George Orwell: 1984. George Orwell

Читать онлайн.
Название George Orwell: 1984
Автор произведения George Orwell
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783868208955



Скачать книгу

er es geschafft, ein Jahr lang über die festgesetzte Altersgrenze hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium war er auf einem untergeordneten Posten angestellt, für den keine Intelligenz erforderlich war, andererseits aber hatte er eine leitende Position im Sportausschuss und allen anderen Ausschüssen inne, die sich mit der Organisation von Gemeinschaftswanderungen, spontanen Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwilligen Aktivitäten jeder Art befassten. Er erzählte einem gerne mit leisem Stolz zwischen zwei Pfeifenzügen, dass er in den vergangenen vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum gewesen sei. Ein überwältigender Schweißgeruch, eine Art unbewusstes Zeugnis für sein tatkräftiges Leben, umgab ihn auf Schritt und Tritt und blieb sogar von ihm zurück, wenn er längst gegangen war.

      »Haben Sie einen Schraubenschlüssel?«, fragte Winston, während er an der Schraubenmutter der Winkelverbindung fummelte.

      »Einen Schraubenschlüssel«, sagte Frau Parsons und wurde sofort unsicher. »Ich weiß nich, keine Ahnung. Vielleicht haben die Kinder –«

      Mit lautem Stiefelgetrampel und einem weiteren Tröten auf dem Kamm stürmten die Kinder ins Wohnzimmer. Mrs. Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angewidert den Haarpfropfen, der das Rohr verstopft hatte. Er säuberte seine Hände so gut es ging unter dem kalten Leitungswasser und ging in das andere Zimmer zurück.

      »Hände hoch!«, schrie eine wilde Stimme.

      Ein hübscher, derb aussehender neunjähriger Junge war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeug-Automatikpistole, während seine kleine, etwa zwei Jahre jüngere Schwester dieselbe Geste mit einem Stück Holz machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, die Uniform der Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, hatte dabei aber ein unbehagliches Gefühl, denn der Junge gebärdete sich derart bösartig, dass es längst kein Spiel mehr war.

      »Du bist ’n Verräter!«, brüllte der Junge. »Du bist ’n Gedankenverbrecher! Du bist ’n eurasischer Spion! Ich knall dich ab, ich vaporisier’ dich, ich schick’ dich ins Salzbergwerk!«

      Plötzlich sprangen beide um ihn herum und riefen »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nachahmte. Es hatte etwas Beängstigendes, wie das Herumtollen von Tigerbabys, die bald ausgewachsene Menschenfresser sein würden. In den Augen des Jungen lag eine berechnende Bösartigkeit, ein ganz offensichtliches Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und auch das Bewusstsein, fast groß genug dafür zu sein. Bloß gut, dass er keine echte Pistole hat, dachte Winston.

      Mrs. Parsons Augen huschten nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte er erstaunt, dass sich tatsächlich Staub in ihren Gesichtsfalten angesammelt hatte.

      »Die machen wieder einen Radau«, sagte sie. »Sind enttäuscht, weil sie das Hängen nich sehn können. So isses. Ich hab zu viel zu tun, um mit ihnen hinzugehn, und Tom kommt nich früh genug von der Arbeit heim.«

      »Wieso könn’n wir nich beim Hängen zugucken?«, blaffte der Junge mit seiner kräftigen Stimme.

      »Hängen guckn, Hängen guckn«, sang das kleine Mädchen, das immer noch herumhüpfte.

      Winston fiel ein, dass an diesem Abend einige eurasische Gefangene, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, im Park gehängt werden sollten. Dergleichen geschah ungefähr einmal im Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder wollten immer unbedingt dort hingehen, um es sich anzusehen. Er verabschiedete sich von Mrs. Parsons und ging zur Tür. Aber er war noch keine sechs Schritte den Gang hinuntergegangen, als ihn etwas qualvoll schmerzhaft im Nacken traf. Es war, als hätte man ihm einen rot glühenden Draht ins Genick gestoßen. Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Mrs. Parsons ihren Sohn zurück in die Wohnung zerrte, während der Junge eine Schleuder in die Tasche einsteckte.

      »Goldstein!«, brüllte der Junge, als sich die Tür schloss. Was Winston jedoch am meisten betroffen machte, war der Ausdruck hilfloser Angst auf dem gräulichen Gesicht der Frau.

      Zurück in der Wohnung ging er schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, wobei er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik vom Teleschirm war verstummt. Stattdessen las eine abgehackte Militärstimme mit einem gewissen brutalen Vergnügen eine Beschreibung der Waffenbestückung der neuen Schwimmenden Festung vor, die gerade zwischen Island und den Färöer-Inseln verankert worden war.

      Mit diesen Kindern, dachte er, musste die arme Frau ein schreckliches Leben haben. Noch ein Jahr, zwei Jahre, und sie würden sie Tag und Nacht nach Anzeichen von Parteiuntreue bespitzeln. Fast alle Kinder waren heutzutage schrecklich. Es war jedoch am schlimmsten, dass sie durch solche Organisationen wie die Spione systematisch zu unkontrollierbaren kleinen Wilden erzogen wurden, was in ihnen jedoch keinerlei Neigung erzeugte, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhing. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Übungsgewehren, das Brüllen der Parolen, die Verehrung des Großen Bruders – all das war für sie ein herrliches Spiel. Ihre gesamte Wildheit wurde nach außen gerichtet, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war fast normal, dass Menschen über dreißig Angst vor ihren eigenen Kindern hatten. Und das mit gutem Grund, verging doch kaum eine Woche, in der die Times keinen Bericht darüber enthielt, wie irgend so ein lauschender kleiner Petzer – Kinderheld war der allgemein verwendete Ausdruck dafür – eine kompromittierende Bemerkung aufgeschnappt und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

      Der von der Schleuder verursachte Schmerz war abgeklungen. Winston griff halbherzig seinen Federhalter und fragte sich, ob ihm wohl noch etwas für sein Tagebuch einfallen würde. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.

      Vor Jahren – wie lange war es her? Sieben Jahre mussten es sein – hatte er geträumt, dass er durch einen stockdunklen Raum ging. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er vorbeiging, gesagt: »Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.« Dies wurde sehr leise, fast beiläufig gesagt – eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne stehen zu bleiben. Merkwürdig war, dass die Worte damals im Traum keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und nur allmählich schienen sie an Bedeutung gewonnen zu haben. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, ob er O’Brien vor oder nach dem Traum zum ersten Mal gesehen hatte, und er konnte sich auch nicht mehr erinnern, wann er die Stimme zum ersten Mal als die von O’Brien identifiziert hatte. Aber auf jeden Fall war diese Identifikation erfolgt. Es war O’Brien, der aus der Dunkelheit zu ihm gesprochen hatte.

      Winston hatte nie sicher sein können – auch nach dem flüchtigen Blickkontakt von heute Morgen konnte er dessen nicht sicher sein –, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war. Das schien nicht einmal allzu wichtig zu sein. Zwischen ihnen herrschte ein Einverständnis, das wichtiger war als Zuneigung oder Parteizugehörigkeit. »Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur, dass es auf die eine oder andere Weise wahr werden würde.

      Die Stimme aus dem Teleschirm brach ab. Ein Trompetensignal schmetterte klar und schön in die stille Luft. Die Stimme fuhr krächzend fort:

       Achtung! Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben hat uns eine Sondermeldung von der Malabar-Front erreicht. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin befugt zu berichten, dass durch diese militärische Operation das Kriegsende sehr wahrscheinlich in greifbare Nähe rückt. Es folgt die Sondermeldung –

      Da muss noch irgendwas Schlechtes nachkommen, dachte Winston. Und in der Tat folgte auf eine blutrünstige Schilderung der vollständigen Vernichtung einer eurasischen Armee, bei der riesige Zahlen von Toten und Gefangenen genannt wurden, die Ankündigung, dass ab nächster Woche die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werden würde.

      Winston rülpste erneut. Der Gin verlor an Wirkung und hinterließ ein hohles Gefühl. Der Teleschirm spielte nun lauthals »Ozeanien, du allein« – vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht um die Erinnerung an die Schokoladenkürzung