Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

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Название Der Geliebte der Verlobten
Автор произведения Laura Lippman
Жанр Языкознание
Серия Tess Monaghan
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701804



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dass er sehr genaue und klare Aussagen macht, was er wann getan hat. Tess, du warst doch Journalistin. Mach dir Notizen.« Er warf ihr einen Kanzleiblock und einen Stift zu.

      Rock blickte auf Tyners abgetretenen Teppich, während er sprach. Der Anfang seiner Geschichte war zumindest Tess schon bekannt. Ava hatte ihn gegen halb neun angerufen. Das konnte über das Verzeichnis von Anrufen auf Avas Autotelefon nachgewiesen werden; so viel wusste auch Tess. Am Telefon hatte Ava zu Rock noch gar nichts gesagt, sondern ihn nur gebeten, in seiner Wohnung auf sie zu warten.

      »Leg den Hörer neben das Telefon, Liebling«, hatte sie ihn gedrängt. »Sprich mit niemandem, bis ich bei dir bin.«

      Hat ihn gut abgeschottet, dachte Tess. Dadurch hat sie verhindert, dass ich vorher mit ihm spreche.

      Sie war um 21 Uhr bei ihm angekommen. Ava erzählte Rock dann, dass Abramowitz sie gezwungen habe, mit ihm zu schlafen, indem er behauptete, sie werde in ganz Baltimore keine Anstellung als Rechtsanwältin finden, wenn sie sich weigerte. Sie habe angenommen, jemand, der Vergewaltiger und Mörder verteidigt hatte, könne sich selber ausgezeichnet gegen etwas so Nebensächliches wie sexuelle Nötigung verteidigen, deshalb habe sie nachgegeben. Dafür versprach er ihr eine brillante Zukunft. Obwohl diese Abmachung sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte, habe sie doch alles im Griff gehabt, bis »diese Frau« sie zu erpressen versuchte.

      »Stimmt überhaupt nicht«, protestierte Tess.

      »Diesen Teil habe ich ihr auch nicht geglaubt«, beruhigte Rock sie. »Ich nahm an, Ava habe unsere Abmachung nicht verstanden und euer Gespräch falsch gedeutet.« Er hielt Ava immer noch zugute, dass ein Irrtum vorliegen könnte, dachte Tess. Rock hatte überhaupt noch nicht begriffen, dass Ava vielleicht einfach nur eine hervorragende Lügnerin war.

      »Ich streichelte ihr das Haar, bis sie einschlief«, fuhr er fort. »Immer wieder schaute ich hinunter und sah meine Hand auf ihrem Haar und musste denken, dass auch Abramowitz sie berührt hatte. Das machte mich ganz wahnsinnig. Nach einer Weile schien es irgendwie ganz natürlich, dass ich mein Fahrrad nahm und dorthin fuhr, zu seiner Kanzlei.«

      »Woher wusstest du denn, dass er dort war?«, fragte Tyner.

      »Das wusste ich gar nicht. Ava hatte mir erzählt, dass er praktisch immer dort sei und arbeite. Ich ging davon aus, dass es gestern Abend auch nicht anders wäre. Und er war auch tatsächlich dort, aber er sah sich das Spiel der Orioles an. Sein Büro ist wie eine Privatloge – man schaut von dort genau in das Camden Yards hinein. Wenn man dazu den passenden Sportsender einschaltet, ist das besser, als unten im Stadion zu sitzen. Er hatte sogar ein Bier und einen Hotdog vor sich. Ich glaube, das brachte mich noch mehr in Wut, der Gedanke, dass er hier in seinem Büro saß und einem Spiel zusah, während Ava fast durchdrehte. Also sagte ich zu ihm – ich sagte ihm, was ich von ihm hielt, und dass wir zur Behörde für berufliche Gleichstellung und vor das Staatsgericht gehen könnten, und vielleicht auch zur Zeitung. Er lachte nur.«

      »Hat er dich ausgelacht?«, fragte Tess. »Fand er es komisch?«

      Rock dachte einen Augenblick nach. »Es war ein nervöses Lachen, als würde er sich überlegen, was er antworten sollte. Und dann kamen lauter Lügen aus ihm heraus, nämlich, dass er Ava helfen wollte, ihr Examen zu bestehen, und dass sie ihm angeboten habe, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr nur versprach, dass sie in seiner Kanzlei bleiben dürfe. Sie sei schon zweimal durchgefallen, und beim dritten Mal müsse sie es schaffen, sonst bedeute es das Aus für sie. Das stimmt übrigens tatsächlich – sie ist zweimal durchgefallen. Aber sie hat Abramowitz nicht angeboten, mit ihm zu schlafen, um ihren Job zu behalten. So etwas würde sie niemals tun.«

      Na, wer weiß, dachte Tess.

      »Hat er sonst noch etwas gesagt?«, fragte Tyner.

      »Er hat gesagt …« Rock schloss die Augen, um sich die Szene zu vergegenwärtigen. »Er hat gesagt: ›Tut mir leid.‹ Und dann sagte er noch: ›Aber sie ist wirklich schön.‹ Und da habe ich ihn geschlagen.«

      Der Schlag warf Abramowitz rückwärts auf seinen Orientteppich und zerbrach seine Brille. Der Metallsteg schnitt ihm in die Nase, und sein Kopf schlug an einer Ecke des Schreibtischs auf, wodurch eine oberflächliche Wunde hervorgerufen wurde, die aber stark blutete. Bei Kopfwunden ist das normal, wie Tess wusste. Sie sehen oft viel schlimmer aus, als sie tatsächlich sind.

      »Ich stand über ihn gebeugt und legte ihm die Hände an die Kehle«, sagte Rock. »Ich dachte, jetzt könnte ich ihn glatt töten. Ich wollte, dass ihm das auch klar war, wollte ihn genauso in Angst und Schrecken versetzen, wie er das bei Ava getan hatte. Ich wollte, dass er sich genauso verzweifelt in die Enge getrieben fühlte, wie sie das empfunden haben musste. Ich hielt meine Hände an seine Kehle und sah ihm in die Augen. Ich wollte sogar, dass er sich vor Angst in die Hosen machte.«

      »Und, hat er?«, fragte Tess. Tyner sah sie angewidert an. Sie hatte noch immer nicht ihre Angewohnheit aufgegeben, jede Frage, die ihr in den Kopf kam, auch gleich zu stellen.

      »Keine Spur. Er sah nicht mal aus, als hätte er Angst. Vielleicht hat er erkannt, dass ich kein Mörder bin, weil er schon richtige Mörder verteidigt hatte. Er lächelte mich an und nickte, als wolle er mich ermutigen. Ich stieß ihn zurück, und dabei schlug sein Kopf wieder am Schreibtisch auf, diesmal ärger. Ich habe den Ton immer noch im Kopf – lauter und weniger hohl, als ich erwartet hätte, als ob sein Kopf sehr fest wäre. Er fiel in Ohnmacht. Aber er atmete noch, als ich ging, ich schwöre, dass er noch atmete.«

      »Hast du die Zeit mitgekriegt?«

      »Zehn nach zehn, nach dem Bromo-Seltzer-Turm, als ich wieder auf der Straße stand«, sagte er und bezog sich dabei auf eines der ungewöhnlichsten Wahrzeichen der Stadt, einen gespenstischen Uhrturm, der anstelle von Ziffern die Buchstaben dieses Mittels gegen zu viel Magensäure trug. »Ganz eindeutig zehn nach zehn.«

      »Und in dem Besuchernachweis steht, dass du dich um 22 Uhr eingetragen hast, aber möglicherweise hat der Wachmann die Zeit gerundet«, sagte Tyner. »Also zehn Minuten, vielleicht sogar noch weniger, für eine ziemlich detaillierte Unterhaltung und einen kurzen Kampf. In dieser Zeitspanne hättest du ihn zwar töten können, aber dazu hättest du viel effizienter vorgehen müssen. Und dann bleiben immer noch zwanzig Minuten, bis der Nachtwächter Abramowitz findet, Zeit genug für einen anderen, deine Arbeit zu beenden.«

      »Aber wer?«, fragte Tess. »Ein verärgerter früherer Klient? Ein Räuber? Einer seiner Partner? Und ist das nicht ein ganz unglaublicher Zufall, dass dieser Jemand genau dann auftaucht, wenn Rock ihn so zugerichtet hat?«

      »Du denkst immer noch wie eine Reporterin«, maßregelte Tyner sie. »Oder wie eine Staatsanwältin. Es ist nicht deine Aufgabe, diesen Fall zu lösen oder meine Theorie zu durchlöchern. Du sollst nichts anderes tun, als für mich genügend Informationen zu sammeln, damit ich in vier oder fünf Monaten in einen Gerichtssaal gehen und dort begründete Zweifel erwecken kann, ob Rock wirklich die Gelegenheit hatte. Dir ist es zu verdanken, dass er unglücklicherweise ein ganz besonders starkes Motiv hat, deswegen werden wir diesen Aspekt herunterspielen müssen. Ich möchte, dass du so bald wie möglich mit dem Wachmann und dem Nachtwächter sprichst. Zuerst mit dem Wachmann – er ist wichtiger, denn er bezeugt, dass Rock um 22 Uhr hinkam. Ob es sich lohnt, sonst noch jemanden zu befragen, sage ich dir später. Übrigens wäre es von Nutzen, wenn du wie eine Erwachsene aussehen würdest. Schneide dir doch endlich mal diesen Pferdeschwanz ab, der dir da hinten am Kopf herumbaumelt!«

      »Nein!« Das kam von Rock. Tess trug ihre Haare lang, weil das weniger Arbeit machte. Sie hing nicht daran. Rock offensichtlich schon.

      »Dann steck ihn wenigstens hoch. Und zieh ein Kostüm an«, sagte Tyner. »Normalerweise muss ein Rechtsanwalt seinen Klienten in die richtige Form bringen und nicht seine Assistentin.«

      »Deine Assistentin? Entschuldige, Tyner, aber bekomme ich dafür vielleicht Geld? Ich habe bis jetzt noch niemanden etwas über Geld sagen hören.«

      »Doch. Du behältst das Geld, das Rock dir für deine ursprünglichen Nachforschungen gezahlt hat. Aber ich finde, dass dein Gehalt ein bisschen zu hoch angesetzt ist, deshalb fängst du mit zwanzig Stunden minus an. Wenn du diese