Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser

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Название Schaurige Orte in der Schweiz
Автор произведения Christof Gasser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267882



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wie die Liebe.« Und dabei hatte sie ihm zugezwinkert. Eine eindeutige Einladung, wie er fand. Was sie aber nicht gemeint hatte.

      Karin, denkt Steffen, feuerrot wie die Feuerwehr. Er drückt die Beine durch, spürt, wie die Kraft in seine Muskeln schießt, und sieht, wie sein Vorderrad fast wie von selbst durch das Wasser pflügt. Endlich. Die Straße wird flacher. Und plötzlich ist das Hinterrad von Greg weg. Nach rechts abgebogen auf einen Parkplatz.

      »Komm!«, ruft der Untergebene seinem Chef zu, der viel hilfloser ist, als er es gerne zugeben möchte, und zieht ihn mit zu einem Haus auf der anderen Straßenseite. Ein Grotto. Wärme, Licht und Leute. Summende Geschäftigkeit. Die Regale voller Flaschen für Kunden aus der benachbarten Schweiz. Steffen überlässt Greg die Verhandlungen und stellt sich neben einen Elektroofen, der angenehme Wärme verbreitet.

      Sie trinken Espresso und Grappa, stecken sich noch eine kleine Flasche Kräuterschnaps für später in die Trikottasche und verlassen das Lokal.

      Das Unwetter hat etwas nachgelassen und ist in einen erträglichen Landregen übergegangen. Die Straße ist nun wieder besser befahrbar. Der Grappa wärmt den Bauch, der Kaffee gibt dem gesamten Organismus einen Kick, sodass sie nun wieder besser vorwärtskommen. Bald erreichen sie die Grenze. Weiter hinauf geht die Fahrt gegen Bondo, den Ort, an dem sich am 23. August 2017 ein enormer Bergsturz mit Murgang ereignete. Steffen hatte das Ereignis und seine Folgen am Fernseher verfolgt, sah, wie große Baumaschinen die Geröll- und Schlammmassen beiseite räumten, wie verängstigte Anwohner um ihre Sicherheit fürchteten.

      Bei der Talfahrt am späten Vormittag war ihm die lange Betonbrücke über das Auffangbecken nicht aufgefallen, sie waren auf der alten Straße durch Promontogno gefahren und hatten im Garten beim Hotel Bregaglia einen Kaffee getrunken. Das Hotel sei, erklärte Greg, eine Zwischenstation für die erholungssuchenden Feriengäste auf dem Weg ins Engadin gewesen. Ein Ort, um sich zu akklimatisieren. Das würde Steffen jetzt auch gerne. Sich ein Zimmer nehmen und sich akklimatisieren. Stattdessen fährt er weiter aufwärts und hofft, dass die Schinderei irgendwann vorbei sein würde.

      Eine Verbotstafel am Straßenrand weist darauf hin, dass diese Strecke für Fahrräder gesperrt ist. Greg kümmert sich nicht darum. Im Nieselregen wirkt das Betonband wie eine Hängebrücke, die über einem Meer von Händen schwebt, die nach ihr greifen. Als Steffen aus dem Sattel geht, um besser sehen zu können, hört er die Klagen der toten Wanderer, die weit oben im Tal von den Schlammmassen mitgerissen und nie gefunden wurden. Er sieht, wie die Hände aufsteigen, das Geländer der Brücke packen und sie hin- und herschwingen, sodass eine Pendelbewegung entsteht. Hin und her, dass sich die gesamte Fahrbahn verdreht und ihm schlecht wird davon.

      Steffen würde am liebsten absteigen und über das Geländer kotzen, doch da ist Greg, der regelmäßig kurbelnd an der Spitze fährt, ungerührt auf seinem Rennrad sitzt, als würde er sich an einer großen Rundfahrt für den Schlussspurt bereitmachen. Vor diesem Mann kann und darf er keine Schwäche zeigen. Natürlich sollte auch Karin nicht erfahren, dass er die Nerven verloren hat wegen ein paar Toten, die bei schönstem Wanderwetter hinweggefegt wurden. Euer Pech, denkt Steffen und weicht einer Hand aus, die auf der Fahrbahn liegt und nach seinem Rad greift.

      Wieder macht die Brücke eine Pendelbewegung, er muss ausweichen, um nicht zu stürzen. Ausweichen nach links auf die Gegenfahrbahn, weil es eben nicht anders geht, sonst ist ein Sturz über die Leitplanke ins Meer der Hände nicht abzuwenden.

      Da, Hupen, ein dunkler Wagen, der auf ihn zurast, von oben herunter aus dem Tunnel geschossen kommt, als hätte ihn ein Riese hinaus in den Regennachmittag katapultiert. Das Gesicht einer Frau, verkrampfte Hände am Steuer, wehendes Haar. Die Scheinwerfer strahlen in seine Richtung. Sie will ihn erwischen, unter dem vielen Blech begraben, denn sie ist die Rächerin, die sich die herumstreunenden Opfer holt. Lisa, Lara, denkt er, das war es also mit uns. Und mit Karin und all den anderen Frauen.

      Im letzten Moment schwingt die Brücke zurück, zwingt ihn zu einer Lenkbewegung nach rechts, die ihm das Leben rettet, was die Frau mit einem wütenden Hupen quittiert. Greg schaut zurück, macht eine Handbewegung und schüttelt den Kopf. Ist er wütend, weil er so unkonzentriert fährt? Oder einfach nur froh, dass ihm ein Haufen Scherereien erspart geblieben sind?

      Eigentlich dürften sie mit ihren Rädern auch nicht durch den Tunnel, doch es ist der schnellste Weg in den oberen Teil des Bergells. Durch die Betonröhre zieht und pfeift es, ein Lied, das die Toten zurückruft und die Lebenden auffordert, sich im Zwischenreich zu ihnen zu legen. Steffen würde sich nur allzu gerne zu Lisa legen, die ihm aus dem Feuer zuwinkt. Er möchte Lara umarmen, die lachend über einen Knochenhaufen springt. Ja, seine beiden Weiber treiben es bunt, seit er nicht mehr da ist. Trieben es damals auch schon, als er noch das Sagen hatte in der Dachwohnung mit Seeblick, nur dass er es nicht mehr sah mit seinen Scheuklappen.

      »Du bist für mich gestorben«, sagte Lisa, als er auszog, gezwungenermaßen mit eingezogenem Kopf. »Viel Spaß im Fegefeuer!« Nun muss allerdings sie in der Hitze herumtanzen nach diesem tragischen Autounfall.

      Tunnelende. Klare Sicht. Frische Luft. Zwei Kurven, dann sind sie beim steinernen Kuss, bei zwei Felsblöcken, die gegeneinanderlehnen und einen Durchgang für die Autos bilden.

      »Küss mich mit deinen feuerroten Lippen!«, hatte er zu Karin gesagt, oder es gedacht, als er sie berührte, ihre Wärme spürte, ihre Hüften, was ihm einen Schauer durch den Körper jagte. »Küss mich und bleib ewig nah bei mir!«

      Der Moment war flüchtig, eigentlich wie zufällig, wenn auch durch ihn herbeigeführt im engen Durchgang zwischen der Rezeption und den Büros dahinter. Steffen hatte gewartet, bis Karin ihm die Post brachte, ging an ihr vorbei hinaus, entschuldigte sich, als hätte er sie erst jetzt bemerkt, atmete den Geruch ihres Parfums und ihrer Haare ein. Eine kurze Berührung, knisternder Stoff und die Härte, die sich augenblicklich in seinem Schritt bildete. Wohin mit all diesen Empfindungen? Die Hand an ihrer Hüfte, kurz und brennend. Ihr Blick. Verzweifelt oder lustvoll? Und was spielte das für eine Rolle, wenn er sie begehrte?

      Stampa und Borgonovo bemerkt Steffen kaum, so rasend ist der Schmerz. Es zieht ihn innerlich zusammen, seine Rippen werden von Drähten zugeschnürt, sodass er kaum atmen kann, so als verwandelte er sich Zentimeter für Zentimeter in eine der mageren Figuren des Bildhauers Alberto Giacometti, der hier geboren wurde und auf dem Friedhof liegt, an dem sie vorbeiradeln. Ein lang gezogener Kopf, die Wangen eingefallen, das Kinn spitz und Finger, die kaum von Fleisch bedeckt sind und sich voller Angst an den Lenker krallen.

      Steffen greift nach hinten, da ist die Flasche mit dem wohltuenden Kräuterschnaps. Medizin, bitter und stark. Ein erster Schluck treibt die Geister in die Wiesen hinaus, ein zweiter holt die roten Lippen zurück und ein dritter hilft gegen die Verzweiflung an diesem nie enden wollenden Pass.

      »Wir fahren durch Vicosoprano«, entscheidet Greg und biegt von der Kantonsstraße ab.

      Es ist kaum zu glauben, dass es in diesem Tal auch ebene Flächen gibt. Die Häuser des Dorfes stehen eng zusammen, beugen sich über sie und bilden enge Schluchten. Das Kopfsteinpflaster schüttelt sie durch. Greg erzählt von Hexen, über die hier gerichtet wurde, zeigt ihm den Pranger und beschreibt die Schmerzen, die die Verurteilten unter der Folter spürten.

      »Das Tal ist verflucht«, sagt Greg am Ortsausgang. Vielleicht denkt das Steffen auch nur, als sie endlich das freie Feld erreichen und den Abhang vor sich sehen.

      »Verflucht ist nur die nächste Steigung«, versucht Steffen, einen Scherz zu machen. Seine Stimme klingt nach Schnaps und hohlen Phrasen.

      Wieder einige lang gezogene Kehren, erst an Maiensäßen vorbei, dann führt die Straße durch den Wald. Die Rampe, die hinauf nach Casaccia führt, erkämpft Steffen mit leerem Blick. Es ist der Versuch, ohne jeden Gedanken an irgendwas und irgendjemanden aufwärtszufahren, weil der Alkohol hilft oder betäubt oder stumpf macht. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Ich vermisse euch! Ich wollte nicht, dass euch etwas passiert.

      Der Regen hat aufgehört. Weit oben der fast wolkenlose Abendhimmel. Ein kalter Wind bläst von den Gipfeln talabwärts, trocknet ihre Trikots, kühlt die Haut und das darunter liegende Fleisch. An eine Jacke hatte Steffen nicht gedacht, er wollte nur schnell den Pass