Название | Die Frau am Dienstag |
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Автор произведения | Massimo Carlotto |
Жанр | Языкознание |
Серия | Transfer Bibliothek |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990371091 |
„Ach, Lissabon. Diese Sonnenuntergänge, diese Leidenschaft, diese Liebe, einfach verrückt“, sagte er immer wieder mit träumerischem Gesichtsausdruck.
Innerhalb der Pension zeigte Alfredo sich ausschließlich in Frauenkleidern, und über seine kurzen, schwarz gefärbten Haare stülpte er eine Perücke. Besonders liebte er ein Modell aus aschblonden, mehr als einen halben Meter langen Locken, das wie ein Wasserfall aussah und zu einem Vamp gepasst hätte.
Haare waren seine Leidenschaft. Er wechselte an einem einzigen Morgen dreimal die Perücke und war Stammkunde bei einer Modistin, die sich beruflich seit Längerem zurückgezogen hatte, aber immer noch mit goldenen Händen punktete.
Bonamente mochte ihn, warum, wusste er nicht so genau. Er erinnerte ihn an eine Tante, die er als Kind sehr gerngehabt hatte. Wie auch immer. Sein Vermieter war in seinen Augen wunderbar, sensibel und ausgesprochen freundlich. Die Pension Lisbona war sein Reich, das er höchst ungern verließ, weil er außerhalb der schützenden Mauern Männerkleider tragen musste.
„Ich habe Angst, einer Wahrheit ins Auge zu sehen, die ich seit jeher in mir trage. Nur kann ich mich heute nicht mehr wehren, nicht mal mit Worten.“
Bonamente verstand ihn. Toleriert wurde ein Transvestit höchstens dann, wenn er jung genug war, für eine Frau gehalten zu werden, mit der man erotische Fantasien verband. Unmöglich bei einem alten Mann in Rock und High Heels. Früher, als Alfredo noch „die Schöne“ genannt worden war, waren die Zimmer immer belegt gewesen. Da waren die Zimmer ausgebucht gewesen, vor allem mit Handlungsreisenden. Und er selbst hatte sich hingebungsvoll um seine Gäste gekümmert und sogar hin und wieder eine Nacht mit dem einen oder anderen verbracht. Nicht gegen Bezahlung, sondern aus echter Leidenschaft, versteht sich.
Seit mehr als fünfzehn Jahren wohnte der ehemalige Pornostar in Zimmer drei. Er hatte das langsame, stetige Ausbleiben der Gäste hautnah miterlebt. Allein Professor Federico Bassi aus Neapel, ein kluger Mann mit Sinn für Ironie, hielt der Pension die Treue. Er hatte Spanisch an der Universität unterrichtet und war häufig wegen beruflicher Verpflichtungen in die Stadt gekommen. Seit er allerdings in den Ruhestand getreten war, kam er bedeutend seltener in den Norden. Angeblich, weil seine Kinder keine Notwendigkeit darin sahen.
Dennoch bestand zwischen Bassi und Alfredo weiterhin eine tiefe Verbindung. Bonamente sah es an den leuchtenden Augen, wenn sich die beiden im Salon der Pension gegenübersaßen und sich leise unterhielten, und beneidete sie um diese Vertrautheit, die er sich mit der Dienstagsfrau selbst so sehr wünschte.
Erstaunlicherweise beschwerte sich Signor Alfredo nie über die leeren Zimmer. Ganz offensichtlich hatte er keine finanziellen Sorgen, wobei Bonamente absolut nicht wusste, woher das Geld kam, das immer wieder in die Räume investiert wurde.
Es handelte sich um sechs Zimmer, die auf zwei große Wohnungen in einem eleganten Palazzo auf der Piazza Risorgimento verteilt waren. Groß und geschmackvoll eingerichtet, verfügte jedes über ein King-Size-Bett. Am häufigsten war das Zimmer seines Dauergastes Bonamente renoviert worden, und zwar ganz nach dessen eigenen Vorstellungen und Wünschen.
„Wichtig ist, dass du bei mir bleibst, sonst findet dich deine Signora nicht wieder“, hielt er ihm immer wieder vor, als würde er fürchten, der jüngere Mann könnte sich etwas Eigenes suchen.
Dabei wäre Bonamente nicht im Traum auf die Idee gekommen, Alfredo zu verlassen. Nachdem er aus dem Elternhaus ausgezogen war, hatte er immer in Pensionen gelebt. Für ihn waren das Umgebungen, in denen er keinerlei Verpflichtungen hatte, außer dass er die Rechnung bezahlen musste.
Keine Mahlzeiten im Kreis der Familie, keine Familienfeiern, keine Geburtstage, keine Gedenktage. Die Idee, allein unter Unbekannten zu leben, gefiel ihm. Mit Menschen, die womöglich interessant waren, aber keinerlei Spuren in seiner Existenz hinterlassen würden. Wirklich wichtig waren für ihn einzig und allein Signor Alfredo und die Dienstagsfrau. Ohne sie konnte er nicht leben.
Die Nächte waren manchmal schlimm. Da suchten ihn nach wie vor die Schatten der Vergangenheit aus seiner frühen Jugend heim, zuerst die Gesichter, dann zusätzlich die Möbel und Gegenstände aus dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Der Streit um das Erbe sowie die Abtreibungen zahlreicher, unschuldiger Zimmermädchen hatten die Familie gespalten. Selbst ein Lächeln oder eine unschuldige Umarmung hatten zu Schwierigkeiten führen und Bestrafungen nach sich ziehen können. Da hatte keine Rolle gespielt, dass er noch ein Kind gewesen war.
Als Bonamente in der Pension ankam, traf er an der Tür Signora Erminia. Sie hielt die Zimmer in Ordnung, ihr Mann Rolando war der Hausmeister.
„Beeil dich, Guastini hat gerade das Risotto fertig“, sagte sie lächelnd. Sie nannte Signor Alfredo immer beim Nachnamen.
Als noch mehr Gäste die Pension besuchten, hatte es zusätzlich eine Köchin gegeben. Jetzt, wo sie zu zweit am Tisch waren, mit dem Professor hin und wieder zu dritt, war das nicht mehr nötig, und Alfredo kümmerte sich selbst darum. Er war ein guter Koch, immer elegant gekleidet mit der auf Maß gearbeiteten Lederschürze eines berühmten Schuhmachers und Lederdesigners. Seit dem Schlaganfall seines Dauermieters achtete er darauf, dass die Mahlzeiten leicht und gesund waren.
Bonamente seufzte, als er ins Bad ging, um sich die Hände zu waschen. Heute würde sich das Gespräch bei Tisch hundertprozentig um sein Treffen mit dem Produzenten drehen, das Signor Alfredo schon im Vorfeld kritisch betrachtet hatte.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte er prompt, während er einen Löffel Parmesan über den Teller seines Schützlings rieseln ließ.
Bonamente nahm eine Gabel Risotto und ließ sich Zeit. Durch die fehlende Butter war das Gericht lange nicht so gut wie üblich, es schmeckte eher nach Krankenhaus.
„Noch ein letzter Film, dann höre ich auf.“
„Ein Film zu viel.“
„Signor Alfredo, wir haben bereits darüber gesprochen, oder etwa nicht? Ich kann der Branche nicht mit einem Film Adieu sagen, in dem man mich nur von hinten sieht, weil ich geheult habe. Immerhin habe ich eine respektable Karriere zu verteidigen, und aus diesem Grund muss mein Abgang meiner würdig sein.“
„Und wenn du erneut zu Tränen gerührt bist? Wenn dein Schwanz nicht steht, wie er soll? Auf deine Pillen kannst du nicht mehr zurückgreifen, damit ist ein für alle Mal Schluss.“
„Dieses Mal ist Weinen kein Problem, sondern sogar erwünscht. Natürlich hast du recht, dass es mit meinem Stehvermögen schwierig werden könnte. Zwei, drei Tage lang werde ich vermutlich Papaverin oder Ähnliches nehmen müssen.“
Signor Alfredo schüttelte den Kopf. „Es ist absurd, so ein Risiko einzugehen. Du könntest am Set krepieren oder körperliche Schäden davontragen. Und ich sage dir gleich, Gäste im Rollstuhl möchte ich hier keine haben.“
Der ausrangierte Pornodarsteller schwieg. Er verspürte keine Lust auf weitere Diskussionen und beschloss, ernsthaft darüber nachzudenken, sogar auf diese letzte Rolle zu verzichten. Eine Alternative wäre höchstens, auf die ganzen Rücksichtsnahmen, die sein Gesundheitszustand ihm abverlangte, zu scheißen und wieder in Saus und Braus zu leben wie früher einmal.
Allein dieses fade Essen. Fünfzig Gramm Risotto, ein Salat, ein gekochter Apfel mit kaum mehr als einem Hauch Rohrzucker und ein Getreidekaffee mit einem halben Päckchen Süßstoff, das war schließlich zum Abgewöhnen. Mit dem unangenehmen Gefühl, noch immer Hunger zu haben, stand er verstimmt auf und ging in sein Zimmer. Er hatte es satt.
Signor Alfredo mochte ja recht haben, dass es verrückt war, unbedingt diese letzte Rolle noch spielen zu wollen, doch er fühlte sich irgendwie verpflichtet, mit Stil vom Pornogeschäft Abschied zu nehmen. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass ihn niemand vermissen würde. Okay, er war kein schlechter Darsteller und hatte sogar ganz nette Kritiken bekommen, ein Star allerdings war er nie gewesen. Ein von den Kollegen geschätzter Profi, das ja. Vor allem seine weiblichen Kollegen, denen er immer aufmerksam und freundlich begegnet war, hatten ihn gemocht. Das Publikum hingegen hatte ihn nicht gerade umschwärmt, was Bände