen Zivilisation, um die es Nádas geht, nie verschwunden. Man nennt es Kultur, wie man mit ihm, mit seinen verschiedenen Funktionen, Formen und Darstellungen umgeht. Es gibt dazu zahllose Kulturtechniken von der Hygiene über die Psychoanalyse und Bekleidungsindustrie bis zur Medizin. Und auch natürlich die Künste wie die Bildhauerei oder die Literatur.

      Der historische Hintergrund von all dem ist das 20. Jahrhundert, das hier auch natürlich nur nach gewissen Prinzipien selektiert erscheinen kann. So ist es eine interessante Frage, auf welche Perioden Nádas sich konzentriert: Was berücksichtigt er? Wo fängt seine Geschichte an und wo endet sie? Eine Kontinuität, die die Geschichte der handelnden Figuren betrifft, ist ab dem Ende des Ersten Weltkriegs gegeben,