LebensLichtSpuren. Nanaja Meropis

Читать онлайн.
Название LebensLichtSpuren
Автор произведения Nanaja Meropis
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783969405222



Скачать книгу

trübe Flüssigkeit im Glas gerichtet. Ich betrachtete die gelbliche Substanz und die scheinbar mit der Flüssigkeit vermischten Fragmente des Gehirns. Dann zog sich mein Interesse tief in die Linien des Gehirns, die Umrisse, die nicht entzifferbare Farbe, die Dicke, seine Größe, und es fehlte mir nur das Gewicht, die Temperatur und das Gefühl zu empfinden.

      Ich öffnete das Glas, steckte die Hand hinein und nahm das Gehirn. Erst mit der rechten, dann mit der anderen Hand. Die ganze ovale Form hatte ich in meinen Händen. Ich nahm es dicht ans Ohr und dachte, etwas gehört zu haben, ein nicht zu entzifferndes Geräusch von Unermesslichkeit wie das, was wir in der Meeresschnecke hören. Ich dachte daran, es zu riechen, aber mir fiel ein, dass der Duft nicht das Original sein würde. Für einen langen Moment starrte ich auf das Gehirn in meinen Händen, ich wollte es von dem starken Geruch wegwaschen, der meinen Blick störte. Mitleid fühlte ich, und trotz des Geruchs umarmte ich es, lehnte es an meine Brust, nah an mein Herz und mit dem Kopf gesenkt, bedeckte ich es mit der linken Wange.

      So war ich, fast am Weinen, als die Lehrerin plötzlich ins Labor kam und blitzend rief: Was machst du da?

      Der Schock war so tief, dass sich meine Arme in Panik lösten und das Gehirn auf den Boden fiel.

       MUSIKDUSCHE

      Zu einer Zeit, als es noch keine Radiowecker gab, wurde ich in meinen Kinderjahren dennoch nahezu täglich unsanft geweckt durch das Aktionsprogramm meines Vaters, der beim Frühstück das Radio in voller Lautstärke genoss. Und so dröhnten abwechselnd Marsch- oder Schlagermusik des örtlichen Regionalprogramms aus dem eigens im kleinen Esszimmer angebrachten Lautsprecher bis hin zu meinem Bett.

      Laute Musik zum Aufwachen war das Normale – und ich ersparte mir dabei so manche Kalt-Muntermacher-Dusche am Morgen. Mein Vater brauchte es einfach, die Lautsprecher immer auf volle Fahrt voraus einzustellen, vielleicht auch deshalb, weil er beruflich seinen Schülern im Schreibmaschinen-Unterricht das richtige Tippen – wie damals üblich – im Takt der Marschmusik lehrte. Eine alte Schellack-Übungs-Schallplatte, die ich viel später gefunden habe, stellt eine wahre Rarität dar, und jede Disco müsste unverzüglich schließen, wenn sie diese Platte in voller Lautstärke durch ihre Boxen jagen würde.

      Es gab aber auch Tage, an denen ich zu Beginn des allzu frühen väterlichen Morgenprogramms verärgert die Decke über meinen Kopf zog und weiterschlief. Bis dann einige Zeit später meine Mutter meist dreimal, stets etwas lauter, rief: „Zeit zum Aufstehen!“ Das wirkte eigentlich immer und ich kam auch fast nie zu spät zur Schule. Eines Tages aber verschliefen wir alle: Meine Mutter musste kein väterliches Frühstück richten und es gab auch keinen Morgenmarsch, denn mein Vater hatte einen arbeitsfreien Tag.

       EINE HAND VOLL ROSINEN

      Meine Freundin Anna und ich fassen den Entschluss, von zu Hause abzuhauen. Unsere Mütter sind wie üblich beschäftigt mit ihrer Hausarbeit und bemerken daher unsere Abwesenheit nicht. Wir sind beide vier Jahre alt und sehr neugierig auf die Welt da draußen. Mit Mühe können wir die große, schwere Haustür öffnen. Beschwingt gehen wir Hand in Hand durch die Allee, in der unser Haus steht, und erreichen bald eine lange, breite Straße. Es gibt viele Händler, die hier Obst oder andere Waren verkaufen. Die Verkäufer werben lautstark für ihre Waren. Rote Doppelstockbusse und gelbe Taxen fahren die Menschen in die Stadt, wohin auch immer sie wollen. Fasziniert von diesen Bildern gehen wir weiter und blicken mit großen Augen auf diese neue, wunderbare Welt, ohne zu bemerken, wie weit wir uns von zu Hause entfernt haben.

      Wie lange und wie weit wir gegangen sind, wissen wir nicht. Mitten in der Stadt entdeckt uns eine Frau, die gleich bemerkt hat, dass wir ohne Begleitung sind. Sie fragt nach unseren Eltern und unserer Adresse. Doch wir wissen keine Antwort. Sie nimmt uns mit zu einer Polizeistation und übergibt uns dort den Verantwortlichen. Die Beamten fragen nach unseren Eltern. Obwohl wir begeistert von unserem Ausflug sind und auch die Anwesenheit in der Polizeistation als ein Erlebnis empfinden, versuchen sie uns zu trösten. Doch das ist keineswegs notwendig, da wir viel zu sehr damit beschäftigt sind, die neue Umgebung in uns aufzusaugen. Die Beamten sagen, dass unsere Eltern uns sicher suchen werden und geben uns eine Hand voll Rosinen. Glücklich essen wir die Rosinen, voller Genuss, als seien wir zu Hause. Kurz darauf treffen unsere besorgten Eltern ein, die uns seit Stunden gesucht haben.

      Es gab keinen Ärger zu Hause. Darüber erstaunt blicken Anna und ich uns an. Ich zeige ihr eine Rosine, die ich noch in der Hand halte, wir lächeln.

       DIE ALTEN HAUSREZEPTE

      „Ihr Kind soll Kamillentee trinken, mit Salzwasser inhalieren und drei Mal täglich mit Salbeitee gurgeln. Und vielleicht auch eine Hühnersuppe essen. Dann sollte die fieberhafte Erkältung bald zurückgehen“, meinte unsere Hausärztin, nahm ihre große Arzttasche und verabschiedete sich. Meine Mutter fuhr mir zärtlich über den Kopf und meinte: „Das wird schon wieder. Ich koche dir gleich einen Kamillentee!“

      Ich lag ermattet in meinem Krankenbett, das direkt gegenüber der Küche im kleinen Speisezimmer lag. Ich durfte es nur benutzen, wenn ich krank war, was es leichter machte, mich mit meiner in der Küche weilenden Mutter auszutauschen. Doch Kommunikation kam diesmal nicht in Frage, ich war benommen, hatte hohes Fieber, neigte zum Phantasieren, und die Essigsocken, die mir meine Mutter mehrmals täglich anlegte, engten meinen Aktionsraum noch mehr ein. Kamillentee war mir als Kind schwer erträglich, dann schon lieber russischer Tee, und am liebsten wäre mir mein Kakao gewesen, aber den gab es im Krankheitsfalle nur selten.

      Besonders dramatisch wurde es aber, wenn man mir zuredete, im Krankheitsfalle zumindest einmal täglich „einen kleinen Teller“ warme Suppe zu essen. Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit und wollte nur liegen und ausruhen. Auch diesmal kam meine Mutter pünktlich zur Mittagessenszeit mit der von der Ärztin empfohlenen Hühnersuppe, die durch ihre Vitamine und andere wertvolle Inhaltsstoffe mein Immunsystem aufbauen sollte. Wenig begeistert nahm ich den Teller, ließ mir den ersten Löffel von meiner Mutter widerwillig einflößen, blies aber lange und heftig auf die heiße Suppe, sodass letztlich nur weniger als die Hälfte den Weg in meinen Mund fand. Dann begab sie sich wieder in die Küche und überließ mich meinem Schicksal. Mit schwacher Stimme rief ich ihr hinterher: „Ich kann schon alleine weiter essen!“

      Nach einigen Minuten, als meine Mutter Nachschau hielt, war mein Teller tatsächlich leer. Ich stellte mich schlafend, was meine Mutter aber nicht davon abhielt, mir noch einen zweiten Suppenteller zu servieren. Am nächsten Tag, an dem es mir ein wenig besser ging, brachte sie mir wieder zwei Hühnersuppenteller zum Mittagessen, die ich zu ihrer Überraschung schnell gegessen hatte. Danach sollte ich kurz aufstehen, um mich ins Wohnzimmer zu setzen. Als meine Mutter in der Zwischenzeit mein Bett neu bezog, entfuhr ihr ein Schreckensschrei: „Mein Gott, hier in deinen Nachttopf hast du also die gute Hühnersuppe geleert!“

      Seit diesem Tag, an dem mein kleines Geheimnis entdeckt worden war, wurde ich beim Suppenessen immer streng kontrolliert. Zum Glück hat jedoch niemand herausgefunden, dass zwei unserer schönsten Zimmerpflanzen in dieser Woche verwelkt waren, weil ich sie mit heißer Hühnersuppe gegossen hatte.

       EISBRUCH

      Über die vom tagelangen Dauerfrost erstarrten Wiesen stapfe ich auf den Fluss zu. Ein graues, kaltes Tuch spannt sich zwischen Himmel und Erde. Ich liebe den Winter, drücke schon im November meine Nase an die Fensterscheiben meines Kinderzimmers unter dem Dach und sehne mich nach Schneeflocken. Verkrusteter Schnee auf den Wiesen knirscht unter meinen Füßen. Bald erreiche ich den Fluss. Eine dicke Eisschicht bedeckt den sonst quirligen Flusslauf. Eisige Stille liegt über dem Gewässer, in dem ich im Sommer schwimme. Ich stelle mir vor, wie das Wasser unter der Eisschicht dahinströmt, und in mir erwacht ein abenteuerlicher Drang, zur Mitte des Flussbettes zu gehen. Wie in Trance setze ich meine Füße auf das Eis, das von einer Schicht Puderzuckerschnee bedeckt ist.

      Es hält stand.