Название | Märchen |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Учебная литература |
Серия | ide - informationen zur Deutschdidaktik |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783706560931 |
In diesem Beitrag möchte ich ein paar der markantesten Kunstmärchen um 1800 in ihrer Anlage und Ausformung einander gegenüberstellen. Eine Analyse der die Subgattung prägenden Konventionen muss sich dabei grundlegend von jener der Volksmärchen unterscheiden, insofern die Kunstmärchen als originelle, »individuelle Erfindung eines bestimmten, namentlich bekannten Autors« (Hasselblatt 1956, S. 134 f.) schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, bevor sie weitere Verbreitung fanden. In der neueren Märchenforschung wird denn auch vor einer »Fixierung auf die Volksmärchentradition« (Zeller 1993, S. 56) gewarnt.3 Manfred Grätz kritisierte schon in den 1980er Jahren, dass gemeinhin die »Angaben über die mündliche Vermittlung der Erzählungen so spärlich und zugleich so klischeehaft« seien, »daß sie nur mit größter Vorsicht übernommen werden sollten« (Grätz 1988, S. 29). Dennoch gestaltet sich der Versuch einer kontrastiven Abgrenzung von den Volksmärchen auch deshalb als schwierig, da die Kunstmärchen nicht zuletzt aus einem ähnlichen Fundus an Topoi und Stoffen schöpften – bzw. sich ihrer Motive bedienten. Insofern wird die Grimm’sche Märchen-Definition im Deutschen Wörterbuch sinnvollerweise um jene der Volksmärchen ergänzt, die in Anlehnung an Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache gefasst wurden als »1) »ein mährchen fürs volk, für die menge zur unterhaltung und auch wohl zur belehrung«« und »2) »mährchen, welche einem volke eigenthümlich sind, welche unter demselben erzählt werden«« (DWB, Bd. 26, Sp. 492).
1. Frühromantische Kunstmärchen bei Tieck und Fouqué: Rahmung und Selbstreferentialität
Zu den Kunstmärchendichtern der ersten und zweiten Stunde zählen heute zwei Autoren, deren Bekanntheit hinter denen ihrer Werke zurückbleibt: Ludwig Tieck (1773–1853) und Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843). Mit dem Novellenmärchen Der blonde Eckbert und den als Dramen verfassten »Kinder-« bzw. »Ammenmärchen« Der gestiefelte Kater und Ritter Blaubart setzte Tieck »phantastische« Erzählungen in Szene, die zum Teil noch spätaufklärerischen Traditionen folgten, sie aber mit den Mitteln der Ironie und der kunstvollen erzählerischen Rahmung wesentlich weiterentwickelten. Nach ihm belebte de la Motte Fouqué das Genre mit seiner Undine (1811) erneut, indem er seinerseits auf ein bekanntes Motiv der Sagendichtung zurückgriff, das Goethe bereits in der Ballade Der Fischer (1779) verdichtet hatte.
1.1 Der blonde Eckbert (Ludwig Tieck, 1797)
Im Unterschied zu den von den Gebrüdern Grimm überlieferten »Volksmärchen«, deren Kern in einem mündlich und anonym tradierten Legenden- oder Sagenstoff bestand, erhält das Kunstmärchen bei Tieck und de la Motte Fouqué eine beziehungsweise mehrere Rahmungen, innerhalb derer die Erzählsituation durch den Text selbst hergestellt wird. Eine solche tritt beispielsweise in Der blonde Eckbert infolge eines Besuchs am Abend ein, als Eckberts Frau Berta der Bitte nachkommt, dem befreundeten Gast ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Markiert wird diese Intradiegese durch einen Absatz, eingeleitet von Bertas Warnung an den Besucher wie die Leserschaft, die Erzählung »für kein Märchen« zu halten, »so sonderbar sie auch klingen mag« (Tieck 1979, S. 633). Selbstreferentialität wird so über die Perspektive der sekundären Erzählerin erzeugt, zugleich werden die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen unterlaufen. Dabei bleibt die Geschichte Berthas nicht ohne Folgen für die extradiegetische Handlung: Die »seltsame« Begebenheit ihrer Jugend, die für die Wendung ihres Schicksals gesorgt hatte und ein bislang zwischen ihr und Eckbert geteiltes Geheimnis gewesen war, schlägt am Ende auf die Psyche (vgl. Rippere 1970) Eckberts durch, »der tötet, um sich von Mitwissern einer verborgenen Schuld zu befreien« (Mayer/Tismar 2003, S. 60). Die märchenhafte Erzählung Bertas setzt auf diese Weise erst ein Wissen frei,4 das auf einen Inzest der Ehepartner hindeutet und die beiden einzigen Freunde Eckberts als Doppelgänger der alten Frau erscheinen lässt, an der sich Berta einst schuldig gemacht hat. Mayer und Tisman haben diesem Kunstmärchen einen »Repräsentationscharakter« attestiert, der den Ängsten und der Unsicherheit einer frühkapitalistischen, bürgerlichen Klasse gelte, »was sie zum eigenen Vorteil gegenüber den undurchschaubaren Mächten sich wünschen dürfte« (ebd.).
1.2 Der gestiefelte Kater (Ludwig Tieck, 1797)
In Der gestiefelte Kater spielt die Gattung mit ihrer eigenen Erscheinungsform, indem sie als dramatischer Stoff inszeniert wird, der die Möglichkeiten seiner Produktion und Rezeption bereits im Prolog reflektiert. So treffen im Publikum Zuschauer aus sowohl handwerklichen als auch bildungsbürgerlichen Kreisen zusammen und tauschen sich neugierig über das zu erwartende Schauspiel aus:
Fischer: […] Herr Müller, was sagen Sie zu dem heutigen Stücke?
Müller: […] Ein wunderlicher Titel ist es: »der gestiefelte Kater«. – Ich hoffe doch nimmermehr, dass man die Kinderpossen wird aufs Theater bringen.
Schlosser: Ist es denn eine Oper?
Fischer: Nichts weniger, auf dem Komödienzettel steht: »ein Kindermärchen«. (Tieck 2019, S. 5)
Tatsächlich gelangt mit dem Gestiefelten Kater ein humoriges Schauspiel zur Aufführung, das jedoch entgegen den Konventionen keinerlei Identifikation mit dem Inhalt oder dem Protagonisten zulässt, sondern auf ironisierende Weise ein Panorama der literarischen Topoi entwickelt, die das Märchen gemeinhin prägen: Ein schrulliger, alternder König, der seine Tochter zu verheiraten gedenkt, gehört ebenso dazu wie ein exotischer Prinz, ein Hofgelehrter und Hofnarr sowie der arme Bauernsohn namens Gottlieb, der einen sprechenden Kater erbt. Dieser soll ihm zum Glück verhelfen und erbittet sich darum jene Stiefel, die ihn bei seiner abenteuerlichen Reise begleiten – diese sind im Übrigen nichts anderes als der allumspannende Katalysator einer Nicht-Handlung von gebrochenen Szenen, in die Kater Hinze, »das Publikum« sowie die LeserInnen geworfen werden. Allein, das Publikum wie die autofiktionale Figur des Dichters stellen dabei selbst weite Teile des Dramentextes und sind in ihm ständig präsent; auf diese Weise wird die vierte Wand bereits hier, innerhalb der Frühromantik und vor aller moderner Dramaturgie à la Brecht, durchbrochen. In seinem Nachwort zur Textausgabe hat Helmut Kreuzer daher zutreffend formuliert, das Theaterstück sei als »eine zu seiner Zeit hochaktuelle Satire« konzipiert, deren »einziger Inhalt ein missglückter Theaterabend ist, der halb scheiternde Versuch einer fiktiven Theatertruppe, das Märchenstück eines fiktiven Autors vor einem fiktiven Publikum aufzuführen« (Kreuzer 2019, S. 75). Das Scheitern des Dichters, die Erwartungen von Zuschauern und Kritikern zu erfüllen, wird denn auch als grundsätzliches Problem und Vorbedingung der dramatischen Gattung veranschaulicht. Illustriert werden diese Realitätseffekte u. a. wiederholt in der Person des Fischers, der bereits mit der Sprachfertigkeit des Katers hadert und einfach nicht in das Stück hineinfinden will:
Die Kunstrichter (im Parterre): Der Kater spricht? – Was ist denn das?
Fischer: Unmöglich kann ich da in eine vernünftige Illusion hineinkommen. (Tieck 2019, S. 11)
Dabei lässt sich der sprechende Kater (mehr noch als die Figur des Dichters) als ironische Metapher für den vermeintlich schöpferischen Prozess von Literatur verstehen. So gerät der Broterwerb zu einer eigentlichen Odyssee, in der Kater Hinze mal in die Szene zweier Liebenden geworfen wird, die sich schwülstig ewige Treue schwören, mal am königlichen Gastmahl teilhat, nachdem er ein Kaninchen gefangen hat und schließlich doch noch alle Umstände – die Reise des Königs