Alpendohle. Swen Ennullat

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Название Alpendohle
Автор произведения Swen Ennullat
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783954620821



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Kilometer, die mitten durch die feindlichen Linien führten.

      Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, weil diese Geschichte nichts mit der Ihres Großvaters zu tun hat. Aber ich habe es geschafft. Ich habe zwei Nächte und einen Tag gebraucht, aber ich habe das Unmögliche geschafft. Ich bin durch Abflussrohre gekrochen, einige Kilometer habe ich mit einem gestohlenen Fahrrad zurückgelegt und zweimal hätten mich die Russen fast erwischt. Aber am Morgen des 2. Mai 1945 habe ich das Schloss erreicht.

      Als ich dort jedoch feststellte, dass alle deutschen Truppen offensichtlich bereits abgezogen waren, stieg Panik in mir auf. Das Schloss schien vollständig verlassen. Als ich mich ihm näherte, bemerkte ich allerdings zu meiner großen Erleichterung hinter einem der Fenster des Ostflügels Bewegungen. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sich dahinter ein Arbeitszimmer mit Zugang vom Salon des Schlosses befand. Ich spähte durch das Fenster und sah, dass in dem Raum eine Frau mittleren Alters einige Kisten packte.

      Ich war zwar der Meinung, mich vorsichtig und lautlos dem Haus genähert zu haben, aber aufgrund meiner Übermüdung und Erschöpfung irrte ich wohl, denn plötzlich spürte ich einen harten Gegenstand, der sich kurz und schmerzhaft in meinen Rücken bohrte. Eine weibliche Stimme forderte mich auf, meine Hände zu heben und mich langsam umzudrehen. Ich kam der Aufforderung nach und legte dann, als es von mir verlangt wurde, vorsichtig meine Pistole ins Gras. Während der gesamten Zeit hielt mich eine etwa sechzigjährige zu allem entschlossen wirkende Frau, die eine grobe Männerjacke, Schal und eine Schirmmütze gegen die morgendliche Kühle trug, mit einem doppelläufigen Jagdgewehr in Schach. Ich war zu erschöpft, um zu protestieren oder um noch groß nachzudenken. Ohne dass sie etwas fragte, sprudelten die Einzelheiten meines Befehls und die Geschehnisse im Führerbunker nur so aus mir heraus.

      Die ältere Frau schien von meiner Schilderung nicht im Geringsten überrascht und schenkte meiner Geschichte Glauben. Dabei konnte ich nicht einmal die Generalvollmacht vorweisen. Wie von Anfang an beabsichtigt, hatte ich sie sofort nach Verlassen des Bunkers weggeworfen.

      Sie senkte jedenfalls ihr Gewehr und erklärte, dass ich Glück habe, sie hier noch anzutreffen, denn sie seien die letzten beiden Bewohnerinnen und würden in nur wenigen Stunden abgeholt werden. Sie wäre befugt, Päckchen und Brief entgegenzunehmen und weiterzuleiten.

      Mit meinen Kräften am Ende, willigte ich sofort ein, froh, die Sachen endlich loszuwerden, und übergab ihr die Gegenstände. Sie steckte sie, ohne ihnen große Beachtung zu schenken, in ihre Jackentasche, wies auf meine Pistole im Gras und riet mir, sie wieder aufzunehmen. Anschließend nahm sie mich durch einen Seiteneingang mit in die Küche und gab mir wortlos etwas zu essen.

      Während des Essens schlief ich noch am Tisch sitzend voller Erschöpfung ein und wachte erst bei einsetzender Dämmerung wieder auf. Von den beiden Frauen fehlte jede Spur. Ich vermutete, dass sie zwischenzeitlich abgeholt worden waren. In der Hoffnung, richtig gehandelt zu haben, und dennoch voller Zweifel, ob meine Eltern noch am Leben waren, versuchte ich danach, mich zu Verwandten nach Eberswalde durchzuschlagen, weil mir eine Rückkehr nach Berlin zu gefährlich erschien.

      Drei Tage später wurde ich aber von einer russischen Patrouille aufgespürt und gefangen genommen. Ich war weder Angehöriger der Waffen-SS, noch gab es anscheinend schriftliche Unterlagen zu meinem Aufenthalt im Führerbunker. Mein Soldbuch wies mich als einfachen Rottenführer aus, sodass ich vergleichsweise fair behandelt wurde. Zwar habe ich auch zwei Jahre in russischer Gefangenschaft in Irkutsk verbracht, aber das konnte ich ertragen.

      Übrigens haben meine Eltern den Krieg überlebt und hatten dabei mehr Glück als Bormann, der einige Stunden nach meinem Aufbruch mit einigen anderen Insassen versucht hat, sich aus dem Führerbunker freizukämpfen und nicht sehr weit kam. Noch bevor ich das Päckchen und den Brief übergeben hatte, soll er sich in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 mit einer Giftkapsel umgebracht haben.

      Verrückt, nicht wahr, vermutlich wusste niemand, welchen Auftrag mir Bormann gegeben hatte. Hätte ich versagt, wäre vermutlich rein gar nichts mit meinen Eltern geschehen.“

      Reiher blickte grimmig und seufzte. Das Erzählen hatte ihn körperlich und das Erinnern emotional erschöpft.

      „Haben Sie das Paket oder den Brief geöffnet?“, fragte Torben leise.

      „Nein, meine Angst war viel zu groß. Ich habe natürlich oft über die Inhalte der Sendungen nachgedacht. Der Brief? Vermutlich Befehle oder Anweisungen für Truppenbewegungen. Etwas in dieser Richtung. Das Päckchen? Ich weiß es nicht, vielleicht wie bei Ihrem Großvater ein letztes Geschenk Hitlers an einige Getreue. – Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin durch das Erzählen sehr müde geworden, es war anstrengender, als ich dachte. Würden Sie mich jetzt bitte zurückfahren? Wir können ja ein anderes Mal weitersprechen“, bat Reiher.

      Torben konnte seine Bitte verstehen. Er sah, wie dringend der alte Mann seine Ruhe brauchte, trotzdem startete er noch einen letzten Versuch, etwas mehr zu erfahren: „Ich kam eigentlich her, um etwas über meinen Großvater zu hören. Sie haben mir jetzt sehr viel über sich erzählt. Was glauben Sie, welchen Auftrag hatte er?“

      „Es ist doch offensichtlich, mein Junge“, antwortete der Veteran müde. „So wie mir Bormann einen Befehl erteilte, gab Hitler anscheinend auch ihrem Großvater eine Order. Nur war Hitler so großzügig, Hans gleich ein Geschenk für seine Dienste – in Form seines Buches – zu überreichen. In den Augen des Führers sollte sein Werk durch die persönliche Widmung wohl wie eine Vollmacht für Ihren Großvater wirken, ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe unterstützen.

      Hans und ich waren beide niedere Wehrmachtssoldaten ohne besondere Verbindungen zu hohen Offizieren, denen Hitler und sein engerer Stab zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht mehr trauten. Aber vor allem waren wir nicht wichtig, sondern das ganze Gegenteil, nämlich entbehrlich! Wir bekamen zivile Kleidung, um uns ungehinderter oder möglichst unerkannt bewegen zu können. Wenigstens glaubten sie das. Letztendlich übernahmen wir aber Himmelsfahrtskommandos. Niemand konnte wissen, ob wir es schaffen und unsere Ziele erreichen würden. Und trotzdem, so unwahrscheinlich es auch war, ist es sogar uns beiden gelungen, am Leben zu bleiben.

      Ich habe vermutlich Befehle nach Wandlitz gebracht, die Göring oder Himmler zugehen sollten. Ihr Großvater hatte vielleicht die Aufgabe, Instruktionen oder Briefe anderen Funktionären zuzustellen. Das ist das ganze Geheimnis. Vielleicht gab es Dutzende von uns. Als ich Hans damals sah, war er in Begleitung eines Jungen. Vielleicht musste auch er einen ähnlichen Auftrag ausführen. Die einzige Frage, die ich mir später immer gestellt habe, betraf die Beweggründe Ihres Großvaters, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mich haben sie mit dem Leben meiner Eltern erpresst. Aber Ihr Großvater hatte keine Verwandten mehr in Berlin.

      Nun ja, wir konnten heute Nachmittag leider nicht jedes Geheimnis lüften. Also, mein Junge, machen Sie sich keine weiteren Gedanken! Behalten Sie Ihren Großvater so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. Mehr steckt nicht dahinter!“

      „Vielleicht haben Sie ja recht!“, entgegnete Torben, der unwillkürlich an die Widmung denken musste: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann.“

      „Natürlich habe ich recht, ich sage es nochmals, wir waren entbehrliche, kleine und dumme Handlanger, mehr nicht!“, krächzte Reiher, der die Botschaft ja nicht kannte, und bekam einen Hustenanfall, der noch andauerte, als Torben ihn bereits wieder im Wohnheim einem Pfleger übergab.

      Er hatte genug gehört und wollte ihn nicht länger quälen. Er bat den Betreuer, dem alten Mann später, wenn es ihm wieder besser ginge, nochmals seinen Dank für das Gespräch auszurichten, und hinterließ eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer, falls dem Veteranen noch etwas einfallen sollte.

      Aufgewühlt von den Erzählungen Reihers, verbrachte Torben den späten Nachmittag und den Abend damit, sein Wissen über das Dritte Reich und – wie er es für sich selbst nannte – den Größenwahn der Nazis aufzufrischen. Relativ schnell wurde ihm klar, dass das Internet als Quelle für die für ihn so wichtigen letzten