Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
---|---|
Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
—————
Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe
Die Kunsttheorie der Frühromantiker und die Goethes sind in den Prinzipien einander entgegengesetzt.301 Und zwar erweitert das Studium dieses Gegensatzes ungemein die Kenntnis der Geschichte des Begriffs der Kunstkritik. Denn dieser Gegensatz bedeutet zugleich das kritische Stadium dieser Geschichte: in der problemgeschichtlichen Beziehung, in welcher der Kritikbegriff der Romantiker zu demjenigen Goethes steht, tritt unmittelbar das reine Problem der Kunstkritik an den Tag. Der Begriff der Kunstkritik selbst aber steht in einer eindeutigen Abhängigkeit vom Zentrum der Kunstphilosophie. Diese Abhängigkeit formuliert sich am schärfsten im Problem der Kritisierbarkeit des Kunstwerks. Ob diese geleugnet, ob sie behauptet wird, ist durchaus von den philosophischen Grundbegriffen abhängig, welche die Kunsttheorie fundieren. Die ganze kunstphilosophische Arbeit der Frühromantiker kann also dahin zusammengefaßt werden, daß sie die Kritisierbarkeit des Kunstwerks prinzipiell nachzuweisen gesucht haben. Die ganze Kunsttheorie Goethes steht hinter seiner Anschauung von der Unkritisierbarkeit der Werke. Nicht als ob er diese Ansicht anders als gelegentlich betont, nicht als ob er keine Kritiken geschrieben hätte. Er war an der begrifflichen Ausführung dieser Anschauung nicht interessiert, und noch in seiner spätern Zeit, die hier vor allem in Betracht kommt, hat er nicht wenige Kritiken verfaßt. Aber man wird in vielen unter ihnen eine gewisse ironische Zurückhaltung, nicht nur dem Werk, sondern auch dem eignen Geschäft gegenüber finden, und jedenfalls war die Absicht dieser Kritiken nur exoterisch und pädagogisch.
Die Kategorie, unter der die Romantiker die Kunst erfassen, ist die Idee. Die Idee ist der Ausdruck der Unendlichkeit der Kunst und ihrer Einheit. Denn die romantische Einheit ist eine Unendlichkeit. Alles was die Romantiker über das Wesen der Kunst aussagen, ist Bestimmung ihrer Idee, so auch die Form, welche in ihrer Dialektik von Selbstbegrenzung und Selbsterhöhung die der Einheit und Unendlichkeit in der Idee zum Ausdruck bringt. Unter »Idee« wird in diesem Zusammenhang das a priori einer Methode verstanden, ihr entspricht dann das Ideal als das a priori des zugeordneten Gehalts. Ein Ideal der Kunst kennen die Romantiker nicht. Sie gewinnen lediglich einen Schein davon durch jene Überdeckungen des poetischen Absolutums, wie Sittlichkeit und Religion. Alle Bestimmungen, die Friedrich Schlegel über den Gehalt der Kunst, besonders im »Gespräch über die Poesie« gegeben hat, entbehren im Gegensatz zu seiner Auffassung der Form jeder genaueren Beziehung auf das Eigentümliche der Kunst, geschweige daß er ein a priori dieses Gehalts gefunden hätte. Von einem solchen a priori nimmt die Kunstphilosophie Goethes ihren Ausgang. Ihr bewegendes Motiv ist die Frage nach dem Ideal der Kunst. Auch das Ideal ist eine höchste begriffliche Einheit, die des Gehalts. Seine Funktion ist also eine völlig andere als die der Idee. Es ist nicht ein Medium, welches den Zusammenhang der Formen in sich birgt und aus sich bildet, sondern eine Einheit anderer Art. Erfaßbar ist es allein in einer begrenzten Vielheit reiner Inhalte, in die es sich zerlegt. In einem begrenzten, harmonischen Diskontinuum reiner Inhalte also manifestiert sich das Ideal. In dieser Auffassung berührt sich Goethe mit den Griechen. Die Idee der Musen unter der Hoheit Apollons ist von der Kunstphilosophie aus gedeutet die der reinen Inhalte aller Kunst. Die Griechen zählten solcher Inhalte neun, und gewiß war weder deren Art noch Zahl willkürlich bestimmt. Der Inbegriff der reinen Inhalte, das Ideal der Kunst, läßt sich also als das Musische bezeichnen. Wie die innere Struktur des Ideals eine unstetige im Gegensatz zur Idee ist, so ist auch der Zusammenhang dieses Ideals mit der Kunst nicht in einem Medium gegeben, sondern durch eine Brechung bezeichnet. Die reinen Inhalte als solche sind in keinem Werk zu finden. Goethe nennt sie die Urbilder. Die Werke können jene unsichtbaren – aber anschaulichen – Urbilder, deren Hüterinnen die Griechen unter dem Namen der Musen kannten, nicht erreichen, sie vermögen nur in mehr oder weniger hohem Grad ihnen zu gleichen. Dieses »Gleichen«, welches die Beziehung der Werke zu den Urbildern bestimmt, ist vor einem verderblichen materialistischen Mißverständnis zu bewahren. Es kann prinzipiell nicht zur Gleichheit führen, und nicht durch Nachahmung kann es erreicht werden. Denn die Urbilder sind unsichtbar und das »Gleichen« bezeichnet eben die Beziehung des höchsten Wahrnehmbaren zum prinzipiell allein Anschaubaren. Dabei ist Gegenstand der Anschauung die Notwendigkeit des im Gefühl sich als rein ankündigenden Inhalts, vollständig wahrnehmbar zu werden. Das Vernehmen dieser Notwendigkeit ist das Anschauen. Das Ideal der Kunst als Gegenstand der Anschauung ist also notwendige Wahrnehmbarkeit – welche niemals im Kunstwerk selbst, als welches Gegenstand der Wahrnehmung bleibt, rein erscheint. – Für Goethe waren die Werke der Griechen unter allen diejenigen, welche den Urbildern am nächsten kamen, sie wurden ihm gleichsam zu relativen Urbildern, zu Vorbildern. Als Werke der Alten weisen diese Vorbilder eine doppelte Analogie zu den Urbildern selbst auf; sie sind wie diese im doppelten Sinn des Wortes vollendet; sie sind vollkommen und sie sind vollbracht. Denn nur das völlig abgeschlossene Gebilde kann Urbild sein. Nicht im ewigen Werden, in der schöpferischen Bewegung im Formenmedium liegt nach Goethes Auffassung der Urquell der Kunst. Die Kunst selbst schafft nicht ihre Urbilder – diese beruhen vor allem geschaffenen Werk in derjenigen Sphäre der Kunst, wo diese nicht Schöpfung, sondern Natur ist. Die Idee der Natur zu erfassen und sie damit tauglich zum Urbild der Kunst (zum reinen Inhalt) zu machen, das war im letzten Grund Goethes Bemühen in der Ermittlung der Urphänomene. In einem tieferen