Название | Dattans Erbe |
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Автор произведения | Nancy Aris |
Жанр | Современная зарубежная литература |
Серия | |
Издательство | Современная зарубежная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783954627646 |
Dann eine Chiffre-Nummer. Was war das denn? Ich las noch einmal. Es schien ein Widerspruch in sich: Abenteuerlust & Beharrlichkeit, Archivrecherche & gute Bezahlung. Das passte nicht zusammen. Alles wirkte unseriös, auch die russische Überschrift. Und dann noch in der ZEIT. Und wer setzte über eine Stellenausschreibung schon ein „Achtung!“, ein sprachliches Warnschild? Wovor sollte der Rechercheur gewarnt werden? Und was sollte die Chiffre-Nummer? So etwas kannte ich nur von Partneranzeigen. Alles war geheimnisvoll und doch so unprofessionell. Warum stand da nicht, wer der Auftraggeber war und worum es ging? Kein Institut, keine noch so blasse akademische Einrichtung würde so inserieren. Der ganze Duktus war antiquiert, wie aus einer anderen Welt. Offenbar war da jemand am Werk, der noch nie eine Anzeige aufgegeben hatte. Jeder seriöse Historiker hätte weitergeblättert, hätte die drei Sätze, die verloren im protzigen, überdimensionierten Rahmen bibberten, nicht einmal zur Kenntnis genommen. Nur ich hatte sie entdeckt, weil ich immer erst die abseitigen Dinge sah, bevor ich das Offensichtliche bemerkte. Mittlerweile saß ich schon zwanzig Minuten vor dieser Anzeige und grübelte fieberhaft, was dahinterstecken konnte. Was gab es am östlichsten Rand des Russischen Imperiums, kurz vor Japan, zu recherchieren? Mir fielen irgendwelche Geschäfte ein – Pelze, Gold, Kaviar. Vielleicht ein Business mit japanischen Gebrauchtwagen? Aber warum das Archiv und warum ein Historiker, der zudem auch noch beharrlich sein sollte?
Ich schaute wieder auf die Anzeige, in der Hoffnung, eine Antwort in diesen drei Sätzen zu finden. Der riesige Rahmen musste Unsummen gekostet haben. Wer gab so viel Geld für solch eine Anzeige aus? Und plötzlich sah ich es. Die Chiffre-Nummer. Dort stand mein Geburtsdatum: ZA130570. Ich erschrak und fühlte mich ertappt. War das für mich bestimmt? Sollte ich es finden? Das konnte kein Zufall sein.
Ich legte die Zeitung beiseite. Was für ein Quatsch. Warum sollte ausgerechnet ich darauf reagieren? Ich war Historikerin und hatte trotz karrierebremsendem Philologiestudium und Promotion einen Traumjob ergattert. Seit knapp zehn Jahren arbeitete ich nun schon als Beraterin im Innenministerium. Meine Expertise war gefragt. TVL 14. Ich war angekommen. Abenteuerreisen in russische Gefilde gehörten der Vergangenheit an. So etwas hatte ich längst hinter mir gelassen. Warum sollte ich überhaupt darüber nachdenken?
Zum Glück gab es im Garten immer etwas zu tun. Ich beschnitt die Hecke und zupfte Unkraut. Stundenlang war ich beschäftigt, bis mir der Rücken wehtat. Hin und wieder dachte ich an die Anzeige. Die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. Mir war schleierhaft, was sich dahinter verbergen konnte. Ich wollte wissen, worum es ging. Letztlich würde ich das Angebot nicht annehmen müssen. Doch wenn ich nicht wenigstens versuchte, herauszubekommen, worum es ging, würde ich mich später vielleicht ärgern.
Und plötzlich war es da, das Fernweh, gepaart mit der alten Wehmut. Russland … Wie oft hatte ich davon geträumt, noch einmal dieses chaotische Land zu bereisen, noch einmal zurückzukommen und diese Weite zu durchqueren. Getan hatte ich es nie.
Wladiwostok. Wie lange war das her?
Vielleicht war diese komische Chiffre-Nummer genau meine Chance. Die Gelegenheit, die nur einmal kam. Ich musste reagieren. Aber Halt.
Ich wollte nicht zu viel Aufwand betreiben, keinen förmlichen, mit Referenzen gespickten Bewerbungsbrief aufsetzen, sondern etwas abschicken, das schnell ging und meiner Laune entsprach. Ich wollte mich nicht verstellen oder verbiegen, wusste ich doch nicht einmal, worum es ging. Warum sollte ich mich verrückt machen und mich überschwänglich anpreisen?
Ich ging ins Haus, bürstete meine erdverkrusteten Hände und setzte einen Tee auf. Dann holte ich meine Karten-Kiste hervor. Ich sammelte Postkarten. Manche schlummerten schon seit über zwanzig Jahren in der Kiste. Gut, dass ich immer alles aufhob. Martin machte das wahnsinnig. Ich suchte nach einer passenden Postkarte und stieß auf den Kamtschatka-Postkarten-Satz, den ich 1991 dort gekauft hatte. Kamtschatka lag noch weiter östlich, aber gemessen an den russischen Weiten war es ein Katzensprung von dort bis nach Wladiwostok. Das Postkarten-Set hatte etwas Skurriles. Erst jetzt fiel mir auf, dass Inhalt und Form völlig auseinanderklafften. Das, was abgebildet war, zog die edle Ausstattung der Karten fast ins Lächerliche. Vom Motiv her waren es Anti-Postkarten: ein Kindergarten im Neubaugebiet, ein Verladekran im Hafen oder das Gebäude der Parteizentrale. Trotzdem waren die Karten aus bestem Karton gestanzt und auf jeder dieser fragwürdigen Sehenswürdigkeiten thronte ein edler goldener Prägestempel mit dem Schriftzug des Ortsnamens: Petropavlovsk-Kamčatckij. Mir kam in den Sinn, dass die Karten genauso widersprüchlich waren, wie die Anzeige. Das würde passen. Ich entschied mich für das Motiv des Handelshafens in der Abenddämmerung – eine Bucht mit unzähligen Kränen, Schiffen und grellem Scheinwerferlicht, im Hintergrund ein goldgelber Himmel mit wilden, dunkelgrauen Wolkengebilden. Immerhin eine Spur von Landschaft. Und dann schrieb ich in Windeseile und ohne weiter darüber nachzudenken:
Sehr geehrte Damen und Herren,
nur meine Beharrlichkeit und Abenteuerlust haben mich nach Wladiwostok gebracht, zu einer Zeit, als es für Ausländer strengstens verboten war. Gern würde ich nach über zwanzig Jahren wieder einmal dorthin fahren. Wenn ich dies mit einer spannenden Recherche verbinden könnte, wäre das wunderbar. Ich schreibe Ihnen mehr zu meiner Person, wenn ich weiß, worum es geht.
Viele Grüße
Anna Stehr
Dann fügte ich meine Adresse hinzu. Ich dachte kurz an Brians Geschenk, die Million. Zufrieden grinste ich in mich hinein. Hätte ich vorher je gewagt, so etwas abzuschicken? Wohl kaum. Es war schön, nicht mehr angewiesen zu sein. So roch also die Freiheit der Reichen. Das war vor drei Monaten. Jetzt saß ich im überfüllten Transit-Bereich auf dem Flughafen Moskau-Scheremetjewo und wartete auf meinen Anschlussflug. Ich würde am Nachmittag losfliegen. Wenn ich ankäme, hätte der nächste Tag schon begonnen. Acht Zeitzonen hätte ich dann durchquert.
Erstkontakt in den Neunzigern
Wladiwostok – Beherrsche den Osten! Was für ein Name … Vor über zwanzig Jahren hatte ich mich schon einmal auf den Weg dorthin gemacht. Es war eine der abenteuerlichsten Reisen, die ich je unternommen hatte. Eigentlich wollte ich gar nicht nach Wladiwostok, sondern nach China. Angefangen hatte alles mit Qiang, einem Nachbarn im Studentenwohnheim. Ich hatte in Moskau studiert. Nach der Wende, als es fast alle in den Westen zog, nahm ich die andere Richtung. Ich wollte Russisch lernen. Eigentlich eine Schnapsidee, denn es war eine total chaotische und harte Zeit damals. In den Geschäften gab es nichts zu kaufen, und wir Studenten bekamen wie zum Trost Lebensmittelmarken ausgehändigt. Cafés suchte man vergeblich und in der Mensa gab es tagein tagaus trockene Buchweizengrütze ohne etwas dazu. Überall leere Auslagen, in denen die Kakerlaken verloren umhereilten. Wohl dem, der ein Stück Land besaß und sich selbst versorgen konnte. Auf privaten Märkten fand man alles. Die Preise waren horrend, aber dank D-Mark blieb für uns die Versorgung billig. Ich weigerte mich, dort einzukaufen, weil ich nicht besser gestellt sein wollte als die Einheimischen, aber ich hasste den strengen Geschmack des Buchweizens. Von Anfang an hatte ich mir angewöhnt, immer einen Rucksack dabei zu haben. Sah ich eine Schlange, schaute ich, was es gab und stellte mich an. Das starre System der sozialistischen Planwirtschaft war kollabiert. Ein noch nie gesehener Manchesterkapitalismus machte sich breit. Marx hätte gestaunt. Betriebe und Wohnungen wurden privatisiert, aus linientreuen Apparatschiks wurden Oligarchen, die das Volkseigentum aufgeteilt hatten, bevor die Masse überhaupt verstand, was vor sich ging. Die Preise explodierten, aber die Mehrheit arbeitete für den alten Sowjetlohn, der hinten und vorne nicht reichte. Viele erhielten monatelang keine Kopeke. Im Straßenbild tauchten erste Obdachlose auf, marodierende Kinderbanden, beinlose Afghanistanveteranen, die auf kleinen Wagen in den Metroeingängen saßen und bettelten, weil der Staat seine Fürsorgepflicht vergessen hatte. Das öffentliche Leben löste sich auf: Busse kamen nur noch sporadisch, Vorortzüge wurden nicht mehr beheizt, aus Schlaglöchern wurden Fallgruben. Die Gesellschaft schien aus den Fugen, kein Stein blieb auf dem anderen, doch in der Uni herrschte unbeirrt das alte Sowjetregime, es ging zu wie unter Breschnew. Wir Ausländer wurden separiert, der Kontakt zu einheimischen russischen Studenten war zwar nicht ausdrücklich verboten, aber die Uni-Leitung achtete peinlich genau darauf,