Название | H. G. Wells – Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Herbert George Wells |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962813628 |
»Sie werden verblüfft sein«, sagte Mr. Marvel hinter der Hand hervor. »Es ist kolossal.«
»Was Sie sagen!«
»Die Sache ist die«, begann Mr. Marvel eifrig, mit vertraulichem Geflüster. Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck vollkommen. »Au!«, rief er und richtete sich steif auf; auf seinem Gesicht spiegelte sich körperliches Leiden. »Au weh!«
»Was gibt’s?«, fragte der Matrose betroffen.
»Zahnschmerzen«, antwortete Mr. Marvel und legte die Hand auf seine Wange. Er griff nach seinen Büchern. »Ich muss gehen«, sagte er und rutschte in seltsamer Weise auf der Bank von seinem Genossen fort.
»Aber Sie wollten mir doch gerade von diesem unsichtbaren Menschen erzählen«, warf der Matrose ein.
Mr. Marvel schien mit sich selbst zu Rate zu gehen.
»Unsinn«, sagte eine Stimme.
»Es war nur Unsinn«, sagte Mr. Marvel.
»Aber es steht in der Zeitung«, wendete der Matrose ein.
»Nichtsdestoweniger ist es Unsinn«, sagte Marvel. »Ich kenne den Kerl, welcher die Lüge zuerst verbreitete. Es gibt überhaupt keinen unsichtbaren Menschen …«
»Aber die Zeitungen? Wollen Sie damit sagen – –?«
»Kein wahres Wort daran«, beharrte Mr. Marvel.
Der Matrose starrte ihn an, die Zeitung noch immer haltend. Mr. Marvel drehte sich um. »Warten Sie ein wenig«, rief der Matrose, wobei er sich langsam erhob. »Wollen Sie damit sagen – –?«
»Ja« erwiderte Mr. Marvel.
»Warum haben Sie mich denn immer weiter reden lassen – all das unsinnige Zeug, was? Wie können Sie sich unterstehen, einen Menschen so zum Narren zu halten?«
Mr. Marvel blies die Luft durch die Zähne. Der Matrose wurde plötzlich sehr rot und ballte die Fäuste.
»Seit zehn Minuten spreche ich da«, sagte er, »und du kleiner dickbauchiger Hanswurst hast nicht einmal soviel Lebensart – –«
»Hüten Sie sich, mit mir anzufangen«, sagte Mr. Marvel.
»Mit dir anfangen! Ich hätte nicht übel Lust –«
»Vorwärts!«, sagte eine Stimme, und Mr. Marvel wurde plötzlich herumgedreht und in einer sehr komischen Weise zum Gehen gebracht. »Ja, schauen Sie nur, dass Sie weiterkommen«, sagte der Matrose. »Wen meinen Sie?«, antwortete Mr. Marvel. Er bewegte sich aber schon mit seltsamen, hastigen Schritten ruckweise vorwärts. Nicht lange darauf hörte man ihn mit sich selbst sprechen. Einwendungen machen und heftige Beschuldigungen hervorbringen.
»Dummer Kerl!«, sagte der Matrose, der, die Beine auseinandergespreizt und die Hände in die Taschen versenkt, der enteilenden Gestalt nachblickte. »Ich will dich lehren, mich zum Narren halten, du dummer Kerl, du! Hier steht es in der Zeitung!«
Mr. Marvel sprach unzusammenhängendes Zeug vor sich hin und verschwand bei einer Biegung. Der Matrose stand aber noch immer breitspurig in der Mitte der Straße, bis ein Fleischerwagen ihn von dort vertrieb. Dann wendete er sich Port Stowe zu. »Wirklich merkwürdige Narren«, sagte er zu sich selbst. »Nur um mich zu ärgern – das war seine dumme Absicht … Es steht aber doch in der Zeitung!«
Und noch etwas anderes sehr Merkwürdiges war, wie er bald darauf hörte, ganz in seiner Nähe vorgefallen. Und das war eine Vision von »einer Handvoll Gold« (nicht mehr und nicht weniger), die ohne sichtbaren Halt an der Mauer der St. Michaels Straße entlang gewandert war. Ein anderer Seemann hatte am selben Morgen dieses Wunder gesehen. Er hatte nach dem Golde gehascht, war aber zu Boden geschlagen worden. Als er seiner Sinne wieder mächtig war, war das Truggold verschwunden. Unser Matrose erklärte, er sei in der Laune, alles zu glauben, aber das sei ein wenig zu stark. Später allerdings änderte er seine Meinung.
Die Geschichte vom fliegenden Geld war richtig. Und überall in der ganzen Gegend hatten an jenem Tage Geldrollen oder einzelne Goldstücke aus den Geldladen der Geschäfte und Wirtshäuser – bei dem schönen Wetter standen die Türen überall offen – ja selbst aus der Filiale der mächtigen Bank von England sich in aller Stille und mit großer Geschicklichkeit von selbst davongemacht, waren ruhig längs der Mauern an schattigen Orten davongeschwebt und hatten sich so den suchenden Blicken entzogen. Und immer und unfehlbar fand ihr geheimnisvoller Flug in den Taschen jenes nervösen Herrn mit dem unmodernen Zylinder, der vor dem Wirtshause in einer Vorstadt von Port Stowe saß, sein Ende, obwohl kein menschliches Auge es gewahr wurde.
Erst zehn Tage später, als die Ereignisse von Burdock schon allbekannt waren, brachte der Matrose alle diese Vorkommnisse in Verbindung und es dämmerte ihm, wie nahe er dem geheimnisvollen Unsichtbaren gewesen war.
15. Kapitel – Der Flüchtling
Spät am Nachmittag saß Dr. Kemp in seinem Studierzimmer in der Villa auf dem Hügel, von dem aus man Burdock überblickt. Das Studierzimmer war ein hübscher, kleiner, aussichtsturmartiger Raum mit drei Fenstern nach Norden, Westen und Süden. An den Wänden standen Regale mit Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften, in der Mitte ein großer Schreibtisch. Unter dem einen der Fenster befand sich ein Tischchen mit einem Mikroskop, Messinstrumenten, Reinkulturen und allerlei Flaschen. Obgleich die Sonne noch am Himmel stand, war die Lampe im Zimmer schon angezündet; die Fensterläden waren nicht geschlossen, da Dr. Kemp nicht Gefahr lief, von Neugierigen belästigt zu werden. Er war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann mit flachsblondem Haar und fast weißem Schnurrbart. Von dem Werk, an dem er arbeitete, hatte er eine hohe Meinung; es musste ihn nach seiner Meinung zum Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften machen.
Bald schweifte sein Auge von seiner Arbeit ab und heftete sich auf den glühenden Sonnenball, der hinter dem gegenüberliegenden Hügel verschwand. Wohl eine Minute blieb er mit der Feder im Munde regungslos sitzen und bewunderte die reichen Goldtöne auf dem Gipfel des Berges; dann fesselte die kleine, schwarze Gestalt eines Mannes, der den Hügel herab direkt auf die Villa zurannte, seine Aufmerksamkeit. Es war ein untersetzter, kleiner Mann mit einem Zylinder; und er lief so schnell, dass man seine Füße kaum mehr sehen konnte.
»Wieder ein solcher Esel«, sagte Dr. Kemp. »Gerade so ein Esel wie der Mann, der heute früh an der Ecke in mich hineinrannte und schrie: ›Der Unsichtbare kommt!‹ Die Leute sind wie