Das andere Brot. Rosemarie Schulak

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Название Das andere Brot
Автор произведения Rosemarie Schulak
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783903229259



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so leicht zähmen. Die Buchstaben warfen auch sehr viel später noch ihre Schlingen hoch und immer höher hinauf. Er selbst fand ja angemessen was er da einsam vollbrachte und dennoch bei den Kindern rundum bestenfalls ein belustigtes Kichern hervorrief.

      Georg war Kostkind der Familie B., nicht mehr und nicht weniger. Warum jedoch – ob für immer, oder vielleicht nur für kurze Zeit – war den Dorfleuten nicht bekannt, und die mehr davon wussten, äußerten sich nicht. Auch nicht, als sie, durch das Gittertor der Familie B. spähend, den Kleinen arbeiten sahen, mit schwerem Gartengerät hantieren oder draußen auf grünenden Feldern mit einem Jutesack über dem Rücken.

      2 HÖREN UND SEHEN

      Angst und Scheu fielen von ihm ab, als er nach jenem ersten Jahr der Bedrängnis leichteren Herzens durch das Schultor ins Freie kam, gewöhnt an manches, das drinnen ihm kaum erträglich gewesen. Draußen fühlte er sich weniger fremd. Blies ihm der Wind auch heftig um die Ohren, blieb im Winter der Schnee auch in den zu großen Schuhen stecken und seinen klammen Zehen ein Extrabad nicht erspart, ertrug Georg doch derlei nach Kindesart beinahe heiter. Nun kannte er seinen täglichen Weg, auch die meisten anderen Wege im Ort, lief dahin und dorthin und landete nur im Haus seiner Kostgeber, wenn es allzu früh dunkel wurde oder Eiseskälte ihn vor sich hertrieb.

      Am liebsten erinnerte er sich an die Ferienzeit. War der Sommer noch nicht zu Ende, lockten die warmen Tage ihn manchmal auch weiter fort. Leicht und frei liefen seine Füße dahin, denn Schuhe gab es nicht, die ihn gestört oder verärgert hätten. Es lebt sich ja leichter auf bloßen Sohlen. Dahintrottend durch die Gassen horchte er auf alle Geräusche, die aus Türen und Fenstern drangen, sah einem Vogelschwarm nach oder spielte mit jungen Kätzchen. Gerüche kamen von überall her und manches lag in der Luft, das er zu deuten noch nicht vermochte. Das weckte die Neugier.

      Georgs eindrucksvollstes Erlebnis, das ihm aus jener Zeit in Erinnerung blieb, erzählte er freimütig und gern auch noch nach vielen Jahren. Eine Sensation, die nicht nur das Kind, sondern auch die erwachsenen Bewohner des abgelegenen Dorfes aus ihrem eintönigen Leben riss.

      Eines Spätnachmittags war der Bub, allein gelassen in unwirtlicher Wohnstatt durch den Garten hinausgelaufen und um Zäune und Felder gestrichen. Zurück auf der Dorfstraße blieb er stehen. Er meinte, von irgendwoher leise Musik zu vernehmen, deutliche, zeitweise durchaus fröhliche Melodien, gefolgt von kaum hörbaren, plötzlich heftig aufrauschenden Tönen, die von schrillen Stimmen jäh unterbrochen, unerwartet wieder verschwanden. Das faszinierte den Kleinen, weil die Musik ja bald ebenso unerwartet wieder da war, so als seien Unterbrechungen nichts Besonderes. Das berührte ihn seltsam und erhöhte die Spannung. Blieb er stehen um genauer zu horchen, konnte es sein, dass plötzlich alles verstummte und erst nach längerer Zeit, wie von ferne langsam sich nähernd, mit erregender Heftigkeit wieder anhob.

      Georg stand da wie verzaubert. Diesen Tönen musste er nachgehen, aber wohin? Er wanderte eine Häuserreihe entlang, lief zurück und in andere Gassen, solang bis er meinte, jetzt sei er auf der richtigen Spur. Die Gebäude standen nicht überall dicht beisammen. Er hatte das Dorf beinah hinter sich, der Himmel war düster geworden. Da erschrak er nicht wenig über den ungewohnten Anblick einer Menschenmenge, die aus einem breiten, weit geöffneten Tor ihm entgegenkam. Georg verbarg sich hinter einer Mauer, wo er im Gebüsch und dessen Schatten beinah verschwand. Das Getrappel kam näher und Georg fühlte sich überwältigt von der Vielzahl der Menschen. War denn das ganze Dorf unterwegs? Die Vorüberziehenden redeten miteinander, manche laut und erregt, andere leise, beinahe flüsternd. Manche gingen allein dahin. Einmal meinte das Kind, aus dem Gemurmel der vielen eine einzelne Stimme herauszuhören. Schön war’s, tönte hell eine Frauenstimme und eine andere fiel ein: Schön, ja, wirklich sehr schön! So zogen sie weiter, eine bemerkenswerte Schar sonntäglich gekleideter Dorfbewohner. Sie beachteten Georg nicht und verschwanden bald, einer nach dem anderen in ihren Häusern. Und stiller und dunkler wurde die anbrechende Nacht, so dass ihm bald unheimlich wurde, er hervor kroch aus seinem Versteck und schnell davonlief.

      Dieser unbegreifliche Vorgang wiederholte sich mit einer Regelmäßigkeit, deren Sinn nicht zu erkennen war und beschäftigte ihn umso mehr, weil eine Frage an die Erwachsenen gewiss Ärger zur Folge gehabt hätte, vielleicht sogar Schlimmeres. Er behielt das Geheimnis daher bei sich, lief zu gewissen Tageszeiten hinaus und horchte auf das herrliche An- und Abschwellen der Musik, die sich in seinen Ohren festsetzen wollte. Er lauschte den geheimnisvollen Stimmen dazwischen und allen anderen Geräuschen, die er sich nicht erklären konnte. Wieder und wieder zog es ihn zu dem ihm nun wohlbekannten Versteck.

      Eines Abends erkannte Georg in der Schar der heimwärts Wandernden seine Kostgeber, Herrn und Frau B. Erschrocken huschte er durch das nächste Gestrüpp und lief so schnell seine nackten Füße ihn trugen voraus, um vor ihnen im Haus zu sein und etwaigen Unmut über seine unerlaubte Abwesenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

      Die beiden B.s kamen gemächlich und gut gelaunt daher, sie redeten über etwas, das sie gesehen hatten. Ein Kino ist das, erklärte Frau B., als Georg gespannt und neugierig zu ihr aufsah. Aber du bist noch zu klein für solche Sachen. Kinder haben dort nichts zu suchen. Als sie das ängstliche Bubengesicht ans Licht zog, verblüfft, wie geschwind er ihr auswich und mit abgewandtem Blick in den Garten entschwand, ahnte sie nicht, was in ihm vorging. Georg redete wenig im Haus des Herrn B. und gefragt wurde er selten.

      Doch ab nun gab es etwas, das er sich innig wünschte, alle nur möglichen Pläne wälzte und gefährliche Wege beschritt, um sein Ziel zu erreichen: das Kino und diese Musik. Seine ganze Aufmerksamkeit nahm es ein, sein ganzes Sinnen und Trachten. Gab es, so wie das manchmal der Fall war, eine Nachmittagsvorstellung, hielt Georg sich möglichst unbemerkt in der Nähe des Eingangs auf und wartete mit harmlos unverdächtiger Miene bis der Kinobetreiber ihm den Rücken kehrte und sich in dem dämmerigen Vorstellungsraum verlor. Dann warf er alle Bedenken von sich und kroch blitzschnell hinein in das Dunkel; lugte auf allen Vieren kriechend durch die Spalten zwischen den Sitzen und bewegte sich lautlos, um ganz sicher zu sein, dass ihn niemand bemerkte, weder der geschäftige Kinomann, noch die Besucher, die allmählich daherspaziert kamen und plaudernd sich auf ihre Plätze begaben. Kaum je fiel da ein Verdacht auf den blinden Passagier.

      Georg, ein Leichtgewicht, wendig und flink, kroch behände zu jenen Stellen, wo kein Auge seiner gewahr werden konnte. Der Kinoraum war nie zur Gänze besetzt, erklärte er später, ja manchmal so spärlich, dass er seitlich neben den Sitzreihen auf Knien oder Hosenboden rutschend in der Finsternis schließlich bequem den Platz wählen konnte, der ihm am besten geeignet schien. Die vorderen Reihen blieben ohnedies immer leer und Georg war klein. Selbst wenn er sich auf einen der hölzernen Sitze begab erblickte ihn niemand. Erst als er größer wurde mit den Jahren, sein eingezogener Hals, die erzwungene Krümmung und auch manches andere ihm unbequem wurde, wechselte er auf den Boden. Die wichtigsten Stunden seiner Kinderzeit habe er dort verbracht, und das über lange Zeit, erinnerte er sich; mit den Filmen, den Bildern, der wundersam sich ihm offenbarenden Welt, der Musik und den redenden, lachenden, manchmal auch weinenden Menschen auf der Leinwand. Aus ihrem Reden, im Ernst wie im Scherz, habe er manches gelernt.

      Was hat denn der kleine Kerl davon, begann wer ihn in dem Dunkel erkannt und dennoch geschwiegen hatte, vermutlich zu fragen. Was kann so ein Kind, das noch gar nichts vom Leben weiß, ja nicht einmal das Nötigste über sich selber; was kann eines, das Handlungsabläufe noch nicht versteht; was könnte dieser versteckte, winzige Kinogast unter all den Erwachsenen denn dort gesucht und gefunden haben?

      Nicht zu wenig, bedenkt man die mannigfachen Impulse, die Georg ohne Kinobesuche niemals gehabt hätte. Er begann von sich aus, ganz ohne Zwang, gleich mehrere Tugenden auf einmal einzuüben; seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu richten statt planlos die Zeit zu vergeuden; rasche Erledigung seiner Schulaufgaben und sonstigen Pflichten um immer pünktlich vor Ort zu sein; und Genauigkeit, denn er durfte sich keineswegs nachlässig bei jenen Tätigkeiten zeigen, die ihm nun einmal zugeteilt waren. Georg lernte, seinen Tag einzuteilen, pünktlich auf die Küchenuhr der Frau B. zu schauen, um rechtzeitig fortzuhuschen. Er lernte penible Ordnung, Zeitgefühl und Genauigkeit in seinem Alltag.

      Dadurch ging ihm die Arbeit, zu der man ihn mit Strenge anhielt, viel flinker