Wahrheit oder Sylt. Jacob Walden

Читать онлайн.
Название Wahrheit oder Sylt
Автор произведения Jacob Walden
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268087



Скачать книгу

Paroli bieten konnte.

      Obwohl Karsten wusste, dass ein Großteil von Westerland aus hässlichen Wohnsilos aus früheren Jahrzehnten bestand, hatte er nach Lorenz’ Erzählungen eine romantische Vorstellung von der Klinik gehabt. Er stellte sich diese glücklich machende Asthmaklinik wie einen alten Bauernhof vor, umgeben von einigen in den Dünen verstreuten reetgedeckten Häuschen und selbstverständlich direkt am Strand gelegen. Doch dann sagte Lorenz plötzlich vor einem mehrgeschossigen rostroten Zweckbau in einer stinknormalen Nebenstraße mitten in Westerland, Karsten solle anhalten, sie wären da. Lorenz hatte noch immer sein seliges Grinsen im Gesicht. Er lief vorneweg, konnte es kaum erwarten, ein asphaltierter Weg, volle Fahrradständer, Dünen, dann Treppen, und dann fegte der Anblick alle Bedenken und schlechten Gefühle weg.

      Die gleißende, von Meer und Strand reflektierte Nachmittagssonne ließ sie die Augen zusammenkneifen und die Hände schützend an die Stirn legen. Hier roch es nun auch tatsächlich intensiv nach Meer, sauber, feucht und salzig. Ehrfürchtig blieben sie stehen.

      »Was wollt ihr denn nun? Rein oder raus?«, hörte Karsten eine Stimme neben ihm.

      »Ich mach das schon«, beeilte sich Lorenz zu sagen und gab der schlecht gelaunten Frau, die sich aus der Dunkelheit eines hölzernen Kabuffs gemeldet hatte, einen Zehneuroschein.

      »Das reicht nicht«, sagte sie.

      »Oha«, lachte Lorenz und reichte ihr noch einen Zehner.

      »Eintritt für den Strand?«, fragte Miriam ungläubig.

      »Kurtaxe«, erklärte er. »Das nehmen die hier ganz genau.«

      Über die wenigen Stufen einer Holztreppe stiegen sie hinab zum Strand, stapften barfuß durch den warmen weichen Sand und ließen sich neben den Resten einer Strandburg nieder, die von der nahenden Abendflut bald vollends weggespült werden würde. Eine Gruppe Kinder tobte um zwei Volleyballnetze herum, die am Strand aufgestellt waren. Zwei Frauen mit sonnengegerbten Gesichtern standen am Rand. Mit stoischem Blick ließen sie die Kinder gewähren.

      »Na, willst du nicht deinen Kindergärtnerinnen hallo sagen?«, stichelte Karsten in Lorenz’ Richtung. Er ignorierte es.

      »Wer als Erstes …«, rief Franziska, aber Miriam und Lorenz waren schon losgerannt wie aufgekratzte Kinder. Karsten hatte es gar nicht bemerkt, dass sich die anderen in Windeseile umgezogen hatten, während er noch immer mit der Badehose in der Hand das Meer anstaunte, überwältigt. So lange war er nicht mehr am Meer gewesen.

      Mit beeindruckender Wucht brandeten die Wellen an den Strand, brachen und zerliefen dann schaumig und ohne Hast über den glattgewalzten Sand. Woher kam bei so ruhigem Wetter dieser Wellengang? Vielleicht war das hier immer so. War Sylt nicht genau dafür bekannt und beliebt? Schwere See, dachte Karsten plötzlich, schwere See, mein Herz. Dieses alte Lied von Element of Crime. Heilte das Meerwasser nicht Wunden? Konnte die Nordsee auch in einem drin alles rund und weich und glatt spülen wie die kleinen Scherben und Holzstückchen, die man an Stränden wie diesem finden konnte?

      Franziska und Miriam quietschten, Lorenz und Karsten brüllten, das Wasser, kalt für diesen endlosen heißen Sommer, kälter als erwartet, prickelte wunderbar auf der Haut. Die dunklen Gedanken verschwanden, als wären sie nie da gewesen. Sie blieben so lange im Wasser, bis sie Gänsehaut hatten, tauchten immer wieder durch die Wellen und wurden von ihnen zurück an den Strand getrieben. Sie ließen sich lang im Sand ausgestreckt von der Sonne trocknen und wieder aufwärmen. Gegen halb sieben brachen sie auf, um das Ferienhaus von Matzes Familie zu suchen. Sie taten es ein wenig widerwillig.

      22

      Westerland/Sylt. Nordseeklinik

      Danach

      Die Mauern der Klinik haben die Hitze der letzten Wochen gespeichert. Jenseits der Automatiktüren ist die Luft dagegen überraschend kühl und feucht. Es rauschen der Wind und das Meer, es muss ganz nah sein, vor dem tiefblauen Abendhimmel ein paar Möwen, kreischend. Es dämmert.

      Karstens Augen scannen die geparkten Autos. Er braucht keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass sein Auto nicht im Innenhof der Klinik steht. Was nun?

      Karsten muss sich zwingen, nicht loszurennen. Bloß nicht auffallen, ganz langsam gehen, egal wohin, Hauptsache weg. Haben sie auf Station schon bemerkt, dass er abgehauen ist? Suchen sie bereits nach ihm?

      Er erreicht einen schmalen Mauerdurchlass, dahinter ein gläserner Unterstand. Ein übervoller Aschenbecher qualmt bedrohlich vor sich hin. Zwei Männer um die 70, unrasiert, schmuddelige Bademäntel, ausgetretene Hausschuhe. Sie verstummen mitten im Satz und starren ihn an. Er nickt. Einfach weitergehen.

      Ein Nebengebäude, heruntergekommen, Fahrräder in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Ein dickes Mädchen in weißer Schwesternkleidung rennt aus der offen stehenden Tür und in Karsten hinein. Eine Entschuldigung murmelnd, hetzt sie weiter.

      Als Karsten die Straße erreicht und auf dem breiten Radweg steht, hat er das Gefühl, bereits einen Marathonlauf hinter sich zu haben. Ein Polizeiwagen nähert sich von links. Karsten wendet sich nach rechts und biegt nach wenigen Metern erneut rechts ab auf einen asphaltierten Fahrweg. Hinter ihm rauscht der Polizeiwagen ohne zu bremsen vorbei.

      In dem schmucklosen Neubau auf der rechten Seite des Weges, hinter einem der jalousiebewehrten Fenster im ersten Stock des Krankenhauses, muss er gerade noch gelegen haben. 200 Meter weiter leuchtet etwas hell in den Nachthimmel hinauf, gegenüber erkennt Karsten die Kiefern, die er durch die Lamellen der Jalousie gesehen hat.

      Miriam. Hinter welchem Fenster ist sie? Vielleicht würde sie ihm sagen können, was in der letzten Nacht passiert ist. Aber auch wenn nicht, muss er sie da rausholen. Wenn er abhauen muss, muss sie es doch genauso!

      Wer hat sie an dieser Bushaltestelle bewusstlos abgeladen, mitten in der Nacht, wie illegalen Sperrmüll? Das wird Miriam wahrscheinlich auch nicht wissen. Eigentlich müssen es ja die anderen gewesen sein. Aber warum? Oder ist alles ganz anders gewesen? Ist Miriam mit ihm zusammen weggegangen, geflohen sogar? Sind sie vielleicht sogar selbst in das Wartehäuschen der Bushaltestelle gegangen und dort einfach eingeschlafen? Aber warum in Wenningstedt?

      Der Fahrweg endet an einem weiteren Radweg, dahinter Dünen. Von Westen aus betrachtet sieht die Klinik eher wie ein Hotel aus. Balkon an Balkon, weiße Handtücher über den Brüstungen, träge flatternd im Wind. Das Meer rauscht hier noch lauter von jenseits der Dünen.

      An der nächsten Ecke stößt Karsten erleichtert auf eine große Freifläche, rechts die Klinik, links wieder ein Wäldchen. Der Platz ist komplett zugeparkt. Schon in der ersten Reihe, am westlichen Rand des Platzes, unter der tief hängenden Krone einer windschiefen Schwarzkiefer, findet er den Audi. Er kann gar nicht schnell genug die Fahrertür öffnen. Er lässt sich auf das zerschlissene Leder des Fahrersitzes fallen und atmet die stickige wunderbaumaromatisierte Luft ein. Eine warme Welle vertrauter Geborgenheit überschwemmt ihn und schwappt als Tränen in seine Augen, die er mit dem Handrücken beiseite wischt.

      Er öffnet das Handschuhfach. Er hat gehofft, sein Handy dort zu finden, aber da ist nichts.

      Was auf Sylt passiert, bleibt auf Sylt. Er sieht hoch und betrachtet die Kiefernzweige, die über die Windschutzscheibe wischen. Woher kommt jetzt dieser Satz? Er schüttelt den Kopf, und dann sieht er es plötzlich wieder deutlich vor sich, als habe jemand ein Fenster geöffnet.

      23

      Hörnum/Sylt. Süderende

      Davor

      Die Straße muss eine der schönsten der Welt sein, dachte Karsten, irgendwo musste es eine Liste geben, und auf dieser Liste der schönsten Straßen würde diese Straße zwischen Rantum und Hörnum ganz weit oben aufgelistet sein.

      Schnurgerade zog sich das Asphaltband im gleißenden Sonnenlicht durch einsame Dünenlandschaft. Immer wieder blitzte blau das Meer zur Linken auf. Der Strandhafer, oder wie die Dünenpflanzen auch immer heißen mochten, wirkte wie ausgeblichen, was der Szenerie einen surrealen Hauch verlieh. Mitten im Nichts passierten sie eine ausgeschaltete Ampel und kurz danach einen