Die Tote vom Dublin Port. Mara Laue

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Название Die Tote vom Dublin Port
Автор произведения Mara Laue
Жанр Языкознание
Серия BritCrime
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948483128



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man ihr ein Foto des Denkmals zur eindeutigen Identifizierung hatte zeigen können, war sie bereits tot gewesen. Somit konnte die Yacht in Dún Laoghaire gelegen haben oder anderswo. Schließlich gab es mehrere Yachtclubs und Marinas entlang der Küste bei Dublin, wenn auch keine so großen wie die von Dún Laoghaire.

      Man kannte die Daten der Vermisstenanzeigen und dadurch auch die Tage, an denen die Frauen verschwunden waren. Wenn man diese Daten mit den Liegezeiten der Yachten und anderen Boote abglich und die herauspickte, die zur selben Zeit vor Ort gewesen waren, grenzte das die Zahl der Verdächtigen erheblich ein. Niemand aus der Abteilung wagte zu hoffen, dass am Ende nur eine Yacht übrig bliebe. Dazu besuchten zu viele Stammgäste die Marina regelmäßig, und einige Bootsbesitzer aus der Gegend hatten dort ihren ständigen Liegeplatz. Aber es war ein Anhaltspunkt. Und mit angeblichen Routinefragen nach unverfänglichen Dingen konnte die Garda die infrage kommenden Boote überprüfen. Falls aber zu viele der vermissten Frauen auf die »tolle Chance« hereingefallen waren und beteuerten, sich freiwillig an Bord aufzuhalten oder dazu gezwungen wurden, das auszusagen, konnte man nichts machen, selbst wenn man das gesuchte Boot fand.

      Declan teilte den Stapel und reichte Maureen eine Hälfte. »An die Arbeit!«

      Sie schnitt eine Grimasse. »Was glaubst du, was ich schon die ganze Zeit tue?« Sie nahm den Stapel und kehrte an ihren Platz zurück.

      Declan nahm seinen, legte die Liste der Vermisstendaten daneben und machte sich an seinen Teil der Arbeit.

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      Trinity College. Russel besuchte den imposanten Bau immer wieder gerne, besonders das alte Gebäude mit seiner trutzigen Architektur, wie sie im achtzehnten Jahrhundert für solche Gebäude üblich gewesen war. Oft kam er abends noch nach einem Auftritt vorbei und genoss den Anblick der erleuchteten Bauten. Besonders die Bibliothek hatte es ihm angetan, die wahre Buchschätze beherbergte. Nicht nur das berühmte »Book of Kells«, das handgeschrieben die vier Evangelien enthielt – kunstvoll verziert mit wunderbaren Zeichnungen und Initialen – und das jeden Tag eine Seite weitergeblättert wurde. Russel hatte sich vor ein paar Jahren nur deshalb eine Jahreskarte für den Eintritt gekauft, um jeden Tag hinzugehen und alle 340 Seiten einmal anzusehen. Declan hatte ihn deswegen für verrückt erklärt, aber für Russel war es ein unvergleichliches Erlebnis gewesen, jede einzelne Seite des Originals zu sehen.

      Außerdem beherbergte die Bibliothek auch alte Liedersammlungen, und er kam öfter her, um sich aus denen Inspiration für neue Interpretationen der alten irischen Musik zu holen. Er hatte mit der Band schon überlegt, ob sie aus der Neuinterpretation der alten Songs nicht ein Markenzeichen für sich machen sollten, das sie von allen anderen Folkbands abhob. Und ob sie sich nicht einen zündenden Bandnamen geben sollten. Bisher nannten sie sich schlicht »The Four«, obwohl sie zu fünft waren. Allerdings konnte Mary nicht immer zu den Proben und Auftritten kommen, sodass ihre Stammbesetzung tatsächlich nur vier betrug. Außerdem standen die Buchstaben F, O, U und R auch für die Initialen ihrer Namen: Fynn, Owain, Urda und Russel, weshalb »The Four« auch deshalb passte.

      Doch Russel war nicht wegen der Songs oder der Architektur gekommen. Er hielt nach Gina Rossi Ausschau. Laut ihrem Facebook-Account war sie eine Austauschstudentin aus Neapel. Die in diesem Moment aus dem Hauptgebäude kam. Sie sah genauso aus wie auf ihren Fotos: jung, dunkelhaarig, sportliche Figur. Sie bewegte sich tänzerisch, als wollte sie durch ihre Bewegungen ihre Vorzüge ins rechte Licht rücken. Zumindest auf einen Teil ihrer männlichen Kommilitonen verfehlte das seine Wirkung nicht, denn die umschwärmten sie in einem Pulk zu viert und ließen kaum ein Auge von ihr.

      Russel vertrat ihr den Weg. »Guten Tag, Miss Rossi. Mein Name ist Russel O’Leary. Ich bin Privatermittler und wurde von Edana Raffertys Eltern beauftragt, ihre Tochter zu finden.« Er reichte ihr eine Visitenkarte.

      Gina Rossi ignorierte die Karte, starrte aber Russel erschrocken an. »Ich weiß nichts!«, beteuerte sie. »Das habe ich Mr und Mrs Rafferty schon gesagt.«

      Ihre Stimme klang weich, und sie hatte einen deutlichen Akzent. Aber Russel hörte auch Angst in ihrem Tonfall. Gina wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber er vertrat ihr erneut den Weg. Was einen ihrer Kavaliere dazu veranlasste, ihn zu schubsen.

      »Finger weg!«, verlangte er, obwohl Russel Gina Rossi gar nicht berührt hatte.

      Er blickte dem jungen Mann hart in die Augen. Was den einen Schritt zurücktreten ließ. Immerhin war Russel einen halben Kopf größer als er, ungefähr zehn Jahre älter und besaß sichtbar mehr Muskeln, weil er regelmäßig Selbstverteidigung trainierte. Schließlich musste er sich wehren können, wenn es mal brenzlig wurde, und als Privatermittler durfte er keine Schusswaffe tragen.

      »Eine Ihrer Kommilitoninnen ist seit vier Tagen verschwunden«, erklärte er und ließ seine Stimme betont kalt klingen. »Und entgegen ihrer Behauptung«, Russel starrte die Italienerin sekundenlang eisig an, »weiß Miss Rossi etwas über ihren Verbleib. Möglicherweise liegt ein Verbrechen vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mich ernsthaft daran hindern wollen, die Verschwundene zu finden.«

      Der junge Mann schluckte und machte einen weiteren Schritt rückwärts. Die drei anderen Studenten hielten sich klugerweise aus dem Disput heraus, traten aber auch etwas zurück. Was Gina Rossi signalisierte, dass von ihnen keine allzu große Unterstützung zu erwarten war.

      »Ich weiß nichts, das habe ich doch schon gesagt«, betonte sie. Aber das klang nicht mehr halb so sicher wie ihre vorherige Behauptung.

      »Miss Rossi, Sie lügen. Und wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen wollen, können wir die Angelegenheit gern im Büro von Provost Pollock besprechen. Er hat mir gestattet, Sie zu befragen, weil auch er die Angelegenheit geklärt haben möchte.«

      Die reine Wahrheit, denn Russel hatte den Leiter des Colleges im Vorfeld aufgesucht, ihm sein Anliegen geschildert und um Erlaubnis gebeten, auf dem Campus Nachforschungen anstellen zu dürfen. Unter der Auflage, diskret vorzugehen, hatte Pollock dem zugestimmt.

      »Oder ich gebe der Polizei den Tipp, dass Sie offenbar etwas wissen, das aber verschweigen«, ergänzte Russel, als die junge Frau schwieg und sichtlich überlegte, ob er nicht nur bluffte. »Miss Rossi, Edana ist doch Ihre beste Freundin. Und ihre Eltern sterben fast vor Sorge. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie Ihre Freundin decken wollen, aber sie hat sich seit vier Tagen bei niemandem mehr gemeldet. Das stellt den Verdacht in den Raum, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Was dann Sache der Polizei wäre. Und Polizei hier auf dem Campus – ich glaube nicht, dass Provost Pollock davon erbaut wäre. Sie sind Austauschstudentin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einen Rauswurf riskieren wollen, nur weil Ihre Freundin Ihnen aufgetragen hat, den Mund zu halten.«

      »Schon gut«, knickte sie ein. Sie nickte ihren Begleitern zu. »Geht schon mal vor. Ich komme gleich nach.«

      Die Gruppe setzte sich zögernd in Bewegung und trollte sich mit unsicheren Blicken zu Gina und Russel. Gina deutete mit dem Kopf zu einer Bank, ging hin und setzte sich. Russel nahm in gebührendem Abstand neben ihr Platz und sah sie erwartungsvoll an.

      »Eddie ist nur ein paar Tage abgetaucht, um mal was Neues auszuprobieren«, gab sie zu. »Etwas, das nichts mit Studium und Mathe und sonstigen Wissenschaften zu tun hat.« Sie sah Russel in einer Weise an, die ihm zeigte, dass sie hoffte, er werde sich damit zufriedengeben.

      »Aber das ist doch kein Grund, sich vier Tage lang bei niemandem zu melden. Ich hatte von ihren Eltern den Eindruck, dass das ganz vernünftige Leute sind, die ihrer Tochter bestimmt nicht verbieten würden, sich selbst mal für ein paar Tage außerhalb des Studiums auszuprobieren.«

      »Bei dieser Sache schon«, war Gina überzeugt und blickte zur Seite.

      Russel wartete einen Moment, aber sie war offenbar nicht gewillt fortzufahren. »Was für eine Sache? – Bitte, Miss Rossi, Ihre Freundin schwebt möglicherweise in Gefahr. Oder warum sollte sie sonst einen Grund haben, vier Tage lang keine einzige Silbe in den sozialen Medien zu posten? Haben Sie das schon jemals bei ihr erlebt?«

      Das Argument überzeugte