Название | Das andere Brot |
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Автор произведения | Rosemarie Schulak |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903229259 |
Beim Hinhören und Schauen lernte er Aufmerksamkeit und Konzentration. Natürlich reichte das nicht, um Zusammenhänge einer komplexen Handlung zu erfassen, doch bemühte er sich darum sehr, es schärfte sich sein Verstand. Georg gewann eine Menge nur scheinbar nutzloser Kenntnisse, die ihm im späteren Leben dienlich sein konnten und Vorteile ermöglichen würden.
Den Kleinen faszinierte das Neue, das völlig Unbekannte an diesen Bildern. Das waren damals – es ist ja schon lange her – meist sorgfältig gekleidete Menschen, gefällig frisiert und sauber; Menschen, die Schuhe trugen und freundlich lächeln konnten, Männer und Frauen. Interessant waren auch ihre Reden, Bewegungen, ihr ganzes emsiges Tun. Menschen waren das, wie Georg sie nie erlebt hatte, die ihm zu fehlen begannen, wenn er an den alltäglichen Orten ankam, in der Schule, im Haus, im Garten. Die freundlichen Gesichter fehlten ihm, ohne dass er Näheres von ihnen wusste. Im Film redeten alle meist ohne Scheu und sichtbaren Hinterhalt. Sie lächelten, lachten, was Georg gern nachzuahmen versuchte. Durch Nachahmung lernte er schließlich auch das, was man vielleicht sogar Charme hätte nennen können, der sonst wohl keinem aus seiner Umgebung je abzuschauen war.
Die Unbeschwertheit, mit der die Menschen im Film einander begegneten bezauberte ihn. Auch ihre Gewohnheit höflich zu grüßen, zu bitten, zu danken. Wie sie, die Herren, den liebenswürdigen Damen Blumen schenkten, oder den Vortritt ließen! Das alles erschien Georg ganz wunderbar, schön und nachahmenswert. Man saß bei Tisch, speiste mit Messer und Gabel, während Georg meist nur mit dem Löffel die Dinge in sich hineinstopfte. Bald begann er zu ahnen was heiteres Geplauder war und nahm sich vor, das einmal auszuprobieren, auf andere zu schauen und auch zu hören, was sie von ihm wissen wollten. Ihnen würde er antworten wie einer der freundlichen Herren auf der Kinoleinwand. Er betrachtete deren Kleidung und nahm sich vor, eines Tages auch so einen feinen Anzug zu tragen wie sie, aber jetzt schon, zumindest am Abend, seine Hosen vom Staub zu befreien, sie auszuschütteln und nicht achtlos auf den Boden zu werfen. Nie sah er einen dieser Männer barfuß gehen, die Frauen auch nicht. Sie trugen Socken oder Strümpfe. Georg beobachtete da sehr genau. Wenn, was er sich sehnlich wünschte, einmal ein Mädchen ihn ansprach, würde er in Schuhen vor ihr stehen, ihr zuhören und auf ihre Freundlichkeit freundlich antworten. Dass es solche Menschen wie in diesen Filmen überhaupt gab, grenzte beinah an ein Wunder, denn höchst selten reagierten sie mit Geschrei und Geschimpfe, und Ohrfeigen setzte es so gut wie nie.
Nach und nach wurde Georg ein anderer. Nie, das nahm er sich vor, würde er aufhören ins Kino zu gehen. Das Überraschende nämlich, sicherlich auch das Schönste an diesen Filmen war die Liebe. Und am allerschönsten ein Kuss. Daran dachte er wieder und wieder, weil er sich nicht erinnern konnte, jemals geküsst zu haben oder gar geküsst worden zu sein.
Was außerdem auffiel und ihn mächtig beeindruckte? Dass die Menschen im Film sich einer anderen Sprache bedienten. Bald unterschied er genau zwischen den Redegewohnheiten der Leute im Dorf und verglich sie mit denen der Schauspieler. Der Lautklang jener Frauen und Männer gefiel ihm. Ähnlich wie die seiner Lehrerin, dachte Georg, nur noch viel schöner. In der Schule hörte er dennoch bald aufmerksam auf die Stimme der strengen Frau, verlor langsam die Angst vor ihren Fragen und wusste nach und nach manchmal sogar eine passende Antwort darauf.
Was er nicht liebte, waren hässliche Szenen, die es ab und zu vor der Filmvorführung zu sehen gab. Unüberhörbar, besonders gegen Ende der Dreißigerjahre die Zeichen der Zeit. Die raueren Reden der Männer, die Menschenmengen und Furchterregendes jeglicher Art, das Georg bekannt vorkam und das er gern mied.
Es machte ihn glücklich, wenn in der warmen Jahreszeit die Türen des Kinosaals offen standen und sich ihm die Gelegenheit bot, erst gegen Ende einer lärmenden Vorschau, wenn die Kinogäste, vom Flugzeuggedröhn und dem Geschrei eines Einzelnen oder einer Menge überwältigt, unbemerkt in das schützende Dunkel zu tauchen. Dann konnte er nach Ablauf des Lärms wieder völlig gefahrlos auf allen Vieren sich den Wundern der Schönheit und manchmal doch auch der Liebe nähern.
Die geheime Herrlichkeit seines Bubenlebens war leider zu Ende, als Georg zu viele unvorsichtige Nachahmer fand. Den Kindern des Dorfes blieb nichts verborgen. Sie kamen in Scharen und wollten auch dieser Freuden teilhaftig werden. So wurde die Sache bald offenbar und äußerst schwierig für Georg. Als Frau B. davon erfuhr war sein Traum zu Ende, doch da glaubte er ja bereits zu wissen wie die Dinge des Lebens liefen, was davon nachahmenswert war und schön – und was verabscheuenswürdig und unangenehm. Das wollte er meiden.
Was Georg sonst noch aus jener Zeit im Gedächtnis blieb? Neben der Freude an Musik war es die nicht zu leugnende Tatsache, dass es völlig verschiedene Menschen gab, einer mit anderen keineswegs vergleichbar. Das zeigte nicht nur die Art und Weise wie sie sich gaben, wie sie miteinander sprachen, sich kleideten und bewegten. Hören konnte man das bereits an dem Tonfall der Stimmen, in den Gesichtern konnte man unterschiedliche Regungen sehen, so wie sie Georg ja auch manchmal packten und überwältigten. Wie schrecklich und Furcht erregend die einen, wie reizend und nett manch andere Menschen! Und wie sie sich zueinander verhielten, besonders, wenn einer verliebt war! So etwas hätte auch er gern erlebt, dass jemand so nett zu ihm gesprochen hätte. Mit sanfter Stimme, beruhigend, einfach lieb. Hier im Dorf gab es das nicht. Für vieles nicht einmal Wörter.
Doch käme Georg, einmal erwachsen, hinaus in die Welt der Großen – er stellte sich das ganz wunderbar vor – würde er manches, was er hier in den Filmen bewunderte, wiederfinden: die guten, die unguten und die schrecklichen Menschen. Die Freundlichsten, Liebenswürdigsten von allen würde er sich aussuchen. Er selber aber wollte wie sie, mit Schuhen, Hut und sauberem Anzug, gern einer von ihnen sein.
3 MENSCHENMUND
Vom Anfang an war es Neugier die ihn in jener Gegend umgab. Damals, als das Kuckuckskind Georg vor dem Schultor aufgetaucht war, wusste keiner woher, warum und wer ihn dahergebracht. Umso mehr wurde geredet unter vorgehaltener Hand. Einfache Leute waren die B.s, Zieheltern wider Willen, denen angeblich nach schwierigem Hin und Her und trotz vehement vorgebrachter Proteste ein Kostkind aufgehalst worden war, an dessen Entstehung sie jede Beteiligung leugneten. Nach anfänglichem Unmut und einiger Ratlosigkeit sollen die B.s Resignation gezeigt haben, am Ende dann Gleichgültigkeit. Vor allem bezüglich diverser Erziehungsmethoden im Schulhaus.
Es wurde geredet. Wieso denn die Leute so plötzlich ein Kind bekommen hätten, die Bedauernswerten, ein jeder hätte sich doch dagegen gewehrt. Einige wussten es anders und hatten Mitleid mit dem Kleinen. Schließlich kam Frau B. ins Gerede. Hatte die denn nicht ohnehin einst ein Kind mit in die Ehe gebracht? Jetzt waren es also zwei, von denen Herr B. nicht der Vater war? Die Kinder erzählten daheim was sie mit dem Kostkind der B.s in der Klasse erlebten. Was im Schulzimmer vor sich ging war also bald allen klar. Doch niemand im Dorf schien zu wissen wie auf andere Weise der manchmal überbordenden Redelust des kleinen Bankerts beizukommen gewesen wäre. Also stimmten auch sie in der Sache Mundverklebung der Lehrerin zu. Herr B. und Frau B. erklärten, bei ihnen sei Georg vom Anfang an selten zum Sprechen bereit gewesen. Auch jetzt sei er immer noch ziemlich stur und verbockt. Da sei es bisher noch nicht nötig gewesen ihm den Mund zu verkleben.
Ja, zwei vom Schicksal Überrumpelte waren die B.s, die sowohl das Kostkind als auch einander voll Missmut betrachteten, unfroh des kleinen Hausgenossen, den sie nicht nur zu nähren sondern auch noch zu kleiden hatten. Da sei es praktisch, ihm die zu klein gewordenen alten Sachen des größeren Buben zu geben, des Sohns der Frau B. Die Schuhe, die Wäsche, die Jacke auch.
Die einzige Erleichterung ihres Loses war sein Schweigen. Nun auch noch das Gegenteil fürchten zu müssen, das fehlte gerade noch! Außerdem sei ihnen wichtig, dass alles was dieses Kind zu lernen habe ohne Ärgernis und zur Gänze im Schulhaus erledigt werden müsse. Das sei wohl das Selbstverständlichste der Welt, auch wegen ihres anderen, nur um wenige Jahre älteren Buben, der als leiblicher Spross der Frau B. natürlich ein Anrecht auf Beachtung der Hausaufgaben, auf Frage und Antwort hätte; ein zwangshalber in die Familie Gekommener verständlicher Weise