Sag niemals, das ist dein letzter Weg. Jetta Schapiro-Rosenzweig

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Название Sag niemals, das ist dein letzter Weg
Автор произведения Jetta Schapiro-Rosenzweig
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019057



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auf sei­ne Spur kom­men und auch sie sei dann ge­fähr­det. So musste sie den Hund an ei­nen an­de­ren Ort brin­gen.

      Samek, mein Nef­fe, leb­te in sei­ner ei­ge­nen Welt. Er mal­te und zeich­ne­te. Die Non­nen wa­ren be­geis­tert, sie ver­schaff­ten ihm Pa­pier und Far­ben. Ei­nes der Bil­der ist mir in Er­in­ne­rung ge­blie­ben: es zeigt Je­sus nicht als weh­mü­ti­gen, son­dern als zor­ni­gen Gott, vol­ler Zorn we­gen al­lem, was auf der Welt ge­schieht. Die Non­nen häng­ten die­ses Bild im Klos­ter auf. Es wirk­te nicht wie das Werk ei­nes klei­nen Jun­gen, son­dern wie das ei­nes fer­ti­gen Ma­lers. Die Ruhe im Klos­ter und die Or­gel­mu­sik hat­te eine ei­gen­ar­ti­ge At­mo­sphä­re um uns ge­schaf­fen, und das kam in sei­nen Bil­dern zum Aus­druck. Auch das, was sich drau­ßen, hin­ter der Ku­lis­se des Klos­ter­frie­dens er­eig­ne­te, hin­ter­ließ tie­fe Spu­ren in sei­nem Her­zen.

      So leb­ten wir ein hal­bes Jahr. Täg­lich ka­men Hor­ror-Nach­rich­ten aus dem Ghet­to. Am Jom Kip­pur ist, wie wir hör­ten, un­se­re Mut­ter und auch die Mut­ter von Ja­nusch um­ge­kom­men. Wir wa­ren ganz ver­zwei­felt, aber wir wag­ten kein lau­tes Wort zu sa­gen.

      Ei­nes Ta­ges kam die Obe­rin Ma­tusch­ka zu uns und er­zähl­te, dass sie noch vier jun­ge Mäd­chen auf­ge­nom­men habe, die aus dem Ghet­to ent­kom­men konn­ten. Eine da­von war Lol­ka Feld­stein, die Toch­ter ei­nes be­kann­ten Zahn­arz­tes. Die Obe­rin war sehr ängst­lich, sie er­zähl­te, dass die Deut­schen neu­er­dings auch sämt­li­che Klös­ter durch­such­ten. So ka­men wir zu dem Ent­schluss, uns eine an­de­re Blei­be zu su­chen. Jo­nas und Ja­scha gin­gen mit der Obe­rin, etwas Geeignetes für uns zu fin­den. Au­ßer den vier er­wähn­ten Non­nen wusste nie­mand von un­se­rem Ver­bleib. Was sie al­les für uns ge­lei­stet ha­ben, kön­nen wir nicht ge­nug an­er­ken­nen. Sie setz­ten ihr Le­ben für uns aufs Spiel und wir konn­ten ih­nen nichts da­für zu­rück­ge­ben. Die Nah­rung war knapp und sie musste für neun Per­so­nen rei­chen. Drei­mal am Tag be­ka­men wir un­ser Es­sen, vier­mal in der Wo­che so­gar mit Fleisch, sonst mit Milch. So wa­ren wir alle satt, wir konn­ten uns sau­ber hal­ten, wa­ren warm und ge­schützt. Auch Auf­merk­sam­keit und Lie­be wur­de uns zu­teil; je­den Abend kam die Obe­rin zu uns he­rein, und wir konn­ten ihr viel über un­ser Le­ben er­zäh­len, von der Zeit vor dem Krieg, un­se­ren Ver­wand­ten und al­lem an­de­ren. An al­lem war sie sehr in­te­res­siert. Au­ßer ihr kam auch manch­mal Schwes­ter Lu­cia. Sie war in ih­ren mitt­le­ren Jah­ren und sehr schön. Da­her frag­ten wir sie, wa­rum sie ins Klos­ter ge­gan­gen war, und sie er­zähl­te uns, dass dies seit ih­rer Kind­heit ihr in­nigs­ter Wunsch ge­we­sen war. Ihre Fa­mi­lie war ganz da­ge­gen und sie musste kämp­fen, um ihr Ziel zu er­rei­chen. Ihre äl­te­re Schwes­ter war be­reits im Klos­ter, sie war ih­rer Schwes­ter und ihr selbst ein Vor­bild. Es war nicht leicht, die­ses Ziel zu er­rei­chen, es ge­hör­te eine ge­wis­se Bil­dung dazu und vor al­lem eine gro­ße Lie­be zu Je­sus. Drei Jah­re musste sie eine stren­ge Pro­be­zeit in ei­nem frem­den Klos­ter durch­ma­chen. Aber sie be­stand alle Prü­fun­gen mit Bra­vour, und der glück­lichs­te Tag in ih­rem Le­ben war der, an dem sie zu ih­rer Schwes­ter ins Klos­ter ge­hen durf­te. Jetzt wa­ren es be­reits zehn Jah­re, dass sie in die­sem Klos­ter leb­te. Wir ha­ben sie be­wun­dert und ge­liebt, und je­der ih­rer Be­su­che war für uns wie ein Fei­er­tag.

      Wir hat­ten we­nig Kon­takt nach au­ßen. Au­ßer Wla­dek sa­hen wir nur Lol­ka Feld­stein, die je­den Abend zu uns kam. Sie hat­te ei­nen Bru­der im Ghet­to, aber sie durf­te es nicht wa­gen, mit ihm Kon­takt auf­zu­neh­men. Durch sie wa­ren wir von der äu­ße­ren Welt nicht ganz ab­ge­schnit­ten und wussten, was um uns he­rum pas­sier­te. Am wich­tigs­ten war uns na­tür­lich die Lage im Ghet­to.

      In der Fa­mi­lie war Tan­te Jan­ni­na un­ser ein­zi­ger Trost. Durch sie hör­ten wir al­les über mei­ne klei­ne Ta­mar, ihre Ap­pe­tit­lo­sig­keit, ihre Schlag­fer­tig­keit und über­haupt über ihre Ent­wick­lung. Au­ßer für sie sorg­te Tan­te Jan­ni­na noch für ein jü­di­sches Mäd­chen, dem sie ari­sche Pa­pie­re be­sorgt hat­te, und de­ren Schwes­ter, die in ei­nem Dorf leb­te.

      Die­se bei­den Mäd­chen wa­ren ei­gent­lich un­se­re Tan­ten. Das kam so: Un­ser Opa war sein gan­zes Le­ben lang ein Bau­er und führ­te ein ar­beits­rei­ches, schwe­res Le­ben. Als sei­ne Frau starb war er schon 74 Jah­re alt. Sei­nen Wei­zen ließ er im­mer im Nach­bar­ort mah­len, der Bau­er dort war ein from­mer Jude. Die­ser hat­te eine viel jün­ge­re Frau. So jung und schön sie war, hat­te sie doch ei­nen schlech­ten Ruf und man sag­te, ihre Kin­der hät­ten vie­le Vä­ter. Mein Opa mied sie und spuck­te bei ih­rem An­blick ver­ächt­lich auf den Bo­den. Als nun aber ihr Mann ge­stor­ben und sie eine Wit­we war, fing mein Opa an, sie zu be­su­chen und er brach­te Ge­mü­se und Obst von ihr mit. Ei­nes Ta­ges er­hiel­ten wir von ihm durch Bau­ern aus dem Dorf eine Fuh­re Kar­tof­feln für den gan­zen Win­ter, Ge­mü­se und Obst. Durch sie er­fuhr mein Va­ter, dass der Opa in sei­nem Al­ter die­se Frau ge­hei­ra­tet hat­te. Das brach­te mei­nen Va­ter in Rage und er woll­te von Opa gar nichts mehr an­neh­men. Es stell­te sich aber he­raus, dass die Wit­we all ihre Kin­der gut un­ter­ge­bracht hat­te. Mit 45 Jah­ren hei­ra­te­te sie un­se­ren Opa und be­kam noch zwei Kin­der mit ihm, zwei Mäd­chen. Das eine hieß Sara Guta, das an­de­re Meit­ke Guta. Das Ver­hält­nis zum Opa wur­de wie­der bes­ser. Er bat auch mei­ne Mut­ter, sich der Mäd­chen et­was an­zu­neh­men, da­mit sie keine Gojim würden und da­mit sie et­was lern­ten. Zu­min­dest Le­sen und Schrei­ben soll­te man ih­nen bei­brin­gen. Er bat sie so lan­ge, die Kin­der zu sich zu neh­men, bis sie ein­wil­lig­te. Mei­nem Va­ter war das gar nicht recht, da er im­mer noch über den Opa ver­är­gert war. Aber ei­nes Ta­ges kam ein Bau­er und brach­te uns die bei­den blon­den Mäd­chen. Mut­ter sag­te: »Kin­der, seid doch nett zu ih­nen, es sind doch ei­gent­lich eure Tan­ten.«

      Sie hat­ten so­gar eine ge­wis­sen Ähn­lich­keit mit uns. Doch sie stan­den in der Ecke und wa­ren ziem­lich ver­stört. Mei­ne Schwe­ster Mi­zia um­arm­te sie gleich und gab ih­nen auch von un­se­ren Spiel­sa­chen ab. Sie wa­ren bei­de sehr schüch­tern und spra­chen nur un­ter­ei­nan­der. Vor uns hat­ten sie Angst und blie­ben am liebs­ten in der Kü­che. Dort un­ter­hiel­ten sie sich mit den Dienst­bo­ten. Mut­ter be­stell­te für sie Pri­vat­leh­rer, um sie für die Schu­le vor­zu­be­rei­ten, aber sie woll­ten gar nichts ler­nen, wir fan­den sie rich­tig »ver­na­gelt«. Wir Kin­der ver­such­ten ih­nen bei­zu­brin­gen, dass sie ler­nen soll­ten und woll­ten mit ih­nen dis­ku­tie­ren. Doch es half al­les nichts. Mut­ter gab sie dann zu ei­ner kin­der­lo­sen Fa­mi­lie, die sie be­treu­te – ge­gen Zah­lung na­tür­lich. Als sie 12 und 13 Jah­re alt wa­ren und im­mer noch nicht ler­nen woll­ten, be­schloss mei­ne Mut­ter, dass sie ei­nen Be­ruf er­ler­nen soll­ten. Wir Kin­der sa­hen sie jetzt nur noch ge­le­gent­lich am Sonn­tag und hat­ten kei­nen ver­trau­li­chen Ton mehr mit ih­nen, schließ­lich wa­ren wir ja auch er­wach­se­ner ge­wor­den.

      Als mein Opa 84 Jah­re alt ge­wor­den war, er­krank­te er – zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben. Der Arzt sag­te, das Le­ben im Dorf sei zu schwer für ihn ge­wor­den. Also kam er zu uns. Va­ter hat ihm ver­zie­hen und er blieb bei uns woh­nen. Zwi­schen ihm und dem Per­so­nal kam es we­gen der jü­di­schen Spei­se­ge­set­ze öf­ter zu Un­stim­mig­kei­ten. Von mei­ner Mut­ter be­kam er jede Wo­che Geld, aber das trug er im­mer so­fort auf die Bank, als Aus­steu­er für sei­ne Töch­ter. Sie be­such­ten ihn re­gel­mä­ßig an je­dem Schab­bat3. Da sie ja Tan­te Jan­ni­nas Stief­schwes­tern wa­ren, be­sorg­te die­se ih­nen ari­sche Pa­pie­re.