Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Название Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор произведения Walter Benjamin
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9789176377444



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Wunsch die Krone, welche der Erfahrung beschieden ist. In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die Ferne der Zeiten eintreten; daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne des Raumes stürzt, zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist. Die Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zuoberst liegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe. Die Zeit, die in dem Augenblick enthalten ist, da das Licht der Sternschnuppe für einen Menschen aufblitzt, ist vom Stoffe derer, die von Joubert mit der ihm eigenen Sicherheit umrissen worden ist. »Zeit«, sagt er, »wird auch in der Ewigkeit vorgefunden; aber es ist nicht die irdische Zeit, die weltliche … Diese Zeit zerstört nicht, sie vollendet nur.«1182 Sie ist das Gegenstück zu der höllischen, in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen. Die Verrufenheit des Hasardspiels hängt in der Tat daran, daß der Spieler selbst Hand ans Werk legt. (Ein unverbesserlicher Klient der Lotterie wird nicht derselben Ächtung verfallen wie der Hasardspieler in einem engeren Sinn.)

      Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit). Es hat daher seinen genauen Sinn, wenn bei Baudelaire der Sekundenzeiger – la Seconde – als Partner des Spielers auftritt.

      Souviens-toi que le Temps est un joueur avide

       Qui gagne sans tricher, à tout coup! c’est la loi. 1183

      In einem andern Text vertritt die Stelle der hier gedachten Sekunde der Satan selbst1184. Seinem Revier gehört ohne Zweifel auch die schweigsame Höhle an, in welche das Gedicht »Le jeu« die verweist, die dem Hasardspiel verfallen sind.

      Voilà le noir tableau qu’en un rêve nocturne

      Je vis se dérouler sous mon œil clairvoyant.

      Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne,

      Je me vis accoudé, froid, muet, enviant,

       Enviant de ces gens la passion tenace. 1185

      Der Dichter nimmt nicht am Spiele teil. Er steht in seiner Ecke; nicht glücklicher als sie, die Spielenden. Er ist auch ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner. Nur schlägt er das Rauschgift aus, mit dem die Spielenden das Bewußtsein zu übertäuben suchen, das sie dem Gang des Sekundenzeigers ausgeliefert hat1186.

      Et mon cœur s’effraya d’envier maint pauvre homme

      Courant avec ferveur à l’abîme béant,

      Et qui, soûl de son sang, préférerait en somme

       La douleur à la mort et l’enfer au néant! 1187

      Baudelaire macht in diesen letzten Versen die Ungeduld zum Substrat der Spielwut. Er hat es in reinster Beschaffenheit in sich vorgefunden. Sein Jähzorn besaß die Ausdruckskraft der Iracundia des Giotto in Padua.

      —————

      Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der durée, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt. Proust hält es mit diesem Glauben und hat aus ihm die Exerzitien hervorgebildet, in denen er lebenslang darauf ausgewesen ist, Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben. Er war ein unvergleichlicher Leser der »Fleurs du mal«; denn er hat Verwandtes in ihnen am Werk gespürt. Es gibt keine Vertrautheit mit Baudelaire, die Prousts Erfahrung an ihm nicht mit umfaßt. »Die Zeit«, sagt Proust, »ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende. So versteht man, warum Wendungen wie ›wenn eines Abends‹ und ähnliche bei ihm häufig sind.«1188 Diese bedeutenden Tage sind Tage der vollendenden Zeit, mit Joubert zu sprechen. Es sind Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten. Er steht unvermittelt neben dem der ›modernen Schönheit‹.

      Das gelehrte Schrifttum über die correspondances (sie sind Gemeingut der Mystiker; Baudelaire ist bei Fourier auf sie gestoßen) beiseiteschiebend, macht Proust darum nicht mehr Aufhebens von den artistischen Variationen über den Tatbestand, die von den Synästhesien bestritten werden. Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zu eigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den »Fleurs du mal« aufgenommen hat. Wenn es eine geheime Architektur dieses Buches, der viele Spekulationen gewidmet worden sind, wirklich gibt, so dürfte der Gedichtkreis, der den Band eröffnet, einem unwiederbringlich Verlorenen gewidmet sein. In diesen Kreis fallen zwei Sonette, die in ihren Motiven identisch sind. Das erste, überschrieben »Correspondances«, beginnt:

      La Nature est un temple où de vivants piliers

      Laissent parfois sortir de confuses paroles;

      L’homme y passe à travers des forêts de symboles

      Qui l’observent avec des regards familiers.

      Comme de longs échos qui de loin se confondent

      Dans une ténébreuse et profonde unité,

      Vaste comme la nuit et comme la clarté,

       Les parfums, les couleurs et les sons se répondent. 1189

      Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als ›das Schöne‹ dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst1190.

      Die correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben. Das legte Baudelaire in dem Sonett nieder, das »La vie antérieure« überschrieben ist. Die Bilder der Grotten und der Gewächse, der Wolken und der Wogen, die der Beginn dieses zweiten Sonetts heraufruft, heben sich aus dem warmen Dunst der Tränen, welche Tränen des Heimwehs sind. »Der Wanderer blickt in diese von Trauer umflorten Weiten, und in seine Augen steigen Tränen der Hysterie, hysterical tears«1191, schreibt Baudelaire in seiner Anzeige der Gedichte von Marceline Desbordes-Valmore. Simultane Korrespondenzen, wie sie später von den Symbolisten kultiviert wurden, gibt es nicht. Vergangenes murmelt in den Entsprechungen mit; und die kanonische Erfahrung von ihnen hat selber ihre Stelle in einem früheren Leben:

      Les houles, en roulant les images des cieux,

      Mêlaient d’une façon solennelle et mystique

      Les tout-puissants accords de leur riche musique

      Aux couleurs du couchant reflété par mes yeux.

       C’est là que j’ai vécu. 1192

      Daß der restaurative Wille Prousts in den Schranken der irdischen Existenz befangen bleibt, Baudelaires über sie hinausschießt, kann als symptomatisch dafür begriffen werden, wieviel ursprünglicher und machtvoller die Gegenkräfte sich Baudelaire angekündigt haben. Und ihm glückte schwerlich Vollkommeneres als wo er, von ihnen überwältigt, zu resignieren scheint. Das »Recueillement« zeichnet gegen den tiefen Himmel die Allegorien der alten Jahre ab,

      … vois se pencher les défuntes Années,

      Sur les balcons du ciel, en robes surannées1193.

      In diesen Versen bescheidet sich Baudelaire, dem Unvordenklichen, das sich ihm entzog, in der Gestalt des Altmodischen zu huldigen. Den Jahren, welche