Название | Guy de Maupassant – Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Guy de Maupassant |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962817695 |
Nein; sie wollte nicht hören, noch sich auch nur mit einer Fingerspitze berühren lassen. Sie stürzte in den Speisesaal; sie floh vor ihm wie vor einem Mörder. Sie suchte einen Ausgang, ein Versteck, irgend einen dunklen Winkel, um ihm auszuweichen. Sie kroch schliesslich unter den Tisch. Aber schon öffnete er, ein Licht in der Hand, die Türe, immer wieder »Johanna« rufend. Sie floh von Neuem wie ein aufgescheuchter Hase, stürzte in die Küche, rannte zweimal darin rings umher wie ein gehetztes Wild; und als er ihr dorthin nachkam, öffnete sie hastig die Tür zum Garten und flüchtete ins Freie.
Die eisige Berührung des Schnees, in dem sie mit ihren nackten Füssen oft bis an die Knie versank, flösste ihr plötzlich eine verzweiflungsvolle Energie ein. Trotz ihrer Blösse spürte sie keine Kälte; sie empfand nichts mehr ausser der beklemmenden Seelenangst. Weiß wie der Boden selbst rannte sie weiter. Sie verfolgte die gerade Allee, flüchtete durch das Bosquet, sprang über den Graben und rannte auf die Heide.
Der Mond war noch nicht zu sehen; die Sterne glänzten am dunklen Himmel wie Milliarden kleiner Lichter. Die Ebene aber lag hell und klar vor ihr, schmutzig weiß, starr und regungslos in ewigem Schweigen.
Atemlos rannte Johanna weiter, ohne zu überlegen, ohne zu wissen, was sie tat. Und plötzlich fand sie sich am Rand der Küste. Instinktiv blieb sie halten und kauerte sich nieder; sie war nicht mehr Herrin ihres Willens und ihrer Gedanken.
In dem finsteren Dunkel vor ihr strömte das unsichtbare schweigsame Meer seinen salzigen und mit dem Sumpfgeruch des Seegrases vermischten Duft aus.
Lange kauerte sie dort, geistig und körperlich wie gelähmt. Dann plötzlich begann sie zu zittern, aber es war ein eigentümliches Zittern, wie bei einem vom Winde hin und her gezerrten Segel. Ihre Arme, ihre Hände, ihre Füsse wurden wie von einer unsichtbaren Macht geschüttelt; sie wurden in heftigen Stössen hin und her geschwenkt. Plötzlich kehrte ihr Bewusstsein klar und deutlich zurück.
Bilder aus der Vergangenheit spiegelten sich vor ihrem Geiste wieder. Diese Fahrt mit ihm im Boote des Papa Lastique, ihre Plauderei, die beginnende Liebe, die Taufe der Bark. Sie griff dann weiter zurück bis auf den seltsamen Traum der ersten Nacht in Peuples. Und jetzt! ja jetzt? Ach! ihr Leben war vernichtet, jede Freude zu Ende, jede Hoffnung aussichtslos; vor ihr lag nur die furchtbare Zukunft mit all ihren Qualen, mit ihrer Enttäuschung und Verzweiflung. Lieber jetzt sterben! Dann war alles zu Ende.
»Hier, hier sind ihre Fussspuren; schnell, schnell hierher!« hörte sie plötzlich eine Stimme rufen. Es war Julius, der sie suchte.
Ach! sie wollte ihn nicht wiedersehen. In dem Dunkel vor sich hörte sie jetzt ein leichtes Geräusch, das unbestimmte Rauschen des Meeres am Fusse der Felsen.
Sie erhob sich, fest entschlossen sich herabzustürzen. Schon nahm sie Abschied vom Leben und seufzte verzweifelt das eine Wort aller Sterbenden, das eine Wort »Mutter«, mit dem der junge Soldat in der Schlacht sein Leben aushaucht.
Plötzlich trat ihr der Gedanke an ihr Mütterchen vor die Seele. Sie sah sie schluchzen, sah den Vater verzweifelt vor ihrer Leiche knien, sie erlitt einen Augenblick mit ihnen zusammen all ihr Leid und ihren Jammer.
Da sank sie langsam rückwärts in den Schnee. Sie rannte nicht mehr fort, als Julius und Papa Simon mit Marius, der eine Laterne trug, herbeikamen und sie bei den Armen greifend rückwärts zogen; denn so nahe war sie schon am Rand des Gestades.
Jene konnten mit ihr machen was sie wollten; denn sie rührte sich nicht mehr. Sie fühlte, wie man sie aufhob, dann wie man sie auf ein Bett legte und mit warmen Tüchern rieb. Schliesslich schwand ihr jede Erinnerung, jedes Bewusstsein.
Dann quälte sie ein Alpdruck. War es wirklich ein solcher? Sie lag in ihrem Zimmer. Es war lichter Tag, aber sie konnte nicht aufstehen. Warum nicht? Sie begriff es nicht. Sie hörte ein Geräusch auf dem Fussboden, ein Kratzen, ein Rascheln und plötzlich huschte eine Maus, eine kleine graue Maus, eiligst über ihre Decke. Bald folgte eine zweite, eine dritte, die sich mit ihrem kurzen schnellen Trippeln auf ihre Brust zu bewegten. Johanna hatte keine Furcht; sie wollte vielmehr das Tierchen ergreifen und streckte die Hand aus. Aber es gelang ihr nicht.
Dann kamen noch mehr Mäuse; zehn, zwanzig, hundert, tausend schienen aus dem Boden hervorzukommen. Sie kletterten haufenweise an den Tapeten empor; sie bedeckten ihr ganzes Bett. Bald drangen sie unter die Decke. Johanna fühlte, wie sie über ihre Haut krochen, über ihre Füsse huschten und an ihrem Körper emporkletterten. Sie sah sie vom Fussende des Bettes nach ihrer Kehle zu vordringen; sie wehrte sich verzweifelt, ballte die Hände, um eine zu ergreifen, aber ihre Hände blieben stets leer.
Entsetzt wollte sie fliehen, sie schrie, und es schien ihr, als ob man sie festhielt, als ob kräftige Arme sie umschlossen hätten; aber sie sah Niemanden.
Sie hatte keine Ahnung von der Zeit. Es musste lange, sehr lange gedauert haben.
Dann endlich hatte sie ein Erwachen, ein langsames Erwachen, wie aus einem totenähnlichen Schlafe; aber immerhin ein süsses Erwachen. Sie öffnete die Augen und war durchaus nicht erstaunt, ihr Mütterchen im Zimmer mit einem dicken Herrn sitzen zu sehen, den sie nicht kannte.
Wie alt war sie eigentlich? Sie wusste es nicht und hielt sich noch für ein ganz kleines Mädchen. Sie hatte jede Erinnerung verloren.
»Sehen Sie, das Bewusstsein kehrt zurück!« hörte sie den dicken Herrn sagen. Und Mütterchen begann zu weinen.
»Nur ruhig, Madame!« begann der dicke Herr wieder. »Ich stehe jetzt für alles ein. Aber sagen Sie nichts; sprechen Sie von nichts. Wenn sie nur schliefe!«
Und es schien Johanna, als ob sie noch lange so regungslos dagelegen hätte, von einem tiefen Schlummer befangen. Sie suchte sich auch gar nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, wie in einer unbestimmten Furcht, die Wirklichkeit vor sich auftauchen zu sehen.
Da, einmal, als sie erwachte, bemerkte sie Julius ganz allein bei ihr; und plötzlich kam ihr alles ins Gedächtnis zurück, als wenn ein Schleier gelüftet worden sei, der bis dahin die Vergangenheit bedeckt hatte.
Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte sie und sie wollte fliehen. Sie streifte die Decke ab und sprang zum Bett hinaus. Aber ihre Füsse trugen sie nicht und sie fiel hin, Julius sprang hinzu und sie begann zu heulen, dass er sie nicht anrühren solle. Sie wehrte sich und wälzte sich auf dem Boden hin und her. Da öffnete sich die Tür und Tante Lison stürzte mit der Witwe Dentu herein, gefolgt von dem Baron und endlich auch von der