Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser

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Название Schaurige Orte in der Schweiz
Автор произведения Christof Gasser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267882



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jener Stelle, an der die Telephonleitung nunmehr als unterirdisches Kabel verlegt ist. Sie konnten bis dahin keinen Schaden an der Leitung feststellen. Da wurden die Träger stutzig: Sie ahnten, dass droben im Observatorium etwas passiert ist. Rasch wurden die Schneeeisen an die Füße geschnallt und nach herben Mühen die Säntisspitze erreicht. Das Rufen der Namen des Ehepaars Haas verklang unbeantwortet. Nur das Winseln des Hundes Sturm war von drinnen zu vernehmen. Erwartungsvoll, von bangen Zweifeln gequält, öffneten sie die Tür des Beobachtungshäuschens. Doch welch Anblick wurde ihnen zuteil! Mitten in einem wüsten Durcheinander lag Frau Haas, bleich und blutbefleckt. Vorsichtig und behutsam sichteten die beiden Männer alle Räumlichkeiten, tasteten sich schließlich durch den unterirdischen Gang zum Windmesserhäuschen empor. Alles leer! Mit einem Spreizschritt waren sie im Freien. Da – wer beschreibt ihr Entsetzen – kaum 20 Meter unterhalb des Häuschens, auf der Toggenburger Seite, lag das zweite Opfer: Wetterwart Haas.

      Wie genau sich das schauerliche Drama zugetragen hat, bleibt bis zur Festnahme des Mörders ein ungelüftetes Geheimnis. »Von hinten erschossen«, lautet kurz und knapp der ärztliche Befund über den gewaltsamen Tod des Heinrich Haas. Die Vermutung liegt nahe, dass der Mörder nach vollbrachter Tat sich der wehrlosen Frau erinnerte, die ihm zur Verräterin werden konnte. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Auch sie wurde meuchlings von hinten erschossen. Unten im Tal sind zwei unmündige Kinder zu Waisen geworden.

      Ich musste nicht lange suchen: Die Waffe lag in der untersten Schublade des Schreibtischs in Heinrichs Arbeitszimmer. Ein Browning, Kaliber 7,65. Ich nahm sie an mich. Bevor ich zurück ins Bett schlich, zerstörte ich die Telegraphen- und Telefonleitung – die einzige Verbindung zum Rest der Welt. Es war mitten in der Nacht. Niemand hat mich gehört.

      Am nächsten Morgen blieb ich lange in der kleinen Kammer liegen. Erst als ich vernahm, dass Heinrich das Zimmer verließ, um ins Windmesserhäuschen hinaufzusteigen, stand ich auf. Ich zog mich an, nahm die Waffe, überlegte mir genau, wie ich vorgehen musste. Heinrich würde eine Zeit lang beschäftigt sein. Lena war ein leichteres Opfer: Ich war sicher, dass sie mir alles geben würde, was sie besaß, wenn sie in den Lauf der Waffe blickte. Danach wollte ich sie in die Küche sperren, meine Beute und meine Sachen packen und zum Abstieg aufbrechen. So konnte ich mir genügend Vorsprung verschaffen. Heinrich würde Lena nach der Arbeit finden, doch Alarm schlagen konnte er nicht, die Leitung ins Tal war gekappt. Wohl würde er die Verfolgung aufnehmen, aber er ist nur halb so schnell wie ich. Keine Chance. Sobald der Heinrich im Tal ankäme, wäre ich längst über alle Berge.

      Es war ein guter Plan. Doch nichts lief so, wie ich es vorgesehen hatte. Wenn die Lena bloß nicht ein solcher Sturkopf gewesen wäre!

      Sie reagierte ruhig und gefasst, als ich die Waffe auf sie richtete. Sie wirkte nicht einmal überrascht. Ich forderte sie auf, mir all ihr Geld und allen Schmuck zu geben, sonst würden sie und Heinrich den Abend nicht mehr erleben. Aber dieses Weib zeigte keine Angst! Wütend herrschte sie mich an, ich solle endlich das Weite suchen. Doch so spricht man nicht mit mir, nicht sie, deren Mann mir mit hinterhältigen Lügen die Verlobte vertrieben und mich betrügerisch um meine Stelle als Wetterwart gebracht hatte. Lena weigerte sich, mir das eine oder das andere zu geben, sie nannte mich einen miesen Lump, die Schlampe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie sich zur Wehr setzt. Plötzlich ging alles blitzschnell. Sie drehte sich weg, griff nach einem Holzscheit neben dem Kamin und wollte es mir an den Kopf schleudern. Instinktiv duckte ich mich, gerade im rechten Augenblick, das Scheit knallte an die Wand, ich richtete mich auf, sie schrie, drehte sich erneut um, auf der Suche nach dem nächsten Holzstück.

      Ein Schuss löste sich.

      Vielleicht habe ich auch bewusst geschossen.

      Ich weiß es nicht, kann’s nicht mehr sagen heut. Es ging zu schnell. Womöglich war es ein Reflex, den Finger krümmen, eine leichte Berührung nur, es braucht nicht viel. Der Knall war schrecklich.

      Einen Moment lang war ich wie gelähmt. Sturm, der Hund, war verstört unter den Tisch gekrochen. Und Lena lag da, vor dem Fenster, regungslos. Der Kopf auf dem Stickrahmen, an dem sie zuvor gearbeitet hatte, der linke Arm über den rechten gekreuzt, die Beine leicht angezogen. Holzpantinen an den Füßen, eine Schürze mit weißen Punkten. Neben ihrem Kopf das Stehpult. Darüber an der Wand ein Abreißkalender. Der Zettel trug noch das Datum vom Vortag. Der Blick in das Zimmer zeigte mir ein irreales Bild, ein abstraktes Gemälde, dessen Inhalt ich zwar erkannte, aber nicht verstand.

      Nie werde ich den Anblick vergessen.

      Auch nicht den Wirbelsturm von Gefühlen, der durch meinen Körper fuhr. Klar, da war zum einen die Panik – was hatte ich getan? Gleichzeitig verspürte ich Stolz, weil ich mir das nicht habe gefallen lassen, so springt man mit einem Kreuzpointner nicht um. Und dann spürte ich eine freudige Aufregung, Erregung fast, dass ich tatsächlich getan hatte, was ich mir nie zugetraut hätte, einen Menschen getötet, die Lena erschossen! Mein erster klarer Gedanke danach war: das Geld. Fast gleichzeitig erinnerte ich mich daran, dass da noch jemand war: Heinrich. Er durfte nicht sehen, was ich getan hatte. Ich musste verhindern, dass er zurückkommt. Im nächsten Augenblick funktionierte ich wieder: Ich würde auch Heinrich töten. Es gab keinen anderen Weg, wenn ich nicht am Galgen enden wollte.

      Hinter der Tür lag der Korridor, in den Felsen gehauen. Ich schlich durch den finsteren Tunnel. Es roch nach Feuchtigkeit. Ich stieg lautlos die abgetretenen Stufen zum Windmesserhäuschen hoch, öffnete das kleine Türchen nach draußen so leise, dass der Wind das Geräusch verschluckte. Da vorne im Schnee stand er. Heinrich. Ich hatte Glück, er wandte mir den Rücken zu.

      Dieses Mal war es ganz einfach. Alles fällt einem leichter, wenn man es schon mal getan hat. Mit dem Töten verhält es sich nicht anders.

      Er hat mein Leben zerstört.

      Ich habe ihm sein Leben genommen.

      Bald werde ich ihm folgen.

      Neue Zürcher Zeitung,

      1. März 1922

      Unglücksfälle und Verbrechen.

      Zum Doppelmord auf dem Säntis. Die Legalinspektion der Leichen des ermordeten Ehepaares Haas wurde Montagvormittag im Krankenhaus Appenzell vorgenommen von den Amtsärzten Doktor Hildebrand aus Appenzell und Professor Doktor Bells aus St. Gallen. Haas wurde getötet durch einen Rückenschuss, der aus der Brust wieder austrat. Seine Frau erhielt einen Schuss in die Brust und das Geschoss blieb im Körper stecken. Es wurde bei der Obduktion gefunden. Zum Zwecke einer größeren Wirkung der Geschosse hat der ruchlose Mörder die Spitze der Kupfermantelgeschosse scharf angefeilt. Beide Schüsse trafen edle Körperteile: Lunge, Herzbeutel, große Schlagadern, sodass bei beiden Personen der Tod sofort eingetreten sein muss.

      Weiter ist zu berichten, dass der Mörder am Tatort Kabel an Telephon und Telegraph ausgestöpselt hatte. Die Verwüstung des Zimmers im Erdgeschoss des Observatoriums, in dem die tote Lena Haas gefunden worden ist, scheint nicht wie anfänglich vermutet durch einen Kampf verursacht worden zu sein, sondern durch den verzweifelten Hund Sturm, der mehrere Tage mit der Toten eingesperrt gewesen ist.

      Die Bestattung der beiden Opfer der grausamen Mordtat auf dem Säntis findet am Mittwochvormittag um einviertel zehn in Appenzell statt. Wer die beiden liebenswürdigen Säntiseinsiedler gekannt hat, wer ihnen, wie der Schreiber dieser Zeilen, im Leben nähergestanden, wird ihnen ein schönes Gedenken wahren über das Grab hinaus.

      Es war so still nach ihrem Tod. Am liebsten wäre ich einfach dortgeblieben. Aber das ging nicht. Früher oder später würde Säntisträger Rusch heraufsteigen, die Toten entdecken. Also machte ich mich bereit für den Abstieg. Ich wusste, dass ich ein paar Tage Vorsprung haben würde. Ich packte ein, was ich fand: wenig Bargeld, Schmuck, Heinrichs teure Uhr. Sturm, den Hund, hätte ich am liebsten mitgenommen. Ich sperrte ihn bei der toten Lena ins Zimmer ein.

      An den Abstieg erinnere ich mich nicht mehr. Mein Kopf war leer. Zurück im Tal dachte ich, dass jeder es mir ansehen müsste. Ich war nicht mehr derselbe Mensch. Ich war jetzt ein Mörder. Doch niemand merkte etwas. Sie grüßten mich, sie schwatzten mit mir, die Ahnungslosen. Aber ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Toten finden würden. Ich erinnerte mich an Lenas Telefonat, als sie vom »unliebsamen Gast«