Die Lehren der Zeugen Jehovas. Lothar Gassmann

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Название Die Lehren der Zeugen Jehovas
Автор произведения Lothar Gassmann
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783958932753



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Raymond Franz. Knorr hatte Raymond Franz 1965 mit der Konzipierung eines biblischen Nachschlagewerks, einer Art Bibellexikon der Zeugen Jehovas mit dem Titel „Hilfe zum Verständnis der Bibel“ (HVB) beauftragt. Während der mehrjährigen Arbeit an diesem Werk entdeckte Raymond Franz mehr und mehr Abweichungen zwischen Bibel und Wachtturm-Gesellschaft, zunächst organisatorischer Art. Raymond Franz berichtet rückblickend darüber:

      „Als ich den Auftrag für die Stichwörter ´älterer Mann` und ´Aufseher` zugeteilt bekam, ergaben die Nachforschungen in der Bibel schon bald ganz klar, daß unser Aufsichtssystem in den Versammlungen nicht dem des 1. Jahrhunderts entsprach. (Bei uns gab es keine Ältestenschaften in den Versammlungen; jede Versammlung hatte nur einen einzigen ´Aufseher`.) Das beunruhigte mich etwas, und ich trug die Erkenntnisse meinem Onkel vor“ (Franz 1991, S. 29).

      Über seinen Onkel, den Vizepräsidenten Frederick Franz, gelangte Raymonds Entdeckung zu Nathan Homer Knorr, der sich diese nach anfänglichem Zögern zueigen machte und die entsprechenden Reformen veranlasste. Das Geschichtswerk der Zeugen Jehovas berichtet darüber:

      „Vom 1. Oktober 1972 an sollten weltweit Änderungen in der Aufsicht über die Versammlungen in Kraft treten. Es würde nicht mehr nur einen Versammlungsdiener oder Aufseher geben. Vielmehr sollten in den Monaten vor dem 1. Oktober 1972 verantwortungsbewusste, reife Männer in jeder Versammlung der Gesellschaft Männer zur Ernennung empfehlen, die als Körperschaft von Ältesten dienen würden… Ein Ältester würde zum Vorsitzenden bestimmt werden, aber alle Ältesten hätten die gleiche Autorität und die gemeinsame Verantwortung, Entscheidungen zu treffen…

      Am 4. Dezember 1975 hatte die leitende Körperschaft einstimmig eine der bedeutendsten organisatorischen Änderungen in der neuzeitlichen Geschichte der Zeugen Jehovas gutgeheißen. Ab 1. Januar 1976 war die gesamte Tätigkeit der Watch Tower Society und der Versammlungen der Zeugen Jehovas auf der ganzen Erde der Aufsicht von sechs Komitees der leitenden Körperschaft unterstellt, die sich verschiedener Aufgabenbereiche annahmen. Damit war am 1. Februar 1976 weltweit in allen Zweigbüros der Gesellschaft eine Änderung in Kraft gesetzt worden. Jetzt wurde nicht mehr jedes Zweigbüro von einem einzigen Zweigaufseher beaufsichtigt, sondern es dienten drei oder mehr reife Männer als Zweigkomitee, von denen einer ständiger Koordinator war“ (JZ, S. 106 und 109).

      Man könnte sagen, dass das monarchische Führungsprinzip, das noch aus der Zeit Rutherfords übernommen worden war, einem mehr demokratischen Leitungsstil angenähert wurde. Die Macht war nun, auch in der „Leitenden Körperschaft“, auf mehrere Personen verteilt, unter denen der Präsident natürlich nach wie vor großes Gewicht besaß und besitzt. Er leitet die Wachtturm-Gesellschaft nun aber nicht mehr so sehr kraft seines Amtes, sondern stärker durch seine prägende Persönlichkeit.

      Nathan Homer Knorr starb am 8. Juni 1977 an einem inoperablen Hirntumor im Alter von 72 Jahren. Zu seinem Nachfolger wurde zwei Wochen später der langjährige Vizepräsident, der 83 Jahre alte Frederick W. Franz gewählt.

      Der Ausgestalter der Wachtturm-Lehre

      Frederick William Franz leitete die Wachtturm-Gesellschaft von seinem 83. bis 99. Lebensjahr. Doch seine Bedeutung geht weit über diese Epoche hinaus. Bereits zu Knorrs Zeiten galt er als der Denker im Hintergrund, als der Ausgestalter der Wachtturm-Theologie. Viele Artikel im Wachtturm und anderen Schriften stammten aus seiner Feder. Werke wie die „Neue-Welt-Übersetzung“ der Bibel und das Bibellexikon der Zeugen Jehovas gehen maßgeblich auf seine Initiative und Arbeit zurück. Im Gegensatz zu vielen anderen in der Wachtturm-Zentrale, etwa zu Knorr, hatte er das biblische Griechisch an der Universität studiert. Sein Neffe Raymond Franz schrieb über ihn während seiner Präsidentenzeit:

      „Fred Franz, der gegenwärtige Präsident, ist wie auch die früheren Präsidenten eine Führerpersönlichkeit, und sein persönlicher Einfluss ist sehr groß, auch wenn das Präsidentenamt durch die Dezentralisierung der Macht in den Jahren 1975-76 buchstäblich aller seiner Befugnisse beraubt wurde… Das gesamte Lehrgebäude, das nach dem Tode Richter Rutherfords im Jahre 1942 aufgebaut wurde, ist praktisch sein Werk… Keines der… Mitglieder der leitenden Körperschaft könnte neue Bibelauslegungen so markant in Worte fassen und durch verzwickte Argumentationsketten untermauern, wie Fred Franz es getan hat“ (Franz 1991, S. 328).

      Frederick William Franz war am 12. September 1893 in Covington/Kentucky geboren worden. Als er sechs Jahre alt war, zogen seine Eltern, die zur presbyterianischen Kirche gehörten, nach Cincinnati um. Dort beendete er 1911 die High-School und studierte anschließend an der Universität Cincinnati Geisteswissenschaften, unter anderem Bibelgriechisch, weil er presbyterianischer Prediger werden wollte. Seine Leistungen waren so gut, dass er für ein Rhodes-Stipendium ausgewählt wurde, das ihm den Weg an die berühmte englische Universität Oxford ermöglichte. Aber Franz beschritt diesen Weg nicht…

      Während des Studiums – im Jahre 1913 – hatte ihm sein Bruder Albert nämlich eine Broschüre des „Ernsten Bibelforschers“ John Edgar mit dem Titel Wo sind die Toten? zu lesen gegeben, die ihn begeisterte. Danach beschäftigte er sich mit Russells „Schriftstudien“. Diese Lektüre sollte seinen Weg total verändern. Franz trat aus der Presbyterianischen Kirche aus und schloss sich den „Ernsten Bibelforschern“ an. Am 30.11.1913 empfing er deren „Taufe“. Im Mai 1914 verließ er die Universität und wurde Kolporteur der Wachtturm-Organisation. Dieser Organisation ist er 80 Jahre lang (!) auf sämtlichen Stufen der Macht treu geblieben. 1920 kam er in die Zentrale der Macht nach Brooklyn und arbeitete lange Zeit in deren Hauptbüro mit. 1945 wurde er zum Vizepräsidenten, 1977 dann zum Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt.

      Frederick Franz contra Raymond Franz

      Aus der Präsidentenzeit Franz` gibt es wenig Außergewöhnliches zu berichten. Die Organisation wuchs weiter. Zwischen 1977 und 1992 wurden über 29.000 neue Versammlungen weltweit gegründet. Die Mitgliederzahl erhöhte sich in diesem Zeitraum auf ca. 4,5 Millionen „Königreichsverkündiger“. Ein Rückschlag erfolgte lediglich um 1980 herum, als sich – unter Leitung ausgerechnet seines schon mehrmals erwähnten Neffen Raymond Franz – eine Oppositionsgruppe im New Yorker Bethel und darüber hinaus bildete, die viele verunsicherte. Etwa 350 Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft aus den unterschiedlichen Ebenen der Macht wurden damals aus dem Bethel entfernt oder erklärten freiwillig ihr Ausscheiden. An vielen Orten kam es zu Unruhe und Spaltungen. In mehreren Wachtturm-Artikeln musste damals beruhigend und besänftigend auf die „Königreichsverkündiger“ eingewirkt werden. Im Geschichtswerk der Zeugen Jehovas kann diese Bedrohung nicht verschwiegen werden:

      „In den Jahren bis 1980 versuchten einige, die sich über Jahre an der Tätigkeit der Zeugen Jehovas beteiligt und zum Teil in führenden Stellungen in der Organisation gedient hatten, auf verschiedene Weise, Spaltungen zu verursachen und dem Werk der Zeugen Jehovas Widerstand zu leisten. Damit das Volk Jehovas gegen den Einfluss Abtrünniger gewappnet wäre, brachte Der Wachtturm Artikel wie ´Bleibe fest im Glauben` (1. November 1980), `Das unauffällige Einführen verderblicher Sekten` (15. Dezember 1983) und `Widerstehe der Abtrünnigkeit, halte an der Wahrheit fest!` (1. Juli 1983)“ (JZ, S. 111).

      Dabei hatten die „Abtrünnigen“ nichts anderes entdeckt, als dass die Lehre und Organisation der Wachtturm-Gesellschaft in wesentlichen Punkten nicht mit der biblischen Botschaft übereinstimmt. Eine Diskussion über solche Erkenntnisse war aber nicht möglich, sondern man bestrafte die Abtrünnigen mit dem „Gemeinschaftsentzug“. Raymond Franz hat in seinem Buch „Der Gewissenskonflikt“ ausführlich über die Auseinandersetzungen in den siebziger und achtziger Jahren berichtet. Er resümiert:

      „Ende 1979 war ich am Scheideweg angelangt. Fast 40 Jahre lang hatte ich hauptberuflich im Dienst der Organisation gestanden, sie von ganz unten bis ganz oben durchlaufen. Die letzten 15 Jahre war ich in der Weltzentrale tätig gewesen, darunter neun Jahre als Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas weltweit. Diese letzten neun Jahre waren die entscheidenden. In dieser Zeit holte die Realität meine Illusionen ein… Langsam wurde mir klar, dass ich mein Leben großenteils auf nichts anderes