Eine Tasse Tee. Kathrin Groß-Striffler

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Название Eine Tasse Tee
Автор произведения Kathrin Groß-Striffler
Жанр Публицистика: прочее
Серия
Издательство Публицистика: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783954629350



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Sie behauptet, nur in ihrem Dorf gebe es gute gesunde Milch. Wie oft schon sind mir die Kannen im Auto umgefallen, und es hat nach Käse gestunken, wochenlang. Daheim koche ich die Milch ab und fülle sie in Flaschen. Die Kannen und Dosen spüle ich sorgsam aus. Sie zählt sie, wenn ich abreise, und sie zählt sie, wenn ich zurückkomme. Sie wird im Krankenhaus danach fragen. Ich kenne meine Mutter. Meine Mutter ist in meinem Organismus. Ihr Blut läuft durch meine Adern, ihre Gedanken sind in meinem Kopf. Ich sehe nach draußen, und mein Spiegelbild bleckt mir die Zähne. Ich sehe ihr ähnlich. Ich sehe viel älter aus, als ich bin. Ich habe dieselben grauen wirren Locken, dieselbe gerade Nase, dieselben großen Zähne, dieselbe harte steile Falte über der Nasenwurzel. Aber einen Unterschied gibt es: sie ist zäher als ich. Sie ist nicht totzukriegen. Sie wird jahrelang sterben. Sie bezieht ihre Kraft aus meiner Substanz. Saugt mich aus wie ein Blutegel. Ich habe Rückenprobleme; sie nicht. Sie steht kerzengerade; ich stehe gebückt. Sie lässt sich mein Rückenmark auf der Zunge zergehen.

      Dann, vor ein paar Wochen, habe ich die Klinke zu ihrem Schlafzimmer heruntergedrückt. Meine Mutter war im Keller. Es stank nach Urin. Sie muss inkontinent sein. Ich habe Berge von Wäsche ins Badezimmer gebracht. Ich habe zehn Ladungen gewaschen. Mit der Maschine. Aus der Maschine kommt ein Schlauch, den man über den Rand der Badewanne hängen muss. Dazu muss man die Maschine bewegen, weil der Schlauch zu kurz ist, und sie ist sehr schwer. Deswegen also wäscht sie mit der Hand. Nicht nur wegen dem hohen Strompreis. Offenbar schämt sie sich. Meine Mutter schämt sich vor mir. Das ist neu. Aber ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Klobrille gibt es auch keine mehr. Ich sage, wir kaufen eine neue. Sie sagt, es geht auch ohne. Auf dem Klorand sind Urinflecken, gelblich, einzelne Haare hängen darin.

      Die Abteiltür wird aufgeschoben. Eine junge Mutter und ein kleines Mädchen kommen herein. Ist hier noch frei?, fragt die Mutter, und ich nicke höflich. Sie verstauen ihr Gepäck im Netz und setzen sich hin, mir gegenüber. Das Kind legt seinen Kopf an die Schulter der Mutter und schließt die Augen. Ich sehe es an. Es schläft. Die Mutter sitzt still, ganz still. Ich merke, dass ich mit den Zähnen knirsche. Nachts tue ich das auch, im Schlaf. Und ich werfe meinen Kopf hin und her. Ranschen nannte das meine Mutter. Junge Katzen treten gegen die Brust ihrer Mutter, dass Milch kommt. Ich ransche mit dem Kopf.

      Ich bin höflich. Immer wieder sagt man, wie höflich Margarete ist. Höflich und korrekt. Ich bin mit meiner Mutter in der Straßenbahn, und sie schreit den Fahrer an. Dass er zu ruckartig fahre. Aller Augen sehen nach vom. Ich möchte im Boden versinken. Sie ruft, da zahlt man einen so hohen Fahrpreis und dann das. Ohne Rücksicht auf Verluste. So ist die heutige Jugend. Warten Sie mal, bis Sie älter sind. Der Fahrer schüttelt den Kopf.

      Der Tag besteht aus Pflichten. Aufgaben, die man abarbeiten muss. Teppiche klopfen. Wäsche waschen. Bett beziehen. Einkaufen gehen. Aber nur das Nötigste. Sonderangebote. Obst und Gemüse liefert ihr Garten. Abends: Strümpfe stopfen. Sie kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, und ich sage, du verdirbst dir die Augen. Da sitzt sie unter der lächerlichen Stehlampe und stopft mit zusammengebissenen Zähnen. Das Deckenlicht ist aus. Sie sitzt in dem matten runden Lichtkegel und führt mit zitternden Fingern den Faden durch das Nadelöhr.

      Einmal im Schlafzimmer, habe ich alle Türen des mächtigen Einbauschranks aufgemacht. Meine Eltern haben ihn nach ihrer Hochzeit angeschafft. Möbel kauft man fürs Leben. Ich finde Unterwäsche. Ausgeleierte, unsäglich formlose Schlüpfer, die muffig riechen. Handtücher, die dünn und hart sind wie Sperrholz. Verblichene Bettwäsche mit Karomuster. Sauber, Kante auf Kante, geordnet. Mottenkugeln fallen mir entgegen. Daneben hängen ihre Kittelschürzen auf Kleiderbügeln. Und ihre zwei Faltenröcke. Einer dunkelblau, für gewöhnliche Anlässe. Einer schwarz, für besondere. Ein paar vergilbte Blusen. Ich öffne eine weitere Tür: alte Schurwollbettdecken mit gelbbraunen Flecken. All das werde ich ausmisten müssen, wenn sie tot ist. Wochen werde ich brauchen. Mein Mann wird sagen: Lass einen Container kommen und wirf alles rein.

      Meinen Mann mag sie nicht. Sie hat gesagt: Er ist nur angeheiratet, er gehört nicht zur Familie. Sie redet nicht mit ihm. Tut, als sei er nicht da. Dabei ist er groß und nicht zu übersehen. Er ist Chemiker. Sehr erfolgreich. Er sagt, warum rennst du immer hin zu ihr, sie hat es nicht verdient. Ich sage: Aber sie ist meine Mutter. Ich weine. Er sagt: Ich finde es falsch, dass du dich so reinstresst. Bleib bei mir, da gehörst du hin. Mein Mann ist keiner von den Zärtlichen. Das liegt ihm nicht. Er hat vor dreißig Jahren gesagt: Du und ich, wir bauen was auf. Dazu steht er. Er steht zu allem, was er einmal beschlossen hat. Da wird nichts mehr in Frage gestellt. Mir kann’s recht sein. Auch ich bin keine von den Zärtlichen. Das ist mir nicht wichtig. Wir passen zusammen. Nur Söhne hätte er gern gehabt.

      Wie meine Mutter mich früh geweckt hat, als ich noch klein war: Kam ins Zimmer, zog ratsch, rasselnd und mit einem Ruck den Rollladen hoch. Ich saß aufrecht und erschrocken im Bett. Blinzelte ins Tageslicht, das kalt war und hell. Ich fror. Auch im Sommer fror ich. In der Küche gab es blutfarbenen Tee. Und Haferflocken, schnell, schnell, du musst in die Schule. Die Mutter war schon bei der Arbeit. Stand in ihrer Kittelschürze am Herd, schnitt Kohl aus dem Garten. Wie ich Kohlsuppe verabscheute. Aber was auf den Teller kam, wurde gegessen. Wenn die Zucchinis reif waren, aßen wir wochenlang nichts anderes.

      Das kleine Mädchen ist weich gegen die Mutter gesunken, und sie legt seinen Kopf auf ihren Schoß. Das kleine Mädchen murmelt im Schlaf, und die Mutter lächelt. Der Zug bremst, und es riecht nach verbranntem Gummi. Das wäre was: ein Zugunglück. Die Tochter stirbt vor der Mutter. Da hätte sie niemanden mehr, den sie herumkommandieren kann. Sie hat im Dorf keine Bekannten. Sie lebt ganz für sich, in ihrem großen Haus. Mein Mann sagt: Sie hat sich nie um Kontakte gekümmert, und jetzt hängt alles an dir. Sie hätte dafür sorgen sollen, dass sie im Alter nicht allein ist. Hätte sie, sage ich, hat sie aber nicht. Und nun? Soll ich sie allein lassen? Mein Mann sagt: Tu sie in ein Pflegeheim. Sie weigert sich, sage ich ruhig. Wenn du nicht mehr hinrennst, sagt mein Mann, wird ihr nichts anderes übrigbleiben. Das kann ich nicht, sage ich und weine. Verstehst du das nicht? Nein, sagt mein Mann. Das verstehe ich nicht. Und er sagt: Bleib bloß nicht zu lange dort. Du hast eine Ehe zu führen.

      Mein Vater war groß und schweigsam. Er starb, als ich vier war. Hat sich davongemacht. Er hat mich mit ihr allein gelassen. Einmal saß ich auf seinem Schoß, hatte Buntstifte in der Hand, und malte. Malte große schwarze runde Augen. Immer nur Augen. Mal einen Mund hin, der lächelt, hat er gesagt. Aber ich wollte nicht. Mach du’s, habe ich gesagt. Er hat meine Hand mit dem Stift in seine Hand genommen und gesagt: Punkt, Punkt, Komma, Strich, und fertig ist das Mondgesicht. Aber auch dieser Mund hat nicht gelächelt. Da haben wir es aufgegeben. Er hat mich auf den Boden gestellt und: Geh spielen, gesagt. Kurz darauf ist er gestorben. Magenkrebs. Er hat zu viel in sich hineingefressen, nehme ich an.

      Man hat ihr einen Herzschrittmacher eingesetzt. Sie wird die Schwestern herumscheuchen. Und ich kann es dann wieder gradbiegen, kann Trinkgelder verteilen, beruhigende Worte finden. Meine Mutter ist krank. Meine Mutter war ihr Leben lang nie krank. Das wird sie uns spüren lassen. Ich überlege kurz, wähle die Nummer ihres Zimmers. Ich werde leise sprechen, dass das kleine Mädchen nicht aufwacht. Eine Schwester nimmt ab. Wie geht es ihr, frage ich, ich bin die Tochter. Die Schwester seufzt. Sie darf nicht aufs Klo. Aber sie weigert sich, die Bettpfanne zu benutzen. Und nun?, frage ich. Wir warten, bis sie platzt, sagt die Schwester. Nehmen Sie mir’s nicht übel. So eine hatten wir noch nie. Eine harte Nuss. Eine wirklich harte Nuss. Ich weiß, sage ich besänftigend. Ich weiß, wiederhole ich. Was soll ich auch sagen? Sie schimpft wie ein Rohrspatz, sagt die Schwester. Als wäre es unsere Schuld. Wir haben sie fixieren müssen, sagt die Schwester. Ich hoffe, Sie haben Verständnis. Habe ich, sage ich eilfertig. Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Ich bin in ein paar Stunden da, ich sitze im Zug. Was sagt der Arzt? Sie wird nicht mehr die, die sie mal war, sagt die Schwester. Soviel ist klar. Das denke ich auch, sage ich. Ich danke Ihnen. Und lege auf.

      Sie wird nicht mehr die, die sie mal war. Ich habe Magenschmerzen. Immer wenn es schlimm wird, schlägt es mir auf den Magen. Das habe ich von meinem Vater. Ich zwinge mich, ruhig zu denken. Ins Pflegeheim will sie nicht. Nachhause gehen kann sie nicht. Bleibt nur eine Möglichkeit: Sie muss zu uns. Nein, hat mein Mann gesagt, das kommt nicht in Frage. Sie oder ich. Wenn du sie holst, bin ich weg. Ich weiß, dass er es ernst meint. Also was? Wenn ich eine Pflegerin organisiere, die täglich ins Haus kommt? Keine