Du gehörst mir. Peter Middendorp

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Название Du gehörst mir
Автор произведения Peter Middendorp
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544132



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ersten Jahren, den Kinderjahren, in der Küche und dem Wohnzimmer, aber mitunter auch auf der Treppe ins Obergeschoss, wenn sie sich im Badezimmer langsam in Ordnung brachte.

      Als Kind sieht man so etwas nicht. Als ich unter ihren Röcken hervorkam und hochschaute, ist mir jedenfalls nichts Besonderes aufgefallen.

      Mutter kam schreiend aufs Feld gerannt, die Arme in der Luft.

      Alles war ein Ziel für ihre Panik.

      Sie rannte zu Vater, stürzte sich in den Sand an seine Brust.

      Sie rannte zu Derksen, zerrte ihn am Overall, als fordere sie von ihm, dass die Zeit zurückgedreht würde bis kurz vor dem kleinen, banalen Moment, als Vater nach einer ungeschickten Bewegung das Gleichgewicht verloren hatte.

      Sie rannte zu der Maschine, rief, flehte, rannte wieder zu Derksen und zu Vater. So rannte sie weiter, eine ganze Zeit, überallhin, nur nicht zu mir.

      Der Krankenwagen hielt auf der Straße, die Sanitäter kamen mit einer Tragbahre angerannt. Sie sahen alles. Alles nahmen sie wahr, darauf sind sie trainiert, nur mich sahen sie nicht.

      Die Polizisten erbarmten sich meiner Mutter, nahmen sie mit in die Küche und versuchten sie zu beruhigen, während sie bereits einige erste Fragen stellten. Sie befragten Derksen bei sich zu Hause, zusammen mit seiner Frau, die selbst doch gar nichts gesehen hatte.

      Mich fragten die Polizisten nichts.

      Sie sahen mich nicht.

      Von mir wollten sie nichts wissen.

      Die Männer aus der Nachbarschaft, die seufzend auf der Auffahrt standen, besprachen miteinander, wer das Melken übernehmen sollte, wer wann was tun konnte. Zu mir sagten sie nichts, sie sahen mich nicht. Genau wie die Männer, die einige Tage später den Mähdrescher vom Acker schleppten, auf einen Tieflader packten und ihn vorsichtig davonfuhren.

      Mit Vater und Mutter hatte der Krankenwagen auch den Tag mitgenommen. Das Licht verlor seine Farbe. Auf der Hauptstraße fuhr kein Verkehr mehr. Es war still, windstill, mäuschenstill. Ich konnte meinen Herzschlag hören, das Rauschen in meinen Ohren.

      Die Dämmerung legte sich langsam über das Land. Das Haus war leer und dunkel. Alle waren im Krankenhaus, mein Vater und meine Mutter. Selbst die Nachbarn waren schon unterwegs dorthin. Ich stand noch auf dem Feld, die Zeit verging schnell.

      Nachts lag der Mond hinter den Pappeln halb tot auf dem Rücken. Die Stare schliefen in den Bäumen, die älteren sicher, nah am Stamm, die Jungen und Kranken auf den äußeren Ästen und Zweigen – so legten die Starken einen tierischen Schild der Schwäche um sich, als erwürben Stare nur durch das Überleben des ersten Winters das Recht auf ein Weiterleben.

      Der Morgen nahte mit Möwen, die sich still glänzend, das erste Licht unter den Bäuchen, geräuschlos über das Land führen ließen. Ich zog die Hände aus den Taschen und erschrak bei ihrem Anblick. Sie waren dick geworden, hart, Arbeitshände, Instrumente.

      Ich sah die Schwalben tief über den Wassergraben streichen, der erste Kormoran des Tages hing seine Flügel zum Trocknen in die Bäume. Ich ging allein nach Hause zurück. Der Himmel zog sich zu.

      Es dauerte Wochen, bis man mich wieder bemerkte. Bevor man manchmal, vereinzelt, ganz kurz zu mir hinschaute. Mutter, Nachbarn, Bauern. Lehrer, Ärzte, Krankenpflegerinnen. Tankwagenfahrer, Vertreter, der Importeur von Landmaschinen. Wenn sie schauten, dann nicht, um Informationen abzurufen. Sondern um welche zu senden, gerade lange genug, um mich wissen zu lassen, was ich eigentlich schon wusste.

      Ich sah es an Passanten, Dorfbewohnern groß und klein. Ich sah es an meinem Vater, als der nach vielen, vielen Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war und mir im Vorbeifahren in seinem Rollstuhl kurz in die Augen schaute.

      Ich habe es auch selbst im Spiegel gesehen.

      Da sah ich, was ich schon verstanden hatte.

I

       1

      ICH BIN DER VERACHTETE, DER UNSYMPATHISCHE. Die Geringachtung hat mich irgendwann heimgesucht, noch auf dem stoppeligen Feld, mittlerweile an die dreißig Jahre her. Danach ist sie immer bei mir geblieben, hat mich weniger verfolgt als vielmehr ins Schlepptau genommen, durch die Schulen und die Jahre, bei allem, was ich tat und unternahm, bis hierher in diese Zelle, ein paar Quadratmeter Ruhe.

      Geringachtung nistet sich ein in der menschlichen Konstitution, auch wenn man noch klein ist, ein Kind faktisch noch. Die hängenden Schultern, die schmalen Hüften, die in hunderttausenden dünnen Pusteblumenhärchen über das Land verwehte Frisur – ich denke manchmal, ohne Geringachtung wäre ich größer geworden, breiter, hätte mehr Raum eingenommen.

      Man sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber das ist ein Spruch für Leute, die nicht wissen, dass man die Hoffnung schon verlieren kann, kaum dass man richtig angefangen hat. Ein abgehobener Spruch, ohne Boden unter den Füßen. Tatsächlich stirbt die Hoffnung gerade bemerkenswert schnell. Ruck, zuck, länger braucht es nicht. Man merkt es erst, wenn es passiert ist. Nanu, denkt man, war das die Hoffnung, die mich soeben verlassen hat, der Geist der Hoffnung?

      Man hofft ja nicht auf etwas, wovon man weiß, dass es ohnehin nicht geschieht. Man glaubt dem Direktor nicht, wenn er einen zu sich ruft und sagt: «Du fängst hier noch mal ganz neu an, ganz von vorn. Keiner kennt dich, keiner weiß, was an der vorigen Schule passiert ist. Hier bekommst du eine neue Chance. Greif zu, würde ich sagen. Ergreife sie mit beiden Händen!»

      «Ja», sagst du. «Gut, in Ordnung, das werde ich.»

      Aber du weißt längst, woran du bist. Du siehst es auch schon beim ersten Schritt in die neue Schule, dem ersten Schritt über die Schwelle der neuen Klasse. Du fühlst es. Eine bestimmte Dumpfheit. Im Kopf, in den Schultern. Als ob der Körper zu lange in eine unbequeme Haltung gezwungen gewesen wäre. Auch in den Armen und Beinen kannst du es spüren, den Knochen – Geringschätzung ziept und zwickt wie Wachstumsschmerzen.

      Alle waren neu in der Klasse, aber in dem Moment, als ich hereinkam, schien es plötzlich, als ob sich alle schon seit Jahren kennen würden und ich der einzige Neuling war. Wie durch Zauberhand besaßen die anderen etwas Gemeinsames. Abneigung war ihre erste geteilte Erfahrung. So lernten sie sich untereinander kennen; ich war der Katalysator des Gruppenprozesses.

      Das Gute an der neuen Schule war: Ich wurde nicht enttäuscht. Sie brachten mich nicht aus der Fassung, die Kinder, die Jugendlichen, sie brachten mich nicht mehr durcheinander.

      Hinter dem Einkaufsplatz, wo die Gedenkumzüge und später auch die Demonstrationen gegen das Asylbewerberheim stattgefunden haben, führt eine schmale Gasse zu der Diskothek zwischen dem Supermarkt und dem Friseursalon, in dem Rosalinde einen Teilzeitjob hatte.

      Ich denke, ich bin höchstens zehn Mal in De Tangelier gewesen. Ich kam dort nicht viel weiter, als dass ich ein oder zwei Stunden auf die Tanzfläche schaute, an einen Pfeiler gelehnt, die Hände in den Taschen. Manchmal rauchte ich etwas, manchmal trank ich zu viel Bier.

      Die Jungs blieben am Tresen hängen, lautstark und halb betrunken. Die Mädchen tanzten paarweise auf der Tanzfläche, ihre Handtaschen zwischen sich auf den gelben Steinfliesen. Sie waren ausnahmslos blond und trugen enge Jeans sowie rosafarbene Frottee-T-Shirts mit rundem Ausschnitt.

      Da steht er, sagten sie.

      Ich konnte es durchaus hören – sie ereiferten sich am meisten über die Leute, mit denen sie am wenigsten zu tun haben wollten.

      Da steht er. Und beobachtet uns.

      Männer machen den Krieg, Frauen bestimmen die Ziele. Nie machen sie sich selbst mal die Hände schmutzig. Alles geht implizit, über die Bindung. Eine kleine Geste. Ein Blick. Eine leicht gekräuselte Nase. Ein gestreckter Hals. Augen, für einen Moment leicht geweitet. Ein Lächeln oder ein kleiner Wink und sie brauchen den Jungs schon nichts mehr zu erzählen.

      Um diese Jungs habe ich mich nie viel geschert. Ich habe nie etwas