Название | Hockneys Leben |
---|---|
Автор произведения | Catherine Cusset |
Жанр | Языкознание |
Серия | Oktaven |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772544149 |
Rons Atelier in einem der Flure des Colleges grenzte an das eines anderen Studenten, und wenn David ihn nachmittags besuchte, plauderte er auch mit dem Flurnachbarn. Adrian war schwul, der erste offen schwule Mann, den der 22-jährige David kannte. Er wusste seit Langem, dass er Männer liebte, aber von einem aktiven, erfüllten Sexualleben konnte nicht die Rede sein. Es beschränkte sich auf gelegentliche, flüchtige Begegnungen, über die er an den Orten, die er allein aufsuchte, mit niemandem sprach. Einmal zog ihn einer seiner Kommilitonen grinsend zur Seite: «Ich hab’ dich im Pub mit diesem Typen gesehen und ich weiß, was ihr gemacht habt!», und David wurde rot und schrecklich verlegen. Wie peinlich, dass ein unglücklicher Zufall den Mitstudenten in eine entfernte Bar geführt hatte, wo ihn ein Unbekannter befummelte, den er eine Stunde vorher in einem Kino am Leicester Square aufgegabelt hatte. Doch im Nachhinein geriet er über seine eigene Reaktion in Wut: Wäre er auch rot geworden, wenn ihn der Student mit einem Mädchen überrascht hätte? Und hätte dieser sich dann überhaupt zu einem Kommentar veranlasst gefühlt? Was gab dem Kerl das Recht, ihm gegenüber einen so plump vertraulichen, hämischen Ton anzuschlagen? David malte ein Bild, das er Shame nannte und auf dem keine andere Form zu erkennen war als ein erigierter Penis. Wenn er jetzt Adrian zuhörte, der ihm ohne Scheu von seinen homosexuellen Abenteuern berichtete, dachte er: «Genau so will ich leben.» Adrian empfahl ihm die Lyrik des amerikanischen Dichters Walt Whitman, den David bereits kannte, und die Gedichte des griechischen Schriftstellers Konstantinos Kavafis, von dem er noch nie etwas gehört hatte.
Im Sommer nach seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag las er Whitman und Kavafis. Bücher von Whitman waren leicht aufzutreiben, die von Kavafis nicht. In der Stadtbibliothek von Bradford standen sie nicht im Regal, sie mussten aus einem Sondersaal geholt werden, der sogenannten «Hölle». Als er der Bibliothekarin die Signatur nannte, warf sie ihm einen argwöhnischen Blick zu. Dem verlorenen Sohn, der in London lebte und damit zweifellos dem Verderben anheimgefallen war, war alles zuzutrauen. Sicher würde er das Buch mit einer Hand haltend lesen, während er sich mit der anderen von der erregenden Spannung befreite, die die Lektüre auslöste. Am Ende des Sommers konnte er sich nicht entschließen, das Buch zurückzugeben. Das lag nicht nur an dem Unbehagen, das ihn bei dem Gedanken an ein neuerliches Stirnrunzeln der Bibliothekarin befiel; er konnte sich von Kavafis einfach nicht trennen. Das Buch und er gehörten zusammen.
Der Humor des griechischen Dichters hatte es ihm gleich angetan. Eines seiner Lieblingsgedichte trug den Titel Warten auf die Barbaren, und eine Zeile kehrte immer wieder: «Die Barbaren kommen heute.» Der letzte Vers offenbarte, dass die Barbaren, deren Kommen man so gefürchtet hatte, nun doch fernbleiben würden, und es hieß: «Diese Menschen waren irgendwie doch auch eine Lösung.» Wie wahr! Und wie sehr man ständig nach heuchlerischen Ausflüchten suchte! Wie sehr es den Menschen an Kühnheit und Freiheit mangelte! Die beiden Dichter, der griechische und der amerikanische, drückten all das aus, was David fühlte, und zwar in schlichten Worten, die er verstehen konnte, nicht so wie Proust, dessen Aussage sich ihm nicht erschloss. «And his arm lay lightly around my breast – and that night I was happy», schrieb Whitman über die Liebe zwischen zwei Männern. Die Zweifel des vergangenen Jahres waren endgültig ausgeräumt; man musste malen, was für einen selbst zählte. David war gerade dreiundzwanzig geworden. Es gab nichts Wichtigeres als Begehren und Liebe. Er musste beim Malen die Verbote unterlaufen, so wie es Whitman und Kavafis mit Worten gelungen war. Dazu konnte ihn kein anderer ermächtigen, kein Professor und kein Künstler. Diese Entscheidung musste er selbst treffen, sie betraf seine Kreativität, seine gelebte Freiheit.
In die nächste Bilderserie, die er an der Hochschule malte, schmuggelte er Worte oder sogar Sätze ein; einige stammten von Walt Whitman, beispielsweise We two boys together clinging, andere hatte er als Graffiti an der Tür der Männertoiletten in der U-Bahn-Station Earls Court gelesen, etwa «Ruf mich an unter …» oder «Mein Bruder ist erst siebzehn». Die Figuren waren geometrisch, wie auf Kinderzeichnungen, erkennbar durch ihr Haar, ihren Mund, ihre Zähne, ihre Teufelsohren oder den erigierten Penis. Um sich selbst in seine Bilder einzuschreiben, borgte sich David von Walt Whitman einen kindlichen Code, der darin bestand, dass er die Buchstaben des Alphabets durch Ziffern ersetzte; die Ziffern 4.8 erschienen winzig klein auf der Leinwand und ersetzten seine eigenen Initialen, die Ziffern 23.23 standen für Walt Whitman. Die Zahlen waren so winzig und fein gemalt, dass man sie auch bewusst übersehen und Davids neue Werke in einem rein ästhetischen Kontext interpretieren oder den Einfluss von Pollock oder Dubuffet ausmachen konnte. Seine Professoren merkten nichts (oder sie taten wenigstens so). Er hatte eine ausgezeichnete Möglichkeit gefunden, das System zu überlisten.
Er litt nicht mehr unter der inneren Orientierungslosigkeit des Vorjahrs, er malte unablässig, ein Bild nach dem anderen. Sein Tagesablauf nahm feste Formen an: Er kam früh, wenn noch niemand außer Ron in der Hochschule war, und malte zwei Stunden lang in Ruhe, bis die anderen Studenten eintrafen. Gegen 15 Uhr, wenn seine Mitstudenten ihre Staffeleien stehen ließen und Tee tranken, verzog sich auch David und ging ins Kino, allein oder mit Ann, der hübschen rothaarigen Freundin eines seiner Kommilitonen, die amerikanische Filme ebenso liebte wie er. In die Hochschule kehrte er zurück, wenn die anderen nach Hause gingen, und arbeitete weiter bis spät in die Nacht. Wo hätte er auch sonst hingehen sollen? Aus dem winzigen Zimmer, das er sich mit einem Bekannten geteilt hatte, war er ausgezogen und wohnte nun auf demselben Grundstück und zum selben Preis in einem Gartenhäuschen. Das Alleinsein gefiel ihm, aber sein neues Domizil war so wenig komfortabel, dass er dort nichts anderes tun konnte als schlafen.
Im September war ein neuer Student gekommen, der Amerikaner Mark, offen homosexuell wie Adrian. Er hatte aus den USA etwas mitgebracht, das David sich eilig von ihm auslieh: Zeitschriften mit Fotos von blonden, muskulösen jungen Männern in Slips, die mehr offenbarten, als sie verhüllten. Wenn er sie betrachtete und spürte, wie sein Verlangen geweckt wurde, fragte er sich erneut, warum etwas so Schönes, das so viel Genuss verschaffte, versteckt werden musste. Die Zeitschriften wurden in den Vereinigten Staaten gedruckt. Zwei seiner drei engsten Freunde auf der Hochschule waren Amerikaner. In der Stadt, in der er seine Jugend verbracht hatte, war er nie wissentlich einem Schwulen begegnet, und jeder sexuelle Kontakt zwischen zwei männlichen Erwachsenen, auch wenn er einvernehmlich war, galt nach britischem Recht als Straftat. Die jungen blonden Männer, die auf den Seiten von Physique Pictorial triumphierend ihren Bizeps zur Schau stellten, weckten in ihm den Wunsch, auf der Stelle nach Amerika zu fliegen. «Solltest du mal nach New York kommen, bist du bei mir herzlich willkommen», hatte Mark zu ihm gesagt, als könne er einfach in den Zug steigen und mal eben nach New York fahren wie nach Bradford. Ein Flugticket kostete bestimmt mehrere Hundert oder gar Tausende Pfund. Es war ein fremder Planet. David hatte Großbritannien noch nie verlassen.
Er war Mark, Adrian und Ron dankbar für den Hauch von Freiheit, der neuerdings durch sein Leben wehte. Wenn er zu Weihnachten oder Ostern zu seinen Eltern nach Bradford fuhr, freute er sich auf die gute vegetarische Mahlzeit, die seine Mutter kochte, und auf die Gespräche mit den Eltern und den Geschwistern. Sie forderten ihn auf, von seinem Leben in der Großstadt zu erzählen, und David erklärte ihnen, was amerikanischer abstrakter Expressionismus war; er sprach über die Ausstellung der zeitgenössischen jungen Künstler, für die die Kritik den Begriff «Pop Art» erfunden hatte. Er erzählte von dem jungen Kunsthändler, dem die vier Gemälde, die er ausgestellt hatte, um seine malerische Virtuosität zu demonstrieren, sehr gut gefallen hatten. Ein vielversprechender Beginn. Aber wie hätte er über die Fotos aus