Название | Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3 |
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Автор произведения | Dirk van den Boom |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864027529 |
Sie musste den Dutt mit einer schnellen Geste gelöst haben. Eine Bewegung, die ihm entgangen war. Er sah Ildaya an, doch diese schien weder verwirrt noch beunruhigt, sondern einfach nur entschlossen, die Sache jetzt zum Ende zu bringen.
Vigil fühlte kurz die Versuchung, die Audh danach zu fragen, aber er beherrschte sich. Dies war nicht der Moment, sich lächerlich zu machen. Dafür gab es gewiss zu einem anderen Zeitpunkt eine gute Gelegenheit.
Er eilte Anna hinterher.
5
Thasri saß so da, betrachtete die Welten der Vergangenheit und drohte in ihnen zu versinken.
Jeder hatte so seine Art zu fliehen. Manche nahmen Drogen, andere schauten endlose Holovid-Serien. Sie kannte mal einen akademischen Kollegen, einen ausgewachsenen Professor, der zu Hause in Vitrinen eine Sammlung von Püppchen hatte, die er sehr schätzte und pflegte. Es gab dann auch jene, die sich nicht in Vergnügen, sondern in Arbeit stürzten, auch wenn diese keinerlei Sinn ergab. Tun als Ablenkung, Fokus als Schutz. Thasri war sich dieses Mechanismus durchaus bewusst. Sie hatte eine Menge zu vergessen, Dinge, die sie in der Vergangenheit getan hatte, gesehen, verantwortet und unterstützt. Da war eine Menge Scham, auch Reue und Selbsthass. Ein schweres Gepäck, das leichter geworden war, als sie ihr zweites Leben anfing, als Professorin, Wissenschaftlerin, mit einem Spezialgebiet, das so weit in die Vergangenheit reichte und so voller Rätsel war, dass sie es niemals durchdringen, sich aber gleichzeitig völlig darin verlieren konnte. Eine ferne Welt, real, aber vergangen und damit greifbar wie unerreichbar. Mit Detailfülle auf der einen, gigantischen Löchern der Unkenntnis auf der anderen Seite. Man konnte sich hineinbegeben ohne Angst vor Rache, Reue oder Bedauern. Es war alles bereits geschehen. Es ging nur noch darum, es zu betrachten.
Und jetzt hatte sie diesen Datenspeicher der Kath. Ihr Abschiedsgeschenk. Ihre Freude darüber war groß gewesen, beinah euphorisch. Nun aber, da sie ihr Lesegerät aktiviert hatte und sich kurz – ja, kurz! – in die Materie zu vertiefen begann, da spürte sie, wie die Angst ihren Hals emporkroch. Nicht davor, was sie entdecken würde, sondern vor der Entdeckungsreise selbst. Dies war der Gral. Es war das Schönste, Wunderbarste, es war umfassend, es war detailreich, es war alles, wovon sie in ihrer Sucht nach Vergessen durch Erkenntnis geträumt hatte.
Die ultimative Droge.
Das machte ihr Angst.
Dass sie sich verlor; dass sie eintauchte, aber nicht wieder hervorkam; dass die Sucht sie überwältigte; dass sie vergaß, wo und wann und wozu sie lebte und welchen Nutzen all das Wissen für ihre Umwelt hatte. Dass dies der Moment war, in dem sie jeden Bezug zur Realität verlor und auf immer in einem kontinuierlichen Orgasmus des Wissens ewige Glückseligkeit erfuhr.
Ewige Glückseligkeit war sehr gefährlich. Man verlor seine Identität, wenn es einem immer nur gut ging. Wozu noch jemand sein, wenn man sein Ich gar nicht mehr benötigte, um die Konflikte des Lebens zu sortieren, mit ihnen umzugehen und Lösungen zu finden? Deswegen glaubte Thasri nicht daran, dass Gott sie alle erschaffen hatte, um sie zu prüfen, ihnen Aufgaben zu geben, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Gott, dessen war sie sich sicher, war einfach nur sehr gelangweilt und hatte Angst, sich selbst zu verlieren. Er musste die ewige Glückseligkeit auf jeden Fall vermeiden, und was war dazu besser geeignet, als sich jede Menge Probleme zu schaffen und dann zu vergessen, dass man der Urheber derselben war? Es war die perfekte Lösung für eine sinnvolle Existenz, wenn diese objektiv sinnlos war.
Und dennoch, der Sog war da. Die Sucht, die Ausschüttung von riesigen Mengen Glückshormonen. Thasri ging durch die Datenmengen wie ein Junkie, der den besten, den reinsten, den mächtigsten Stoff gefunden hatte, den ultimativen Kick, den Trip aller Trips. Sie musste sich beherrschen. Sich reglementieren, sich aufhalten. Sie musste sich Probleme schaffen oder zumindest sich dieser erinnern. Sie musste ihrer Recherche, ihrer Tauchfahrt durch die Erkenntnis, einen realen Sinn, eine Funktion geben.
Sie war gut ausgebildet. Ihr Gehirn war eine trainierte Maschine. Sie konnte das. Sie hatte es im Griff. Sie konnte jederzeit damit aufhören, wenn sie es nur wollte.
War es eine Eingebung oder nur das Ergebnis ihrer Ausbildung, dass sie irgendwann mit der Systematik ihrer Durchsicht auf eine ungewöhnliche Weise begann. Nicht damit, die tiefste Historie der Kath zu ergründen, ihre Kultur und Sprache, ihre Expansion, ihre Politik. Alles sehr interessant, und sie würde sich dieser Sucht ein anderes Mal ergeben. Stattdessen tat sie etwas halb Überlegtes, halb Spontanes: Sie suchte nach den Koordinaten, die Horton Vigil ihnen überlassen hatte, aus dem seltsamen Hilferuf in einem auseinandergebrochenen Kollapsar, in dem Lebewesen in ewigem Eis gefangen gehalten wurden. Oder aufbewahrt. Ob sie noch lebten oder nicht, das wusste niemand. War es, wie sie vermuteten, der Eiskern, der Ort, an dem Dendh die Geschicke des Kalten Krieges lenkte?
Thasri rechnete nicht mit einem Ergebnis.
Sie bekam aber eines. Die Koordinaten entsprachen einem Satz, der im Speicher des Datenwürfels enthalten war. Die Kath kannten die Koordinaten und das Symbol für »Dridd« war mit ihnen verbunden, was möglicherweise bedeutete, dass es sich tatsächlich um den Eiskern handelte. Thasri war sehr vorsichtig mit den Dridd. Wenn sie einen Fehler machte, wurden sie zur nächsten Sucht nach den Kath. Eine noch stärkere, noch geheimnisvollere, noch schwieriger zu befriedigende Gier nach Wissen, das in der Vergangenheit verborgen liegt. Thasri wusste, dass die Gefahr real war.
Dennoch. Dies war wichtig. Sie wollten dorthin. Vielleicht wussten die Kath …
Sie las. Sie verstand. Und dann, nach einer guten halben Stunde des intensiven Studiums all dessen, was die Kath ihr überlassen hatten, dem Verfolgen von Querverweisen und anderen Referenzen, hatte sie ein Bild gewonnen, das nur eine Schlussfolgerung zuließ: Sie waren alle ein ganz klein wenig auf dem Holzweg.
»Aume!«, sagte sie ins Leere.
Das Schiff antwortete sofort. »Thasri. Kommst du auf die Brücke? Wir wollen die nächsten Schritte besprechen und es scheint, als würde es einen weiteren Aufbruch geben.«
Die Wissenschaftlerin wusste nicht, was damit gemeint war. Die Gruppendynamik ihrer seltsamen Gefährten hatte sie noch nicht ganz durchschaut, weil sie sich viel mehr mit dem befasste, was die Kath ihr hinterlassen hatten. Sie waren kein Team und sie wollte auch nicht allzu viele Emotionen in diese Beziehungen investieren. Sie kam ganz gut alleine zurecht, das zeigten ihre Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit.
Aber ein wenig neugierig wurde sie durch Aumes Ankündigung schon. Ehe sie losging, wollte sie noch loswerden, was sie auf dem Herzen hatte.
»Aume, hast du Zugriff auf mein Kath-Geschenk?«
»Nein. Und du hast es mit deinem eigenen Datenleser aufgerufen. Ich könnte den knacken. Ich respektiere aber deine Privatsphäre. Etwas Wichtiges gefunden?«
Sollte sie das glauben, das mit der Privatsphäre?
Sie beschloss, das Spiel mitzuspielen. Sich dieser Illusion nicht hinzugeben, war etwas verstörend.
»Ich habe etwas gefunden und wir alle sollten darüber reden.«
»Dann komm auf die Brücke.«
Thasri erhob sich, stopfte den Datenspeicher in ihre Tasche. Die Sucht ließ nach und machte neuer Entschlossenheit Platz. Ihre Suche hatte einen Sinn, sie ertrank nicht in der Ekstase der Erkenntnis. So war es besser.
»Ich bin schon unterwegs.«
6
Als Thasri die Brücke betrat, war sie die Letzte, die die Neuigkeit mitbekam, an der alle anderen bereits mit unterschiedlicher Begeisterung kauten. Aume aber war nicht überrascht. Ihre Menschenkenntnis, unterstützt durch ein sehr effektives neurales Netzwerk, wuchs stetig an. Es gab immer weniger Unerwartetes für sie.
Darius und sein Freund Sol reisten ab. Es war keine wirklich spontane Entscheidung. Der Prinz, sich seiner eigenen Bedeutung nun vollends gewahr, gehörte nicht zu jenen, die mitliefen, egal wie bescheiden er sich auch gab. Er hielt sich für jemanden, der handelte und Verantwortung übernahm.