Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
Der Schlüssel für Baudelaires Verhältnis zu Gautier ist in dem mehr oder minder deutlichen Bewußtsein des Jüngern zu suchen, daß sein destruktiver Impuls auch an der Kunst keine unbedingte Schranke habe. Wirklich ist der allegorischen Intention diese Schranke durchaus keine absolute. Baudelaires Reaktionen gegen die école néopaïenne lassen diesen Zusammenhang klar erkennen. Er hätte auch schwerlich seinen Essai über Dupont schreiben können, hätte nicht dessen radikaler Kritik am Begriff der Kunst eine eigene nicht minder radikale entsprochen. Diese Tendenzen suchte Baudelaire mit Erfolg durch die Berufung auf Gautier zu vertuschen.
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〈38〉
Es ist nicht zu leugnen, daß es zu den Besonderheiten von Hugos Glauben an den Fortschritt und von Hugos Pantheismus gehört, mit der Botschaft der klopfenden Tische übereinzukommen. Die Bedenklichkeit dieser Tatsache tritt allerdings vor derjenigen zurück, die an die fortlaufende Kommunikation seiner Dichtung an die Welt der Klopfgeister gebunden ist. Denn das Besondere ist in der Tat viel weniger, daß seine Dichtung Motive der spiritistischen Offenbarung aufnimmt oder aufzunehmen scheint als daß er sie vor der Geisterwelt gleichsam ausstellt. Dieses Schauspiel ist mit der Haltung anderer Dichter schwer zu vereinbaren.
Bei Hugo ist es die Menge, mit der die Natur ihr elementares Recht an der Stadt übt. (J 32, 1)
Über den Begriff der multitude und das 〈Verhältnis〉 von »Menge« und »Masse«.
Das ursprüngliche Interesse an der Allegorie ist nicht sprachlich sondern optisch. »Les images, ma grande, ma primitive passion.«
Frage: Wann beginnt im Stadtbild die Ware hervorzutreten? Entscheidend wäre, über das Eindringen der Schaufenster in die Fassaden statistisch unterrichtet zu sein.
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〈39〉
Die Mystifikation bei Baudelaire ist ein apotropäischer Zauber, ähnlich der Lüge bei der Prostituierten.
Viele seiner Gedichte haben ihre unvergleichlichste Stelle am Anfang – da wo sie gleichsam neu sind. Man hat oft darauf hingewiesen.
Der Massenartikel hat Baudelaire als Vorbild vor Augen gestanden. Darin hat sein »Amerikanismus« das solideste Fundament. Er wollte ein »poncif« herausbringen. Lemaître bestätigt ihm, daß es gelungen sei.
Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten.
In der Gestalt, die die Prostitution in den großen Städten angenommen hat, erscheint die Frau nicht nur als Ware sondern im prägnanten Sinne als Massenartikel. Durch die artifizielle Verkleidung des individuellen Ausdrucks zugunsten eines professionellen, wie er als Werk der Schminke zustande kommt, wird das angedeutet. Daß es dieser Aspekt der Hure war, der sexuell bestimmend für Baudelaire wurde, dafür spricht nicht zuletzt daß in seinen vielfältigen Evokationen der Hure nie das Bordell den Hintergrund bildet, dagegen oft die Straße.
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〈40〉
Es ist sehr wichtig, daß das »Neue« bei Baudelaire keinerlei Beitrag zum Fortschritt leistet. Im übrigen findet man bei Baudelaire kaum je einen Versuch, sich mit der Vorstellung vom Fortschritt ernstlich auseinanderzusetzen. Es ist vor allem der »Fortschrittsglaube« den er mit seinem Haß verfolgt, wie eine Ketzerei, eine Irrlehre, nicht wie einen gewöhnlichen Irrtum. Blanqui seinerseits zeigt keinerlei Haß gegen den Fortschrittsglauben; er überschüttet ihn aber im Stillen mit seinem Hohn. Es ist keineswegs ausgemacht, daß er damit seinem politischen Kredo untreu wird. Die Aktivität des Berufsverschwörers wie Blanqui einer gewesen ist, setzt durchaus nicht den Glauben an den Fortschritt sondern zunächst nur die Entschlossenheit, mit dem derzeitigen Unrecht aufzuräumen voraus. Diese Entschlossenheit, die Menschheit aus der jeweils ihr drohenden Katastrophe in letzter Stunde herauszureißen, ist gerade für Blanqui, mehr als für einen andern der revolutionären Politiker dieser Zeit das Maßgebende gewesen. Er hat sich immer geweigert, Pläne für das zu entwerfen, was »später« kommt. Mit alledem läßt sich Baudelaires Verhalten 1848 sehr wohl vereinbaren.
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〈41〉
Baudelaire hat sich zuletzt, im Angesicht des geringen Erfolgs, den sein Werk hatte, mit in den Kauf gegeben. Er hat sich seinem Werk nachgeworfen und damit für seine Person bis ans Ende bewahrheitet, was er von der unumgänglichen Notwendigkeit der Prostitution für den Dichter dachte.
Es ist eine der für das Verständnis von Baudelaires Dichtung entscheidenden Fragen, in welcher Weise sich das Antlitz der Prostitution durch die Entstehung der großen Städte geändert hat. Denn soviel steht fest: Baudelaire bringt diese Änderung zum Ausdruck, sie ist einer der größten Gegenstände seiner Dichtung. Die Prostitution kommt mit der Entstehung der großen Städte in den Besitz neuer Arkana. Deren eines ist zunächst der labyrinthische Charakter der Stadt selbst. Das Labyrinth, dessen Bild dem flaneur in Fleisch und Blut eingegangen ist, erscheint durch die Prostitution gleichsam farbig gerändert. Das erste Arkanum, über das sie verfügt ist also der mythische Aspekt der Großstadt als Labyrinth. Zu ihm gehört, wie es sich von selbst versteht, ein Bild von dem Minotaurus 〈in〉 ihrer Mitte. Daß er dem Einzelnen den Tod bringt, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist das Bild der todbringenden Kräfte, die er verkörpert. Und auch dieses ist für den Bewohner der großen Städte ein neues.
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〈42〉
Die fleurs du mal als Arsenal; Baudelaire schrieb gewisse seiner Gedichte um andere, vor ihm gedichtete, zu zerstören. So ließe die bekannte Reflexion von Valéry sich weiter entwickeln.
Es ist außerordentlich wichtig – auch das ist zur Ergänzung der Valéry’schen Notiz zu sagen – daß Baudelaire auf das Konkurrenzverhältnis in der poetischen Produktion stieß. Natürlich sind persönliche Rivalitäten zwischen Dichtern uralt. Hier handelt es sich aber gerade um die Transponierung der Rivalität in die Sphäre der Konkurrenz auf dem offnen Markt. Dieser, nicht die Protektion eines Fürsten ist zu erobern. In diesem Sinne aber war es eine wirkliche Entdeckung von Baudelaire, daß er Individuen gegenüber stehe. Die Desorganisation der poetischen Schule〈n〉, der »Stile« ist das Komplement des offnen Marktes, der sich als Publikum vor dem Dichter öffnet. Das Publikum als solches tritt bei Baudelaire zum ersten Male ins Blickfeld – das ist die Voraussetzung dafür, daß er dem »Schein« poetischer Schulen nicht mehr zum Opfer fiel. Und umgekehrt: weil die »Schule« sich in seinen Augen als bloßes Oberflächen-Gebilde darstellte, trat das Publikum 〈als〉 eine stichhaltigere Realität ihm vor Augen.
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〈43〉
Unterschied von Allegorie und Gleichnis〈.〉
Baudelaire und Juvenal. Das Entscheidende ist: wenn Baudelaire die Verworfenheit und das Laster schildert, so begreift er sich immer mit ein. Er kennt nicht die Geste des Satirikers. Allerdings betrifft das nur die Fleurs du mal, die sich in dieser Haltung durchaus von den Prosaaufzeichnungen unterschieden zeigen.
Grundsätzliche Betrachtungen über das Verhältnis das bei den Dichtern zwischen ihren theoretischen Prosaaufzeichnungen und ihren Dichtungen besteht. In den Dichtungen erschließen sie einen Bereich des eignen Innern, der ihrer Reflexion gemeinhin nicht zugänglich ist. Dies ist für Baudelaire – unter Hinweis auf andere wie Kafka und Hamsun zu zeigen.
Die Dauer der Wirkung