Leopardenjagd. Edi Graf

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Название Leopardenjagd
Автор произведения Edi Graf
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839230480



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Am nächsten Tag würde Brian Ndolwa noch eine halbtägige Pirschfahrt mit ihnen machen und sie wieder zurück nach Mombasa bringen, von wo aus sie gestern früh zur Tsavo-Safari gestartet waren.

      Keiner im Wagen hatte Brian Ndolwas Entdeckung mitbekommen, und er entschloss sich, am Abend noch einmal allein zurückzukehren, um das zu untersuchen, was der Leopard da auf der Akazie fraß. Nun mussten seine Gäste den Tag beenden, ohne die Big Five gesehen zu haben, aber sie waren schon begeistert genug von den Begegnungen mit ihren ersten Löwen und würden am Wasserloch von Voi höchstwahrscheinlich auf Elefanten stoßen und viele Büffel, die sich die Tränke friedlich mit Zebras teilten.

      Eine Stunde später, es war inzwischen rasch dunkel geworden, fraßen sich die Scheinwerfer des Safaribusses durch die Nacht. Sicher wie die Ginsterkatze auf ihrem Jagdzug fand Brian Ndolwa den Weg, er hatte noch kurz im Park-Headquater angerufen und den Rangern von seinem nächtlichen Vorhaben berichtet, allerdings ohne seinen Verdacht zu äußern, dort auf einer Akazie einen menschlichen Leopardenkill entdeckt zu haben. Zu unvorstellbar war ihm dieser Gedanke, und so teilte er den Rangern nur mit, dass einer seiner Gäste einen Teil seiner Kameraausrüstung vermisse und er noch mal hinausfahre, um bei ihrem Picknickplatz nachzusehen. Die Ranger, die Brian seit Jahren als zuverlässigen Fahrer kannten, erteilten ihm die Erlaubnis.

      Als er den Bus in der Nähe der Schirmakazie abstellte, bewegten sich die Baumstämme, die von den Autoscheinwerfern erfasst wurden. Ndolwa erkannte sofort, dass sich eine Herde Elefanten unter dem Baum zum Schlafen niedergelassen und dabei den Leoparden sicher aus seinem Versteck vertrieben hatte. Missmutig grollend, machte die Herde nun ihrerseits dem hupenden Ungetüm Platz und zog polternd weiter. Ndolwa wartete, bis die Elefanten nicht mehr zu hören waren, lauschte in die Nacht, schaltete die Taschenlampe ein und stieg aus dem Wagen. Seine Schritte raschelten im hohen Gras, und er fühlte sich nicht sehr wohl, als er zu Fuß auf die Akazie zu schlich. Er hatte keine Waffe bei sich, die Buschpiste war gut 100 Meter entfernt, sein Bus stand versteckt im dichten Dornbusch, eine Rangerpatrouille würde kaum auf die Idee kommen, ihn hier zu suchen.

      Es war die Zeit der nächtlichen Jäger, seine Chance, jetzt zu Fuß einem Leoparden zu begegnen oder auf eine lauernde Puffotter zu treten, war nicht einmal so schlecht. Er verdrängte die Gedanken und blieb am Stamm der Akazie stehen. Der Strahl der Taschenlampe wanderte nach oben und erfasste die grausige Szenerie. Das Gesicht des Toten war angefressen, Genick, Schulter, linker Oberarm und Bauch eine unförmige Masse aus Fleisch, Muskelfasern, Blut und Kleidungsresten. Der Leopard hatte kräftig zugelangt, ehe er von den Elefanten vertrieben worden war. Brian Ndolwa wandte sich ab und würgte.

      Dabei blieb sein Blick an einem hell schillernden Gegenstand hängen, der vor ihm im Gras lag und den Schein der Taschenlampe reflektierte. Ndolwa bückte sich danach und hob einen kleinen Schlüsselbund auf, der durch einen Metallring zusammengehalten wurde. Er schien dem Toten im Baum aus der Tasche gefallen zu sein. Neben drei Schlüsseln, einer davon schien ein Autoschlüssel zu sein, war an dem Metallring ein kleines Lederoval befestigt, offensichtlich ein Etui für Münzen. Brian Ndolwa öffnete den Druckknopf und tastete mit seinem Zeigefinger ins Innere des schmalen Täschchens. Leer. Dann fuhr der Finger über die raue Lederoberfläche und erfasste eine leichte Unebenheit. Er hielt den Schlüsselring mit dem Lederteil ins Taschenlampenlicht und erkannte das Monogramm: ein großes A und ein im gleichen Stil geprägtes S zierten das schwarze Leder. A. S.

      Brian Ndolwa blickte noch einmal ins Geäst der Akazie, ohne den Lampenstrahl seinem Blick folgen zu lassen. Mehrere Namen gingen ihm durch den Kopf, Menschen, die er kannte und deren Vor- und Nachnamen mit den Buchstaben A und S begannen. Wer war dieser A. S., dessen Kadaver hier auf dem Leopardenbaum hing? Hatte der Leopard ihn gerissen? Wie sonst sollte er auf die Akazie gekommen sein?

      Hätte Brian Ndolwa in dieser Nacht noch einmal nach oben geleuchtet, hätten seine scharfen Augen vielleicht die Spuren entdeckt, die der Handseilzug am Stamm über dem Toten hinterlassen hatte. Die Ranger, die er eine halbe Stunde später von seinem Fund unterrichtete, informierten die nächste Polizeistation in Voi. Zwei Polizisten bargen die Überreste des Toten am frühen Morgen, bevor der Nationalpark seine Tore für die Besucher öffnete, ohne im Baum nach den Spuren eines Mordes zu suchen. Stattdessen widmeten sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Fährte eines menschenfressenden Leoparden, die von der Akazie in Richtung der Felsgruppe führte, die im Norden lag.

      Brian Ndolwa war kurz nach der Morgendämmerung schon wieder mit seinen Gästen auf Pirschfahrt. Er vermied es, noch einmal in diesen Teil des Tsavo zu kommen. Den Schlüsselring und das Lederteil mit der rätselhaften Prägung hatte er noch in der Nacht bei den Rangern abgegeben. Er konnte nicht ahnen, dass in Nairobi eine Vermisstenanzeige vorlag, zu der die Initialen A und S passten.

      9

      Freitag, 25. August 2006, Tübingen

      »Machst du eigentlich noch was anderes außer arbeiten?«, fragte Babs Wagner, als sie morgens um acht Uhr in die Redaktion kam und Linda Roloff schon am PC einen Beitrag abhörte. »Oder bist du für den Frühdienst eingesprungen?«

      Linda Roloff, der man die Ende 30 nicht ansah, schien ihre Kollegin nicht bemerkt zu haben. Ihre braunen Augen, von denen einige ihrer Freunde behaupteten, sie seien ebenso schwarz wie ihre Haare, starrten auf den matten Bildschirm des Computers, die kleinen runden Kopfhörermuscheln klebten auf ihren Ohren und schotteten sie ab von den Geräuschen der realen Welt. Babs beobachtete die blauen Balken der Anzeige, die Kurven und Amplituden der aufgenommenen Töne, die auf dem Bildschirm von rechts nach links liefen, zwischendurch, wenn Linda einen Schnitt setzte, stehen blieben, dann weiter scrollten, bis schließlich das Ende des Beitrags erreicht war. Sie sah zu, wie Linda den fertig geschnittenen O-Ton abspeicherte, mit einem Löschschutz versah und schließlich die Kopfhörer in den Nacken schob, wo das schwarze Kabel wie eine weite Kette um ihren Hals hing.

      Jetzt endlich sah sie auf und bemerkte Babs, die mit müdem Blick den Schreibtisch gegenüber betrachtete und mit einem lauten Seufzer das Chaos aus Papierstapeln, CDs, Dat-Kassetten und Notizzetteln begrüßte, das über Nacht wieder einmal von keinem Heinzelmännchen geordnet worden war. Montagmorgen und die Woche nimmt kein Ende – der Spruch klebte am unteren Ende ihres PCs und spiegelte die Stimmung wider, mit der Babs morgens um diese Zeit ihr Arbeitszimmer betrat, auch wenn heute schon Freitag war. Es war wieder spät geworden gestern Abend, nachdem sie mit zwei anderen Kolleginnen im Sudhaus beim Konzert von Kick La Luna gewesen war. Linda hatte keine Lust gehabt, mitzugehen.

      »Hey, Babs, hab’ dich gar nicht reinkommen sehen«, sagte Linda tonlos, streifte ihre Kollegin nur mit einem flüchtigen Blick, wandte sich wieder der Anzeige auf dem Monitor zu und griff die Kopfhörermuscheln, um sie erneut über die Ohren zu stülpen.

      »Warte mal!«, sagte Babs jetzt laut und griff nach Lindas Handgelenk, um das Aufsetzen der Kopfhörer zu verhindern.

      »Ich muss den Beitrag fertig machen, er soll um halb zehn in den News laufen!«, zischte Linda und entwand sich ihrem Griff.

      »Okay, dann eben danach«, meinte Babs und nahm an ihrem Schreibtisch Platz. »Ich möchte doch nur fünf Minuten mit dir reden. Findest du nicht auch, dass das für zwei gute Freundinnen drin sein müsste?«

      Linda, die die Kopfhörer noch nicht aufgesetzt hatte, hielt in ihrer Bewegung inne und holte laut hörbar Luft.

      »Hattest du noch nie das Gefühl, nein, den Wunsch, einfach mal allein sein zu wollen, für dich, ganz allein, ohne die …«, sie zögerte, »… Fürsorge anderer? Lass mich einfach in Ruhe!«

      Das klang schroff, ziemlich schroff sogar, und wenn sie sich nicht so lange gekannt hätten und Babs Linda zu ihren besten Freundinnen zählte, wäre sie einfach aufgestanden und aus dem Raum gegangen, hätte sich einen Kaffee geholt und für den Rest des Tages schweigend weitergearbeitet. Seit Linda aus Südafrika zurückgekehrt war, hatte sie sich zurückgezogen, abgeschottet, ihren Liebeskummer in sich hineingefressen. Doch wie hatte Clemens, Babs neuer Freund, zu ihr gesagt: So wie die sich abschottet, braucht sie gerade jetzt jemanden, der ihr zuhört. Lass nicht locker, warte den passenden Moment ab und bring sie zum Reden!

      »Nein, das werde ich nicht tun!«, sagte Babs deshalb und fixierte Linda, die ihrem Blick