Gorbatschow. Ignaz Lozo

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Название Gorbatschow
Автор произведения Ignaz Lozo
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806242119



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des Krieges ganze Bevölkerungsgruppen im Kaukasus deportieren, meist nach Zentralasien. Der Vorwurf lautete „Spionage“, „Verrat“ oder „Kollaboration mit dem Feind“. Das kleine Volk der Karatschaier gehörte zu diesen Opfern. Die hochbetagte Chalimat Tokowa war acht Jahre alt, als sie mit ihrer karatschaischen Familie 1943 aus Archys deportiert wurde, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Viele starben während des Transports oder in der Verbannung. Sie sagt: „Es waren die Unsrigen, es war Stalin, der uns Leid zugefügt hat – nicht die Deutschen. Wir durften erst im August 1957 zurück nach Archys.“18 Das war Nikita Chruschtschow zu verdanken, der zunächst parteiintern, später öffentlich mit seinem Vorgänger Stalin abgerechnet hatte.

      Sergej Gorbatschow, für seine Tapferkeit ausgezeichnet, kämpfte zunächst in der Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer, etwa 100 Kilometer südöstlich von Donezk, dann in Rostow am Don. Neben seinem Einsatz an vielen anderen Frontabschnitten nahm er auch an der Schlacht von Kursk und an der Befreiung von Kiew teil. Seinem Sohn Michail verheimlichte er die Schrecken des Krieges nicht:

      Er erzählte mir davon, und nicht nur einmal. Er nahm auch an Nahkämpfen teil, Mann gegen Mann. Und als er mit einer Schilderung begann, veränderte sich dieser Mensch plötzlich direkt vor meinen Augen. Er sagte: „Man brauchte mehrere Stunden, um danach wieder zu sich zu kommen. Dieser Nahkampf – da war nur entscheidend: Wer besiegt wen? Entweder du den Gegner oder er dich.“ Vater war zwei oder drei Mal im Nahkampf, genau in unserer Gegend, unweit von Taganrog.19

      Gebannt verfolgten die Bewohner von Priwolnoje die finale Schlacht um Stalingrad, die rund 450 Kilometer nordöstlich von ihnen tobte. Von der Niederlage und der Zerschlagung der 6. Armee erfuhren sie von den deutschen Besatzern ihres Dorfes, die jetzt schnell ihre Sachen packten und flüchteten, weil sie fürchteten, bald ebenfalls von der sowjetischen Armee eingekesselt zu werden. Gerüchte kamen auf, dass sowjetische Systemgegner, die auf der Seite der Deutschen standen, nun an den Kommunisten im Dorf Rache üben würden. Zu ihnen gehörte Pantelej Gopkalo als Kolchosführer. Michail Gorbatschow erinnert sich sehr präzise an das Drama, das er als knapp 12-Jähriger erlebte:

      Wir bekamen einen anonymen Brief, dass Vergeltungsaktionen geplant sind. Meine Mutter war ganz aufgelöst, wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Man beschloss, mich zu meinem Großvater Andrej zu bringen, der vier Kilometer entfernt auf einem Hof arbeitete. Wir gingen in der Dunkelheit los; es regnete, alles war voll Matsch. Wir kannten den Weg, doch weil es absolut dunkel war, verliefen wir uns! Mutter wollte schon aufgeben, sagte: „Jetzt sind wir verloren.“ Dann wurde aus dem Regen ein richtiges Gewitter. Ich sagte: „Los, wir müssen weiter!“ Und in dieser angespannten, hoffnungslosen Situation erleuchtete sich plötzlich der Himmel: Es blitzte, wir bekamen die Orientierung zurück! Das war wohl göttliche Fügung.20

      Noch vor der offiziellen Kapitulation der 6. Armee durch Friedrich Paulus war Priwolnoje befreit, wo am 21. Januar 1943 sowjetische Soldaten einrückten. Die Dorfbewohner, hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte, waren jetzt zwar außer Gefahr, doch das Zittern um die noch kämpfenden Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder an anderen Frontabschnitten ging weiter. Nicht wenige von ihnen fielen: Auf dem Kriegerdenkmal in Priwolnoje stehen die Namen von sieben Gorbatschows. Vater Sergej kämpfte gegen Kriegsende in den Karpaten. Drei Jahre lang hatte er alles überlebt, dann der Schock: „Im August 1944 bekamen wir einen Brief von der Front – von Soldaten geschrieben. Ihm lagen Fotos von uns bei und Briefe, die wir Vater geschrieben haben. In dem Brief hieß es, der Vater sei den Heldentod gestorben. – Drei Tage nur Tränen“, erzählt Michail Gorbatschow.21 Doch diese Todesmeldung war ein Irrtum! Einige Tage später traf erneut ein Brief ein, dieses Mal vom tot geglaubten Vater selbst. Im Kampfgetümmel, so stellte sich später heraus, hatte Sergej Gorbatschow seine Dokumententasche verloren. Kameraden fanden sie, glaubten, der Besitzer sei tot, und machten Meldung. Der inzwischen 13-jährige Michail schrieb seinem Vater einen Brief, in welchem er seinen Unmut über diese voreilige Todesmeldung durch die Kameraden zum Ausdruck brachte. „Mein Vater schrieb mir zurück, ich solle nicht so streng sein mit ihnen. Denn im Krieg und an der Front würden allerlei Dinge passieren. Es sei doch ein großes Glück, dass er am Leben geblieben sei.“22

      Sergej Gorbatschow, so erinnern sich die Dorfbewohner, die ihn noch kannten, war ein sanftmütiger und ausgeglichener Mann. Anders als seine Ehefrau Maria, die sehr resolut und temperamentvoll sein konnte. Auch Iwan Budjakow bestätigt das: „Seine Mutter konnte derb schimpfen, aber sein Vater war ruhig, er benutzte auch nie Schimpfwörter oder so.“23

      Vom reitenden Postboten zum Musterschüler

      Nachdem die deutschen Besatzer aus Priwolnoje abgezogen waren, kehrte allmählich das alte Leben ins Dorf zurück, auch der Schulbetrieb, der mit der deutschen Besatzung ein Ende gefunden hatte, wurde wieder aufgenommen. Hier klafft eine bisher unentdeckte Lücke im Lebenslauf von Michail Gorbatschow: In seinen weit mehr als 1 000 Seiten umfassenden Memoiren ist zwar zutreffend die Rede davon, dass er zwei Jahre nicht zur Schule gegangen sei. Dass die anderen Schüler seines Jahrgangs jedoch bereits 1943 und nicht wie er erst 1944 das Lernen wieder aufnahmen, wird darin nicht erwähnt. Seine einstige Klassenkameradin Raissa Kopejkina (geb. Litowtschenka) berichtet, dass Michail Gorbatschow nach dem Abzug der Deutschen zunächst als Postbote arbeitete, während sie und die anderen Gleichaltrigen wieder zur Schule gingen. Entsprechend schloss er erst 1950 die zehnte Klasse ab, sie dagegen schon 1949.24 Mit dem Pferd der Kolchose machte sich Michail fortan in die Kreisstadt Molotowskoje auf (heute Krasnogwardejskoje), wo er die Post entgegennahm, die er nach der Rückkehr in sein Dorf verteilte.

      Der Heranwachsende hatte einfach keine Lust auf die Schule. Sein Vater kämpfte 1943 noch an verschiedenen Fronten, hatte somit keinen direkten Zugriff auf ihn, und die Mutter machte ihm keinen besonderen Druck. Sie selbst war schließlich überhaupt nicht zur Schule gegangen und hielt vier absolvierte Schuljahre daher wohl für ausreichend. Doch Sergej Gorbatschow ließ nicht locker: „Vater schrieb von der Front: ‚Michail, du musst verstehen …‘ und ‚Ich bitte dich …‘ Und meiner Mutter schrieb er: ,Alles, was sich verkaufen lässt: bitte verkaufen und dann alle Schulbücher anschaffen. Michail muss zurück in die Schule!‘“25 Doch auch die sonst so resolute Mutter konnte sich gegenüber ihrem jungen Teenager-Sohn nicht durchsetzen. Er hatte ja nicht mal anständiges Schuhwerk zum Anziehen. Michail Gorbatschow erklärt diese Entwicklungsphase so: „Ich hatte zwei Jahre Freiheit genossen und wollte nicht mehr an die Schule denken. Es gab aber noch Großvater Pantelej. Er war der wichtigste Mensch bei uns. Und er hat seinen Beitrag geleistet, indem er sagte: ,Mischa, man muss in die Schule gehen!‘ Und wenn dieser Großvater etwas sagte, hörten ihm alle zu. Immer, ein Leben lang.“26

      Und noch eine Respektsperson im Dorf wirkte auf ihn ein: Jefim Gordejewitsch Litowtschenko, der Vater seiner Mitschülerin Raissa. Er war wie Michails Großvater Pantelej Vorsitzender einer Kolchose. Litowtschenko sagte mehrfach zu ihm: „Michail, lass das mit der Post! Wirf die Tasche weg! Geh wieder zur Schule!“ Viele Jahre später, als er schon politisch Karriere machte, bedankte sich Michail Gorbatschow ausdrücklich und öffentlich bei Litowtschenko. Auf einer Versammlung im benachbarten Dorf Pregradnoje trat Gorbatschow als Redner auf und erblickte unter den Zuhörern auch Litowtschenko, den er mit den Worten würdigte: „Dank Jefim Gordejewitsch habe ich die Posttasche liegen lassen, ging wieder zur Schule und erhielt somit meine Ausbildung. Dank ihm wurde ich zu dem, der ich jetzt bin.“27 Das mag wohl auch dem Moment geschuldet gewesen sein, doch tatsächlich hat Litowtschenko wohl eine wichtige Rolle neben Vater und Großvater gespielt.28

      Sie alle versuchten, ihn wieder zum Schulbesuch zu bewegen, und auch seine Mutter Maria tat, wie sie ihr Mann geheißen hatte. Der erste Versuch der Wiedereingliederung in die Schule ging jedoch mächtig schief. Noch vor Unterrichtsende ging Michail Gorbatschow einfach heim und warf das einzige Buch weg, das er besaß. Die Mutter weinte, gab jedoch nicht auf, sondern ging aufs Ganze. Sie verkaufte oder tauschte Gegenstände aus dem Hausstand und kam abends gleich mit mehreren Büchern zurück. Und ihr Coup gelang: Michail begann zu lesen, verschlang die Lektüre förmlich bis tief in die Nacht und entschied endlich, am nächsten Morgen doch wieder zur Schule zu gehen. Und die Begeisterung für die Lektüre