Gorbatschow. Ignaz Lozo

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Название Gorbatschow
Автор произведения Ignaz Lozo
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806242119



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zusagte. Die beiden Staatsmänner wechselten in legere Kleidung: Kohl trug nun eine dunkelblaue Strickjacke, Gorbatschow einen dunkelblauen Pullover. In Begleitung ihrer Minister, Gorbatschows Ehefrau Raissa und einer Handvoll sowjetischer und deutscher Journalisten, welche KGB-Sicherheitsleute erst nicht in die Nähe der Delegationen hatten durchlassen wollen, brachen sie auf – anders als später kolportiert jedoch nicht zu einer Wanderung mit Rast,11 sondern lediglich zum hinter dem Haus gelegenen Fluss Bolschoi Selentschuk und zu jener unweit am Ufer gelegenen Sitzgruppe aus Baumstümpfen. Als Gorbatschow recht wagemutig die steile und ungesicherte Böschung zum reißenden Fluss hinunterstieg, eilte sein persönlicher Leibwächter Wladimir Medwedew hinterher. Kohl, dem Gorbatschow bedeutete, er möge ihm folgen, schlug die helfende Hand des Leibwächters beim Hinunterklettern aus, und auch die ausgestreckte Hand Gorbatschows war an dieser Stelle nicht nötig.

      Zurück auf sicherem Boden nahmen sie Platz an der Sitzgruppe und dem Tisch aus Baumstümpfen, wohin der Gastgeber auch Genscher bat. Diese Bilder einer vertrauensvollen Zusammenkunft gingen um die Welt, vor allem auch in die ganze Sowjetunion; seinen Bürgern wollte Gorbatschow zeigen, dass das Verhältnis zu den Deutschen ein fundamental neues war, das nichts mehr mit der dunklen Vergangenheit zu tun hatte. An Letztere erinnerte Gorbatschow den Bundeskanzler nichtsdestotrotz bei den offiziellen Gesprächen dieser Reise: „Wir können unsere Vergangenheit nicht vergessen. Jede unserer Familien wurde seinerzeit vom Unheil heimgesucht. Es gilt aber heute, sich Europa zuzuwenden und den Weg der Zusammenarbeit mit der großen deutschen Nation einzuschlagen.“12 Natürlich hing der Schatten dieser Vergangenheit auch über den Verhandlungen in Archys, denn der „Große Vaterländische Krieg“, wie er in der Sowjetunion genannt wird, lag gerade einmal 45 Jahre zurück.

      Die hölzerne Sitzgruppe wurde Jahre später abgebaut, nach Deutschland abtransportiert und ersetzt durch eine Nachbildung. Das Original dient als Exponat im Bonner Haus der Geschichte. Auch Gorbatschows Pullover und Kohls Strickjacke sind dort ausgestellt, ebenso wie ein sowjetischer Panzer des Typs T-34, mit dem noch am 17. Juni 1953 der Aufstand der DDR-Bürger gegen das SED-Regime blutig niedergeschlagen worden war.

      Als die Film- und Fotoaufnahmen vom trauten Beisammensein am schlichten Holztisch gemacht waren, lud Gorbatschow die Deutschen zum Abendessen in die Staatsdatscha ein. Hauswirtin Valentina Schaposchnikowa hätte die Bewirtung allein nicht geschafft. Fünf Köche aus Moskau waren daher eingeflogen worden, um in der auch heute noch erstaunlich einfach eingerichteten Küche ans Werk zu gehen. Hinter dem Speisesaal und einer düsteren Kammer gelegen, unterscheidet sie sich wohl kaum von anderen Küchen in den umliegenden Bergen.

      Während des Abendessens der beiden Delegationen waren keine Verhandlungen vorgesehen. Gorbatschow erzählte die eine oder andere Anekdote und vergaß nicht, Helmut Kohl anerkennend zum Fußballweltmeistertitel zu gratulieren. Am Sonntag zuvor, dem 8. Juli, war die DFB-Elf mit ihrem Teamchef Franz Beckenbauer und Kapitän Lothar Matthäus in Rom gegen Argentinien als Final-Sieger vom Platz gegangen. Der Bundeskanzler war live dabei gewesen.

      Mit armenischem Cognac in der Hand hob Gorbatschow zu einem Trinkspruch an: ein Hoch auf Deutschland, das in jenen Tagen nicht nur politisch, sondern auch sportlich im Fokus der Weltöffentlichkeit stand. Dass Fußball etwas Völkerverbindendes hat, mag eine Binsenweisheit sein, hier in Archys diente er tatsächlich der Auflockerung und Entspannung. Kohl notierte in seinen Memoiren, Gorbatschow habe seinen Schilderungen über den Verlauf des Endspiels interessiert gelauscht und Zwischenfragen gestellt.

      Zudem erzählte Gorbatschow von seiner Kindheit während des stalinschen Terrors in den 1930er-Jahren und von der deutschen Besatzung seines Dorfes Priwolnoje. Jener Mann, der in der Bundesrepublik das „Gorbi-Fieber“ auslöste, lenkte das Tischgespräch auch auf den Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der zwei Tage zuvor zu Ende gegangen war und noch mal offenbart hatte, dass die Sowjetunion inzwischen nicht nur ein tief zerrissenes Land war, sondern auseinanderzufallen drohte. Einen Ausweg aus der Krise sah Gorbatschow, wie er auch den kommunistischen Delegierten beim Parteitag vorgetragen hatte, im „Übergang zur Marktwirtschaft“ – eine mit der Ideologie der Kommunistischen Partei nicht zu vereinbarende Position, die dem jahrzehntelangen Wettern gegen den westlichen Klassenfeind diametral entgegenstand. Verkehrte Welt, meinten die einen, Pragmatismus, meinten die anderen.

      In Archys trafen sich Gorbatschow und Kohl nach dem Abendessen gegen 23 Uhr separat zu einem kurzen Gespräch, um die Verhandlungen des folgenden Tages vorzubereiten. Die uneingeschränkte NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands, der Gorbatschow am Vormittag in Moskau noch zugestimmt hatte, war laut Kohl zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht final gebilligt. Als Kohl nun in Archys erneut darauf zurückkam, habe Gorbatschow jedoch nur geschwiegen.13

      Versuchte Gorbatschow den Preis hochzutreiben? War er sich seiner Position doch nicht sicher? Oder wurde er von Kohl missverstanden? Letzterer rief nach dem Gespräch mit Gorbatschow seine Leute zusammen, um die Verhandlungspunkte durchzugehen. Es sollte dabei auch um die Abzugsmodalitäten für das sowjetische Militär aus der DDR gehen – und somit nicht zuletzt um Geld. Am Ende eines sehr langen Tages zog sich der Bundeskanzler auf sein Zimmer zurück. Seine Anspannung und seine Gedanken am Vorabend der historischen Wegmarke beschrieb Kohl wie folgt: „Es war schon nach Mitternacht, als ich auf den Balkon der Datscha trat, über mir ein wunderschöner Sternenhimmel und vor mir die dunkle Silhouette des Kaukasus. Vieles ging mir durch den Kopf, vor allem fragte ich mich, was der morgige Tag wohl bringen würde. Es stand für uns Deutsche so viel auf dem Spiel.“14

      Valentin Falin, langjähriger Deutschlandberater Gorbatschows und in den 1970er-Jahren sowjetischer Botschafter in Bonn, hatte am Vorabend der Kaukasus-Reise, an der er selbst nicht teilnahm, noch einen fast verzweifelten Versuch unternommen, seinen Chef in einem Telefonat von weitgehenden Zugeständnissen abzubringen:

      Ich sagte zu Gorbatschow, es gehe jetzt nicht nur um das Schicksal der DDR und des Warschauer Paktes, sondern auch um das unseres Landes. Wenn das alles so kommt, verlieren wir unsere strategischen Positionen und verlieren das, was im Großen Vaterländischen Krieg erkämpft wurde. Er hörte mir zu, unterbrach mich nicht und sagte zum Schluss: „Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun. Aber ich glaube, der Zug ist schon abgefahren.“15

      Am nächsten Morgen – es war Montag, der 16. Juli 1990 – erschienen Gorbatschow und Kohl beide in Strickjacken, was dem legendären Treffen seinen Namen gab. Die deutsche Seite war mit zehn Männern vertreten: Kohl, Genscher, Waigel, Regierungssprecher Klein, Kanzler-Berater Teltschik, Botschafter Blech, Staatsminister im Außenministerium Dieter Kastrup, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium Gert Haller, Kohls Büroleiter Walter Neuer und Dolmetscher Andreas Weiß. Auf sowjetischer Seite waren es sieben: Gorbatschow, Außenminister Eduard Schewardnadse, Finanzexperte und Vize-Regierungschef Stjepan Sitarjan, Europa-Abteilungsleiter im Außenministerium Juli Kwizinski, Botschafter in Bonn Wladislaw Terechow, Gorbatschows Pressesprecher Arkadi Maslennikow und Dolmetscher Iwan Kurpakow.

      Kohl bringt zunächst den schon beim Gespräch in Moskau in Aussicht gestellten „Großen Vertrag“ ins Spiel, der eine umfassende, langfristige und vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik vorsieht. In Archys herrscht insofern eine wechselseitige Abhängigkeit, als sich die Staatsmänner gegenseitig zum Erfolg verhelfen könnten. Gorbatschow sieht die Chance, sich bei seinen entglittenen, ja außer Kontrolle geratenen Reformversuchen Luft zu verschaffen. Und Kohl will unbedingt die deutsche Einheit verwirklichen, einen politischen Lebenstraum vieler Deutscher, der auch ein Ende der Teilung Europas bedeuten würde.

      Fast vier Stunden ringen sie miteinander, doch am Ende steht die volle Souveränität Gesamtdeutschlands als Ergebnis fest. Für den Abzug der sowjetischen Truppen von deutschem Boden vereinbaren sie einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Gorbatschow hatte ursprünglich einen Übergangszeitraum von fünf bis sieben Jahren gefordert, denn immerhin müssen mehr als eine halbe Million Soldaten, Offiziere und Angehörige in die Heimat zurückgebracht werden. Hinzu kommen die schweren Waffen und sonstiges militärisches Gerät. Beschlossene Sache ist jetzt auch die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, wobei auf dem Gebiet der DDR die Stationierung von NATO-Truppen tabu ist, solange die sowjetischen noch nicht abgezogen sind.

      Die Bundeswehr wird – auch