Eine Tasse Tee. Kathrin Groß-Striffler

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Название Eine Tasse Tee
Автор произведения Kathrin Groß-Striffler
Жанр Публицистика: прочее
Серия
Издательство Публицистика: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783954629350



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der Wimpern, steht die Welt still, verrinnt keine Zeit. Dann wendet sie sich ab, geht zur Reling, legt ihre Arme darauf. Er nimmt die Biegung ihres Rückens wahr, an dem nichts Abweisendes ist, es müsste schön sein, mit der Fingerkuppe über die einzelnen Wirbel zu fahren. Er schließt die Augen und öffnet sie wieder. Nein, er hat nicht geträumt, sie ist noch da. Was will sie auf der Insel? Will sie dort Urlaub machen, hat sie sich ein Zimmer gemietet? Er wüsste niemanden, der Gäste aufnimmt. Auf jeden Fall bleibt sie über Nacht, sie sind auf der letzten Fähre. Sie wendet sich um, wieder treffen sich ihre Blicke, wieder lächeln beide. Steh auf, du Depp, sagt er sich, geh hin, sprich sie an. Doch er hat Angst, den Zauber zu zerstören. Auch er glaubt, dass er sie kennt, von vor ganz langer Zeit. Es gibt keine Fremdheit zwischen ihnen. Sie hat sich mittlerweile wieder abgewendet, läuft langsam über das Deck, schaut hierhin und dorthin, dann drückt sie auf den Knopf, der die Tür zum Innern des Schiffes öffnet, und verschwindet, vielleicht holt sie sich einen Kaffee, und immer noch sitzt er da und rührt sich nicht. Er hat das Gefühl, ganz viel Zeit zu haben. Er wird ihr die Insel zeigen, den feinen Sandstrand am Ende, die Stelle, wo sie so schmal wird, dass das Meer von beiden Seiten bis an die Straße heranreicht, er wird sagen: Nicht tief einatmen, hier stinkt das Wasser; er wird sagen: Wir haben nichts hier außer Stille, Wasser und Wind; und sie wird nicken und ihn verstehen. Er hat gar nicht gemerkt, dass die Überfahrt ihrem Ende zugeht, und fährt zusammen, als eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher die Passagiere auffordert, zu ihren Autos zurückzukehren. Unten im Schiffsbauch steht sie neben ihrem Fahrrad, da, wo die Rampe heruntergefahren werden wird, und er, der der Erste in Fåborg war, wird nun der Letzte sein, der die Fähre verlässt, aber er kann nicht hin zu ihr und sagen: Warten Sie, oder: Wohin fahren Sie?, oder: Bleiben Sie, er kann einfach nicht, er ist wie gelähmt. Er hat zu viel Angst, dass die Luftblase aus Glück zerplatzt, dass er sich geirrt hat, dass alles Einbildung war, so etwas gibt es doch nicht, dass sich zwei Menschen kennen, die sich noch nie gesehen haben, also muss er zusehen, wie sie sich auf ihr Fahrrad schwingt und davonradelt, fest in die Pedale tritt, und diesmal drückt ihr Rücken etwas anderes aus. Enttäuschung. Ungeduldig wartet er, bis ein Wagen nach dem anderen an Land gefahren ist, aber als er dann endlich die schmale Straße zum Kaufladen hinter zockelt, ist sie verschwunden. Lars hilft ihm beim Ausladen, eine Zigarette zwischen den Lippen. Niels fragt: Gibt es seit neuestem jemanden auf der Insel, der Zimmer vermietet?, lässt seine Stimme beiläufig klingen. Na, die Madsens, soweit ich weiß, sagt Lars. Den Lieferwagen lässt Niels stehen, er gehört dem Laden. Er könnte jetzt heimgehen, sein Fahrrad holen, zu jenem Haus fahren, unauffällig mit den Madsens ins Gespräch kommen, sie ein bisschen ausfragen über die Frau, woher sie kommt, warum ausgerechnet Avernakø, und dann tut er es doch nicht, er verschiebt es auf den nächsten Tag, wo er den Müll einsammeln muss, er wird da zwangsläufig an jenem Haus vorbeikommen, ja, gut, er ist ein Feigling, aber es steht zu viel auf dem Spiel, im Grunde steht alles auf dem Spiel, also setzt er sich zu seiner Mutter an den Küchentisch, wartet, bis der Fisch fertig gebraten ist, ihr fällt es nicht auf, wenn er nichts sagt, sie reden nie viel. Danach holt er sich einen Stuhl und hockt sich in den Garten und weiß sie ganz in der Nähe, sie, die Fremde, sie schaut wie er den Mond an, der langsam über dem Meer aufgeht, hört wie er die Fasane rufen; und als dann die ersten Fledermäuse durch die Luft schwirren, ist er wieder froh. Wer verbietet ihm, am nächsten Morgen mit jenem Haus anzufangen, die Tour verkehrtherum zu machen? Er ist ja schließlich ein freier Mann! Er legt sich ins Bett und wagt kaum, sich zu sehnen, wagt sich kaum einzugestehen, dass seine Sehnsucht nun ein Gesicht hat, dass all die einsamen Nächte zu dieser Nacht geführt und somit einen Sinn bekommen haben. Der Schlaf will nicht kommen, aber wer braucht schon Schlaf!

      Das Haus der Madsens liegt an der hinteren Spitze der Insel, direkt am Meer und an drei Seiten von Wald umgeben. Ein Schotterweg führt hin. Er hat seinen Anhänger an den Traktor gekoppelt und holpert auf das Haus zu, das von hier aus nicht zu sehen ist. Sein Herz rumpelt in seiner Brust. In der Regel bringen die Bewohner ihre zugebundenen Müllsäcke bis vor an Straße oder Weg, aber heute liegt noch kein Sack da, wahrscheinlich rechnen sie erst später mit ihm. Er lässt den Motor laufen und steigt ab, froh über das laute Rattern, das ihm Schützenhilfe gibt. Er klappt das Brett des Anhängers herunter, legt sich die Worte zurecht, wenn sie lächelt, wird alles ein Leichtes sein, wenn nicht, wird er sich lächerlich machen mit seinem Gestammel, wie auch immer, es muss sein, er gibt sich einen Ruck und dreht sich um. Und dann geht alles so schnell, wie es auf der Fähre langsam gegangen ist, wo er noch glaubte, Zeit zu haben, wo er noch glaubte, auch für ihn könne es so etwas wie Glück geben, einen zaghaften, herrlichen Augenblick lang, der sich für immer in sein Herz eingegraben hat, von dem er wird zehren müssen, sollte er jemals in der Lage sein, ihr das zu vergeben, was sie ihm jetzt antut: sie kommt auf ihn zu, ein hochgewachsener Mann ist an ihrer Seite, ein Wagen mit deutschem Kennzeichen steht vor dem Haus, sie stockt, sieht ihn, sieht den Anhänger mit den paar Müllsäcken, die er auf dem Weg hierher eingesammelt hat, schiebt demonstrativ ihren Arm unter den des Mannes und lächelt Niels an. Es ist ein anderes Lächeln als auf dem Schiff. Es ist von oben herab, und es macht ihn kleiner, als er ohnehin ist, es ist fremd, grausam und demütigend. Es misst ihn, es urteilt ihn ab. Mit einem fröhlichen Hi! gehen beide an ihm vorüber. Und wieder ist es ihr Rücken, auf den er starrt, den er hassen würde, wenn er nur könnte, allein die Selbstachtung gebietet es schon, aber vernichtet, wie er ist, ist er nicht fähig zu Hass, auch deswegen, weil er noch etwas anderes in ihrem Gesicht erkannt hat, in ihren grauen Augen, die er zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hat, die einen kleinen goldenen Stern in der Mitte haben, die weit aufgerissen waren, Augen, die der Spiegel der Seele sind, wie man sagt, und die seine kurz trafen: Angst.

      meine mutter und ich

      Meine Mutter und ich, wir sind die letzten unserer Art. Wenn sie tot ist, wenn ich tot bin, kommt keiner mehr.

      Im Haus meiner Mutter gibt es keine weichen Teppiche. Dafür ein paar verschlissene Läufer, mit Fransen. Unter den hohen Stuckdecken, in den dunklen Winkeln, lastet das Schweigen. Das Haus ist vollgestopft bis unters Dach, vollgestopft mit all dem, was sie nicht wegwerfen kann. Vasen. Krüge. Möbel, die seit dem Tod meines Vaters nicht mehr gebraucht werden. Seine Wäsche, seine Mäntel. Seine Bücher. Sein Schreibtisch. Das kalte Licht der Lampen leuchtet jeden Winkel aus. Sammeltassen stapeln sich, alte Schuhe, sauber in die Kartons verpackt, in denen sie gekauft wurden. Meine Mutter hortet. Warum hast du den Putzlumpen weggeworfen, Margarete, sagt sie anklagend, er war doch noch gut. Nein, sage ich, er war dünn und verschlissen, und er hatte Löcher. Du schmeißt alles weg, sagt sie im Ton des Vorwurfs. Ich sage, wir kaufen einen neuen. Sie sagt, kommt nicht in Frage. Dafür gebe ich mein Geld nicht aus. Schau, dass du ihn wiederfindest. Die Müllabfuhr war noch nicht da.

      Im Haus meiner Mutter weht kein frischer Wind. Nie öffnet sie die Fenster. Das Schweigen und die abgestandene Luft und der Staub hängen in den Räumen. Bei einem meiner letzten Besuche habe ich gesagt, Mutter, es riecht seltsam. Da hat sie schnell den Kopf geschüttelt. Das ist die Waschlauge, hat sie gesagt. Ich habe heute Morgen Kleider eingeweicht. Warum benutzt du nicht die Waschmaschine?, frage ich. Strom ist teuer, sagt sie.

      Draußen ist es dunkel, und der Zug, der mich zu meiner Mutter bringt, gleitet fast geräuschlos durch die Nacht. Hin und wieder blitzen Lichter auf, Städte, Dörfer, Menschen sehe ich an Fenstern sitzen, ganz kurz nur, dann saugt die Bahn das Licht in sich auf, gleitet weiter durch Felder und Hügel, die schwarz liegen wie das Meer bei Nacht. Sie, meine Mutter, ist im Krankenhaus. Auf allen Vieren ist sie aus dem Garten die Treppe hoch zum Telefon gekrochen, hat mich angerufen mit einer Stimme, die mich ins Mark erschreckt hat, so von weit her klang sie, als hätte meine Mutter schon den Tod gesehen. Sie ist einundneunzig, meine Mutter. Sie hat die Fliesen der großen Terrasse hinter ihrem Haus tagelang mit einer Wurzelbürste bearbeitet. Sie hat Eimer mit Tonfarbe gekauft und ins Haus geschleppt, mit der sie die Fliesen streichen wollte. Und ist zusammengebrochen. Ich habe veranlasst, dass ein Rettungswagen sie ins Krankenhaus bringt. Vor kurzer Zeit noch hätte ich das Flugzeug nehmen müssen, um zu ihr zu gelangen. Habe ich doch immer weit weg gelebt. Amerika. Japan. Doch jetzt bin ich zurück. Ich habe keine Geschwister. Und keine Kinder. Mein Vater ist seit langem tot. Wir müssen das nun zu Ende bringen, sie und ich.

      Im Gepäck habe ich Plastikdosen. Jede Menge Plastikdosen. Denn sie gibt mir jedes Mal, wenn ich sie besuche, Eingewecktes mit: Apfelkompott, eingelegte Tomaten, Erdbeerkonfitüre. Manchmal