Aus der Sicht der Fremden. Maria von Hall

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Название Aus der Sicht der Fremden
Автор произведения Maria von Hall
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958408418



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Unzufriedenheit hatte Monat für Monat zugenommen, und als die Regierung Polens im Herbst 1981 wieder die Preise für die Lebensmittel erhöhen wollte, gingen die Menschen im Land auf die Barrikaden. Die ersten Unruhen gab es in der Helling in Danzig unter Lech Walesa, der eine freie und unabhängige Gewerkschaft, die „Solidarnosc“, gründete.

      Damit hat er in Polen eine gewaltige Volksbewegung ausgelöst. Das war der erste Aufstand gegen das sozialistische Regime, nicht nur in Polen, sondern überhaupt in ganz Europa!

      Am 13. Dezember 1981, einem Sonntag, ging ich wie immer in der Früh ins Bad und schaltete um 06:00 Uhr das Radio an. Was ich da hörte, ließ meinen Atem stocken. Wir hatten Krieg! Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich realisieren konnte, dass die polnische Regierung einen Bruderkrieg in Kauf nahm. Wie ich später erfahren habe, war der Krieg schon in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember per Radio proklamiert worden.

      Ich konnte die Stunden bis Montag nicht abwarten. Ich machte mich gleich am Montagmorgen auf den Weg ins Zentrum, um zu sehen, was sich in der Stadt tat. Ich eilte voller Angst und mit pochendem Herzen die Hauptstraße entlang zum Rathaus. Und tatsächlich, das, was ich da sah, war überwältigend! Der riesige Platz vor dem Rathaus wurde belagert. Die Menschenmenge war in Bewegung und redete laut. Ich blieb in der engen, kurzen Straße, die zum Platz führte, stehen – in das Gedränge wollte ich nicht hinein. Plötzlich merkte ich, dass die Straße hinter mir auch schon voller Menschen war und um mich herum wurde es eng. Ich wollte mich schnell zurückziehen, aber es gab keine Möglichkeit mehr. Ich wurde zusammengedrückt und in diesem Moment habe ich das Bewusstsein verloren. Ich wachte im Krankenhaus auf, wo mir ein junger Arzt sagte, dass an diesem Vormittag noch sehr viele weitere Menschen in das Krankenhaus eingeliefert worden waren und dass alle Geschäfte heute geschlossen blieben. Die Stimme des netten Arztes war von tiefem Mitgefühl erfüllt. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Die Angst saß mir weiterhin im Nacken und ich wählte die kleinen Nebenwege, die mich parallel zur Hauptstraße nach Hause führten.

      An diesem Tag konnte ich nichts einkaufen, ich bin nach diesem beängstigenden Erlebnis mit leeren Händen nach Hause zurückgekommen.

      Am nächsten Tag ging ich wieder frühmorgens in die Stadt, um einzukaufen. Das Bild, das sich mir nun bot, war ungewöhnlich. Die Mitte des Platzes war zwar frei, aber vor jedem Geschäft war eine unglaublich lange, doppelte Schlange und vor der Tür des Metzgers, der Molkerei und des Lebensmittelgeschäfts stand jeweils ein Soldat mit einem Gewehr auf der Brust! Die Menschen standen still und ich stellte mich am Ende der Schlange dazu. An diesem Tag konnte ich auch nichts kaufen, weil die Lieferung so knapp gewesen war, dass nur wenige Personen von dem kleinen Angebot Gebrauch machen konnten. Außerdem waren die Regale in allen Geschäften leer! Um etwas Essbares zu bekommen, bin ich dann jeden Tag früher aus dem Haus gegangen. Vor der Molkerei stand ich einmal eineinhalb Stunden in der Schlange und habe nur noch 250 Gramm Quark bekommen, der auch rationiert wurde. Die Milch und der gelbe Käse waren schon ausverkauft. Es gab nichts anderes mehr. Meine 16-jährige Tochter, die glaubte, nicht ohne Fleisch auskommen zu können, hat dann die Initiative ergriffen. Sie hat sich den Wecker am Abend auf 03:00 Uhr

       gestellt, ist schlafen gegangen und tatsächlich um 03:00 Uhr aufgestanden, um sich beim Metzger in die Schlange zu stellen. Hier gab es aber auch keine Auswahl; die Lappen, die auf den Haken hingen, waren nur für die Suppe geeignet und die Schlange vor dem Metzger war lang! Ich habe meine Tochter still bewundert, sie fürchtete den Weg zu der frühen Stunde nicht.

      ***

      Zur Zeit des Bruderkrieges haben meine Schwester und ich uns weiterhin regelmäßig Briefe geschrieben. Sie wollte genau wissen, wie es uns geht, und ich war auch auf ihre neue Heimat neugierig, in der sie seit 1968 lebte. Ihr Mann als Ingenieur hatte damals sofort eine gute Stelle in München bekommen, sie waren beide mit ihren Zukunftsaussichten zufrieden. Toni hat mich in dieser Zeit finanziell unterstützt, vier Mal im Jahr überwies sie mir 150 DM. Ohne ihre finanzielle Hilfe wäre es für uns drei kritisch geworden und mein Herz hätte geblutet, hätte ich meine Töchter in die Fabrik statt auf ein Gymnasium schicken müssen.

      Eines Tages, das war schon im Sommer 1982, habe ich von meiner Schwester, die mit ihrem Mann in Urlaub in Italien weilte, eine Postkarte bekommen. Sie haben schon damals einen Wohnwagen gehabt und sind jedes Jahr nach Italien gefahren. Auch dieses Mal waren sie schon dort und warteten auf den Besuch von ihrem Sohn. Dieser hatte Polen mit fünf Jahren verlassen, war inzwischen zwanzig Jahre alt und in München bei der Bundeswehr bei der Radarüberwachung tätig. Er bekam einen Kurzurlaub und wollte ihn mit den Eltern am Meer verbringen. Die Freude darüber wie auch über das schöne Wetter und den sonnigen, sauberen Strand war groß.

      Ich freute mich sehr über die guten Nachrichten.

      ***

      Nachdem ich die Postkarte erhalten hatte, habe ich monatelang nichts mehr von meiner Schwester gehört. Dann, eines Tages, habe ich einen langen Brief erhalten. Dieser brachte aber keine guten, erfreulichen Nachrichten. Er war ausführlich und voller Kummer um den einzigen Sohn. Dieser hat wie geplant seinen Kurzurlaub mit den Eltern am Meer verbracht. Nach dem ersten Bad im Meer zeigte er seiner Mutter seine Achseln, die ihm Sorgen machten. Meine Schwester tastete sie ab und stellte auch fest, dass die Lymphdrüsen verdächtig hart und geschwollen waren. Nach dem zweiten Bad klagte er schon über Schmerzen in den Lymphdrüsen. Als er dann zurück nach München zu seiner Einheit musste, hat er den Eltern versprochen, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Die Eltern waren aber dermaßen beunruhigt, dass sie sich dazu entschließen, den Urlaub zu unterbrechen. Sie packten ihre Sachen zusammen und fuhren mit dem Wohnwagen auch gleich nach München zurück. Die weitere Nachricht im Brief war erschreckend, sie haben ihren Sohn nämlich auf einer Krebsstation im Krankenhaus im Münchener Stadtteil Schwabing vorgefunden. Die Blutuntersuchungen waren noch nicht abgeschlossen und weder er noch die Eltern ahnten, was da auf sie zukommen würde. Dann kam die schreckliche Diagnose: Leukämie! Ich konnte zwischen den Zeilen dieses Briefes spüren, wie verzweifelt meine Schwester und mein Schwager waren. Dem Sohn ist es nicht anders ergangen. Man verordnete ihm eine Therapie, die nach dem neusten Stand der Wissenschaft zusammengestellt worden war. Sie bestand aus zwei Therapiestufen, den Verlauf steuerte ein Computerprogramm. Nach der ersten Stufe durfte er zur Erholung nach Hause gehen. Toni hat ihren Sohn zu sich genommen, obwohl er damals schon verheiratet war. Als er dann zurück ins Krankenhaus kam, stellte er fest, dass viele Betten nicht mehr belegt waren. Er fragte nach und erfuhr, dass die Zimmergenossen verstorben waren.

      In der zweiten Behandlungsphase ist es ihm von einem Tag auf den anderen immer schlechter ergangen. Als er dann so schwach wurde, dass er nicht mal mehr die Treppe hinaufsteigen konnte, leistete er Widerstand und verweigerte die beiden letzten Spritzen. Die Ärzte standen um sein Bett herum und wollten ihm klar machen, dass eine weitere Therapie nötig sei. Aber Tonis Sohn blieb bei seiner Entscheidung, die ihm letztendlich das Leben gerettet hat. Bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus konnte er nichts mehr essen, selbst Kamillentee hat er ausgespuckt. Seine Organe versagten und als Nebenwirkung der „Therapie“ bekam er eine schwere Hepatitis. Er war physisch und psychisch am Ende seiner Kräfte. Bei seiner Entlassung war sein Zustand mehr als Besorgnis erregend und er wurde als schwieriger Patient abgestempelt. Nach ärztlicher Diagnose war die Überlebenszeit nur noch sechs bis sieben Monate. Diese Prognose hatte man im Beisein der Eltern und seiner Frau ausgesprochen. Letztere, hat ihn anschließend verlassen und die Scheidung eingereicht mit der Begründung, dass sie nicht mit einer lebenden Leiche leben will.

      Der Inhalt dieses Briefes war für mich erschreckend. Mein Neffe tat mir wahnsinnig leid. In meiner Erinnerung als Fünfjähriger war er immer gut gelaunt und zufrieden und ohne jede kleinste Forderung an das Leben.

      Danach hofften die Eltern, dass ihr Sohn in der Natur neue Lebenskraft erfahren möge. Erst haben sie sich alleine auf die Suche gemacht, um einen Stellplatz für ihren Wohnwagen zu finden. An vielen Orten haben sie nachgefragt, aber keinen gefunden. Als sie dann bei dem letzten Campingplatzbesitzer auch keinen Platz gefunden haben, wollten sie schon aufgeben und zurückfahren. Der Wirt war aber ein empathischer Mensch und merkte, dass die beiden traurig waren, was nicht typisch für Urlauber war. Er fragte nach, was der Grund dafür sei. Meine Schwester war schon am Gehen, da drehte sie sich nochmal um und sagte, dass sie ihren todkranken