Mörderische Ostsee. Claudia Schmid

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Название Mörderische Ostsee
Автор произведения Claudia Schmid
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267707



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      »Edelgard! Soll dir der Koffer wieder geklaut werden? So wie damals in Berlin, als wir deine Großtante auf diesem Kreuzfahrtschiff besuchten? Willst du nicht besser auf ihn achten?«

      Seine Frau ignorierte den Einwand und konzentrierte sich stattdessen auf ihren Sohn. »Gut siehst du aus, Julian. Ich bin so neugierig auf die Stadt. Und auf deine Wohnung! Meine Güte, ich war noch nie in Skandinavien. Das ist wirklich aufregend! Wer hätte gedacht, dass wir einmal hierherreisen?«

      Nachdem Norbert Julian, der ihn beinahe um Haupteslänge überragte, ausgiebig auf die Schulter geklopft hatte, nahm Edelgard den Griff ihres Koffers wieder auf.

      »Wir fahren mit dem Zug in die Stadt. Das ist sogar relativ preiswert. Die Station erreichen wir von hier aus zu Fuß.«

      »Verstehe. Du hattest die ganze Zeit über schon am Telefon gesagt, dass hier alles so teuer ist.« Edelgard nickte ihrem Sohn wissend zu.

      »Für Urlauber beispielsweise aus Deutschland. Für die Stockholmer nicht so sehr, die verdienen entsprechend. Was wirklich teuer ist, sind Wohnungen. Ich selbst bin richtig gut dran, weil ich von meiner Firma eine zur Verfügung gestellt bekommen habe.«

      »Auf die bin ich echt gespannt, Julian.« Edelgard strahlte ihn an.

      »Außerdem ist es toll, dass wir nicht in ein teures Hotel müssen, sondern auf deiner Gästecouch übernachten dürfen«, ergänzte Norbert.

      »Alter Geizhals. Von dem gesparten Geld können wir toll mit Julian essen gehen.«

      »Kommt, der nächste Zug fährt bald. Ich habe für euch Wochenkarten besorgt.« Julian zog zwei aufladbare Plastikkarten aus seiner Jackentasche. »Die müsst ihr bei jedem Betreten einer Station am Eingang ans Lesegerät halten.«

      Julian war ihr einziges Kind. Als er klein war, hatte Edelgard sogar ein paar Jahre auf eine eigene Berufstätigkeit verzichtet und ganz für ihre Familie gelebt. Später, als Julian aufs Gymnasium kam, hatte es sich ergeben, dass die Pfarrerin in ihrem Ort eine Sekretärin suchte. Für Edelgard war es der perfekte Job.

      Während sie ihren Sohn anhimmelte, freute sie sich wie schon so oft darüber, dass Julian vom Aussehen her nach ihrer Verwandtschaft kam und keine Ähnlichkeit mit seinem sehr rundlich gewordenen, nicht allzu hoch gewachsenen Vater aufwies. Julian war größer als seine Eltern und schlank wie seine Mutter. Sein dichtes Haar war wie Edelgards dunkelblond, die Augen braun. Ihre Schwiegermutter hatte früher wegen der mangelnden Ähnlichkeit Julians mit seinem Vater öfter spitze Bemerkungen gemacht. Als sie Norbert unverhohlen einen Vaterschaftstest empfahl, verbot ihr dieser empört, jemals wieder einen solchen Verdacht zu äußern. Auch wenn die Ehe mit Norbert aus Edelgards Sicht nicht immer ein Grund zum Jubeln war und sie früher das eine oder andere Mal tief in sich den Wunsch verspürt hatte, etwas nachzuhelfen, um endlich Witwe zu werden, so gestand sie sich inzwischen ein, dass Norbert durchaus seine guten Seiten hatte.

      Zu Edelgards Bedauern war die Schwiegermutter damals jedoch nicht lange gekränkt gewesen und setzte ihre ausgiebigen Besuche bei ihnen unverdrossen fort. Nachdem im Anschluss an Julians Konfirmation nach ihrer Abreise Julians Zahnbürste auf unerklärliche Weise verschwunden war, setzte die Schwiegermutter wenig später völlig überraschend ihren Enkel im Testament sogar als Alleinerben ein. Norbert hatte ihr bereits mehrfach vergeblich dazu geraten, um eine Generation mit der Erbschaftssteuer zu überspringen. Da er selbst als Jurist im Finanzamt tätig war, kannte er sich aus mit solchen Dingen.

      Norbert und Julian saßen ihr im Zug gegenüber. Der Vater befragte den Sohn zu seiner Arbeit bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Aber darüber war Edelgard bereits hervorragend informiert, da sie selbst regelmäßig mit Julian telefonierte. Sie blickte aus dem Fenster, als sie durch die Vororte Stockholms fuhren. Leider hatte sie Julian zu der Zeit, als er auf Malta arbeitete, nicht besucht. Diesen Fehler wollte sie während seines Aufenthaltes in Schweden nicht wiederholen.

      Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm.

      »Mom, wir müssen umsteigen. Wir sind an der Centralstation angekommen. Wir müssen in die grüne Linie.«

      »Grüne Linie?«

      »Jede Linie der U-Bahn hat eine andere Farbe, so kann man sie leicht auseinanderhalten. Wir müssen in Richtung ›Hässelby strand‹ fahren. Wir steigen in Bromma aus. Das ist der Vorort, in dem ich wohne.«

      Nachdem sie die S-Bahn-Haltestelle verlassen hatten, folgten sie der Straße, die zur linken Seite leicht bergauf führte. Zu ihrer Überraschung stellte Edelgard fest, dass viele Fenster der Häuser, an denen sie vorbeigingen, nicht mit Gardinen verhangen waren, so, wie sie es von zu Hause her kannte.

      »Die Fenster, ich weiß nicht. Das sieht irgendwie nackig aus. Gar nicht gemütlich.«

      »Die Schweden wollen vermutlich das wenige Licht während des dunklen Halbjahres nicht aussperren und haben deshalb keine Gardinen.«

      »Da kann doch jeder reingucken! Außerdem ist es jetzt Sommer. Da wird es doch kaum dunkel.«

      »Mom, in Schweden guckt man fremden Leuten nicht durchs Fenster in die Wohnung.«

      Edelgard schüttelte den Kopf. »Wieso denn nicht? Ich finde es großartig, im Winter spazieren zu gehen und durch Fenster in beleuchtete Wohnzimmer zu linsen. Das ist so heimelig. All die mit Lichterketten geschmückten Räume. Also wirklich! Wenn jemand nicht will, dass man bei ihm hineinguckt, muss er halt die Vorhänge zuziehen!«

      Julian lächelte nachsichtig. Die sprichwörtliche Neugierde seiner Mutter war ihm bewusst. »Die Leute hier sind eben anders. Zurückhaltender als in Deutschland. Wer sein Fenster trotzdem blickdicht machen will, kann die Jalousie herunterlassen. Dazu muss man doch keine Staubfänger aus Stoff ans Fenster hängen.«

      Norbert blieb nach ein paar Metern schwer atmend stehen.

      »Paps, soll ich deinen Koffer nehmen?« Julian wandte sich besorgt seinem Vater zu.

      Norbert schielte nach seiner Frau. Unter normalen Umständen hätte er Edelgard den Koffer jetzt aufs Auge gedrückt. Schließlich verfügte sie über zwei kräftige Arme. Aber wenn sein Sohn dabei war, ging das natürlich nicht. Was sollte der denn von seinem Vater denken? Doch auch Julian wollte er sein Gepäckstück nicht übergeben – er sollte schließlich nicht fälschlicherweise annehmen, er sei alt und kraftlos.

      »Passt schon«, sagte er deshalb resigniert und setzte sich tapfer erneut in Bewegung.

      Edelgard passte sich seinem Tempo an und ging hinter ihm. Das neue Outfit, das sie ihrem Göttergatten für den Besuch bei Julian mit viel Mühe aufgeschwatzt hatte, stand ihm gut, stellte sie bei sich fest. Sein uralter beigefarbener Breitcordanzug, den er mit Vorliebe trug, befand sich ohnehin beinahe in Auflösung. Den hatte sie kurz vor ihrem Abflug heimlich in einer Box für Kleiderspenden entsorgt. Norbert hatte die Nähte des guten Stücks derart beim Tragen überdehnt, dass der Stoff an einigen Stellen bereits mürbe geworden war. Man hätte gut und gern eine Zeitung durch ihn hindurch lesen können. Sie hatte ihren Mann zwei Wochen vor der Reise mit der Idee zu einer spontanen Einkaufstour überrumpelt und ihm eine komplett neue Garderobe aus warmen Erdtönen aufgeschwatzt. Norbert hatte zwar etwas gemurrt, als er an der Kasse den Zahlbetrag sah. Nichtsdestotrotz hatte ihn Edelgard zu einem Friseur bugsiert und dem heimlich ins Ohr geraunt, er solle ihrem Mann einen modischen Haarschnitt verpassen, während sie die prall gefüllten Tüten ans Auto schleppte. Ihrem Wunsch, das Rasieren zu vernachlässigen und sich einen Bart stehen zu lassen, hatte Norbert sich bislang erfolgreich verweigert. Edelgard lächelte still. Ihr Mann wusste nicht, dass sie das Ladegerät seines Rasierers heute früh heimlich aus seinem Kulturbeutel entfernt hatte. Sie war gespannt darauf, wie er mit Bart aussehen würde. Früher hatte sie gedacht, zu viel Gesichtsbehaarung stünde ihm nicht. Aber wieso nicht mal etwas Neues wagen?

      Die Blocks, auf die sie zusteuerten, waren im nüchternen Stil gehalten. Jede Wohnung war mit einem großen Balkon ausgestattet. Zwischen den Häusern wuchsen hohe Kiefern. Es wirkte auf Edelgard so, als wäre die Siedlung in einen bereits vorhandenen Wald gebaut worden.

      »Weshalb sind denn die Autos nur auf einer Straßenseite geparkt?