Alpendohle. Swen Ennullat

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Название Alpendohle
Автор произведения Swen Ennullat
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783954620821



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verbrachte, fast umgebracht haben.“

      „Mit deiner Großmutter hast du recht. Sie wurde hierhergeschickt, weil es durch die ständigen Bombardierungen in Berlin zu gefährlich war.“ Seine Mutter war, während sie sprach, zum Wohnzimmertisch gegangen, nahm sich jetzt ein abgegriffenes rotes Fotoalbum und schlug es auf. „Hier, kennst du dieses Foto?“

      Torben blickte in das Gesicht eines mageren, ernsten jungen Mannes, der vielleicht zwanzig Jahre alt war.

      „Das ist dein Großvater Hans Schauweiler als junger Wehrmachtssoldat. Er war weder Offizier noch Angehöriger der Waffen-SS, noch hat er Heldentaten in diesem Krieg vollbracht. Ich weiß, dass er an die Front nach Frankreich musste, nachdem er wie Tausende andere auch eingezogen worden war, und dort einer Artillerieeinheit angehörte. Jedenfalls hat er immer erklärt, dass er sich seinen Hörschaden dort geholt habe. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie befand er sich, zumindest glaube ich das, mit seiner Einheit irgendwie ständig auf dem Rückzug. Die letzten Monate des Krieges hat er Berlin mit verteidigt. Wenige Tage vor der Kapitulation der Nazis kam er aber ziemlich erschöpft und in ziviler Kleidung nach Hause. Er sagte immer, dass er deine Großmutter noch einmal sehen und sie bitten wollte, auf ihn zu warten, da er wusste, dass eine Internierung oder Inhaftierung aller Wehrmachtsangehörigen durch die Siegermächte unausweichlich war. Großmutter sollte wissen, dass er zumindest bis zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war und die Kämpfe überstanden hatte. Er wurde einige Tage später dann auch in diesem Haus von russischen Soldaten verhaftet und deportiert. Alles andere weißt du bereits. Die nächsten drei Jahre konnten sich deine Großeltern nur ein halbes Dutzend Briefe und Karten schreiben und er kam – von schwerer körperlicher Arbeit gezeichnet – krank und geschwächt aus der Gefangenschaft zurück. Die Russen haben die Deutschen verständlicherweise nicht unbedingt gut behandelt. Deine Großmutter hat ihn gemeinsam mit ihrer Familie aber wieder aufgepäppelt. Und die nächsten sechs Jahrzehnte haben beide zusammen hier gelebt.“

      „Was nach 1945 geschehen ist, weiß ich, aber hat er dir – seiner einzigen Tochter – nicht irgendetwas vom Krieg, von den Kämpfen in Berlin oder den Orten seiner Stationierung erzählt? Überleg doch bitte noch einmal!“, ließ Torben nicht locker.

      „Vielleicht liegt es ja daran, dass ich kein Mann bin. Mich hat das weder interessiert, noch hatte ich das Gefühl, dass dein Großvater darüber sprechen wollte. Seien wir ehrlich, niemand hat diesen Krieg ohne Narben an Körper und Seele überstanden. Therapien oder so etwas Ähnliches gab es damals noch nicht. Die meisten haben ihre Erlebnisse einfach verdrängt und dein Großvater gehörte eindeutig zu ihnen.“

      „Ich weiß nicht, ob ich es jetzt finde“, sagte seine Mutter, während sie sich durch die restlichen Fotoalben wühlte, „aber dein Großvater hat mir irgendwann einmal ein Foto mit einer Gruppe Soldaten gezeigt. Es handelte sich, wenn ich mich recht erinnere, um eine Aufnahme aus seiner Grundausbildung. Darauf waren bestimmt zwanzig junge Männer zu sehen, die vor einem Flakgeschütz standen. Eigentlich kann man sie gar nicht als Männer bezeichnen, sondern eher als Jungs. Die meisten von ihnen waren bestimmt das erste Mal von zu Hause weg; aber alle sahen so glücklich und lebensfroh aus. Dein Großvater sprach sehr euphorisch über diese Zeit. Als ich ihn fragte, was aus den anderen geworden ist oder ob er noch Kontakt zu ihnen hat, änderte sich seine Stimmung schlagartig. Ihm traten die Tränen in die Augen und er sagte, sie seien alle gefallen. Er sei der Einzige, der diesen elenden Krieg überlebt hat.“

      Nachdem seine Mutter den nächsten Stapel Fotos durchgesehen hatte, sah sie auf und sagte: „Es tut mir leid, Torben, ich kann das Foto einfach nicht finden.“

      „Es ist schon gut, Mom, das ist nicht so wichtig“, entgegnete Torben. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er sie jedoch: „Du sagtest, Großmutter und Großvater haben sich während der Gefangenschaft geschrieben, das haben sie doch bestimmt auch schon während des Krieges. Wie ich meine sentimentale Großmutter in Erinnerung habe, hat sie diese Briefe doch bestimmt aufgehoben.“

      Bevor er weiterreden konnte, fiel ihm seine Mutter ins Wort und sagte: „Oh, Torben, wie gut deine Großmutter dich doch kannte! Schon einige Monate vor ihrem Tod bat sie mich, alle Briefe zwischen deinem Großvater und ihr, die sie tatsächlich aufgehoben hatte, gemeinsam mit einigen anderen Sachen zu vernichten. Und das habe ich auch getan. Nachdem dein Opa gestorben war, hat sie alle Briefe nochmals gelesen. Sie sagte mir, sie seien sehr persönlich und sie wolle nicht, dass andere Menschen sie jemals zu Gesicht bekommen. Der Inhalt gehe nur Hans und sie etwas an. Mit einem Lächeln hat sie hinzugefügt: Und wir wollen doch nicht, dass der Junge eine kitschige Liebesgeschichte daraus macht! Wir haben beide damals so darüber gelacht. Rückblickend war es eines der letzten Lachen, das ich von ihr gehört habe. Ach Torben, sie haben dich beide so geliebt. Weißt du das eigentlich?“

      Durch den Kloß in seinem Hals, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, schaffte es Torben nur, ein kehliges „Ja!“ als Zustimmung auszustoßen. Er kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und wandte sich wieder den auf dem Wohnzimmertisch angehäuften Erinnerungen zu.

      In den nächsten Minuten betrachteten seine Mutter und er gemeinsam und schweigend die Fotoalben und losen Fotos. Hunderte Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Farbfotografien zeigten die – wie viele lachende Gesichter verkündeten – meist glücklichen Momente ihrer Familie in den letzten fast einhundert Jahren. Er sah die Eltern seiner Großmutter beim Bau des Hauses. Er sah seinen Großvater als bereits hoch aufgeschossenen Jugendlichen mit seiner viel jüngeren Schwester an der Hand, die später bei der Bombardierung Magdeburgs sterben sollte. Er sah seine Großeltern mit ihrer achtzigköpfigen Hochzeitgesellschaft. Er sah sich selbst mit seinem Vater unter dem Weihnachtsbaum.

      Plötzlich sagte seine Mutter: „Möglicherweise gibt es aber jemanden, der dir weiterhelfen kann zu erfahren, wie dein Großvater die letzten Kriegstage in Berlin verbracht hat.“

      „Wirklich? Wer soll das sein? Ich dachte, die meisten seiner damaligen Freunde und Bekannten sind verstorben?“

      „Du kennst ihn auch“, erwiderte sie. „Er war auf der Beerdigung deines Großvaters, ein hagerer alter Mann. Er lief an Krücken, und das sehr schlecht. Du hast ihn gestützt, als er damit in der weichen Friedhofserde einsank. Erinnerst du dich?“

      Torben nickte zwar, aber seine Erinnerung an den Mann, von dem seine Mutter sprach, war nur sehr vage. Es war ein regnerischer und trüber Nachmittag gewesen. Das Wetter hatte zu dem Anlass gepasst. Sollte er irgendjemandem geholfen haben, so hatte er es als nicht besonders wichtig erachtet und einfach vergessen.

      Sein Mutter redete weiter: „Sein Name ist Konrad Reiher. Dein Großvater und er haben sich wohl im Krieg kennengelernt und vor einigen Jahren – wie sollte es in ihrem Alter auch anders sein – auf der Beerdigung eines gemeinsamen Bekannten wiedergetroffen. Sie haben danach ab und zu miteinander telefoniert. Reiher wohnte zu diesem Zeitpunkt schon in einem Pflegeheim. Ich glaube, es befindet sich am Crossinsee. – Mir fällt gerade ein, bei der Beisetzung deiner Großmutter habe ich ihn gar nicht gesehen. Es wäre sicherlich sehr schade, aber vielleicht ist er ebenfalls schon verstorben. Er müsste ja auch bereits weit über achtzig Jahre alt sein und gesund sah er schon damals nicht aus. Einen besseren Rat kann ich dir wirklich nicht geben. Es tut mir leid.“

      „Das muss es nicht! Vielleicht besuche ich ihn einmal, danke für den Hinweis. Möglicherweise lasse ich die Geschichte aber auch auf sich beruhen“, antwortete Torben und meinte es auch so. Im Augenblick waren das Buch und dessen rätselhafte Herkunft für ihn nicht so wichtig.

      Er nahm den rechten Arm und zog seine Mutter an sich. Zwar tat er das, um ihr durch die körperliche Nähe etwas Kraft zu vermitteln, aber eigentlich – so gestand er sich ein – war es schon immer genau umgekehrt gewesen.

      Seine Mutter, die instinktiv wusste, wie lange solche Momente dauern durften, ohne für Torben peinlich zu erscheinen, raffte sich kurz darauf auf – obwohl sie die Umarmungen ihres Sohnes so genoss – und sagte: „Genug gefaulenzt, lass uns jetzt mit dem Ausräumen weitermachen. Wilfried glaubt sonst noch, er muss hier alles alleine machen!“

      „Wissen