Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh

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Название Hätschelkind
Автор произведения Wimmer Wilkenloh
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839231586



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einer Kriminalbeamtin auch ohne Komplexe ausfüllen können, oder?«

      Silvia Haman starrt Mielke fassungslos an, ringt angestrengt nach einer Antwort, doch ihre sprichwörtliche Schlagfertigkeit scheint wie weggeblasen.

      »Und noch eins, Silvia, und das gilt ein für alle Mal. Selbst wenn ich noch nicht lange dabei bin, sehe ich den IQ-Quantensprung ins kriminaltechnische Zeitalter für Frauen als abgeschlossen an.«

      »Das versteh’ ich nicht.«

      Silvia dreht sich Hilfe suchend zu Swensen. Der zuckt nur stumm mit den Achseln und es entsteht ein drückendes Schweigen. Er ist über Mielkes unvermittelten Ausbruch irritiert. Er hatte ihn in der kurzen Zeit ihrer Zusammenarbeit immer als eher unsicher erlebt. Warum plötzlich dieser vehemente Angriff gegen Silvia? Wie ist Mielkes Beziehung zu Frauen eigentlich, hat er überhaupt eine Beziehung? Im Grunde wissen wir nichts voneinander. Obwohl wir so viel Zeit miteinander verbringen, arbeiten wir meistens nur nebeneinander her.

      Einsamkeit ist der Wassertropfen im Meer. Der Satz seines Meisters Lama Rhinto Rinpoche fällt Swensen ein und sein Blick verliert sich im Leeren. Er sieht sich, wie er vor über 30 Jahren mitten in einem buddhistischen Tempel eines kleinen Schweizer Dörfchens meditiert. In Hamburg hatte er kurz zuvor ein Philosophiestudium begonnen und war gerade im dritten Semester, als einige Kommilitonen ihn mit dem Spruchband ›Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren‹ aus seinem Studentenschlendrian befreiten. Ab da schaffte er nur noch weitere drei Semester und die 68er hatten ihm seine drohende spießige Karriere ausgeredet. Er schmiss sein Studium, wollte unbedingt seinem bürgerlichen Trott entfliehen um sich dann für drei Jahre in einer noch festeren Norm wieder zu finden. Vor Tagesanbruch aufstehen, waschen, zwei Stunden meditieren, Frühstück, wieder meditieren, Mittagessen und so weiter, Tag für Tag, Woche für Woche.

      Bleib achtsam, sagt eine innere Stimme. Intuitiv bemerkt er im Augenwinkel, wie Mielke Luft holt, um zu einer wahrscheinlich neuen Attacke gegen Silvia anzusetzen. Mit ruhiger Stimme kommt Swensen ihm zuvor.

      »Ich würde mich freuen, wenn wir in Zukunft bei der Arbeit alle ein wenig mehr in uns ruhen könnten.«

      Um die Wirkung seiner Worte zu unterstützen setzt er eine gezielte Pause.

      »Momentan haben wir genug andere Dinge zu tun, als die Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu ergründen.«

      Dann dreht er sich zu Silvia.

      »Außerdem können wir uns die abtörnende Klappertour durch die Fotoläden der Provinz ja teilen. Du fährst nach Heide rüber und ich mache Husum.«

      »Und was wolltest du jetzt von Metz?« fragte Stephan Mielke sichtlich entspannter.

      »Mir ist die Idee gekommen, das Foto von der Leiche im Computer so weit bearbeiten zu lassen, dass wir ein brauchbares Fahndungsfoto veröffentlichen können.«

      »Klar, selbst wenn wir die fehlenden Augen nicht 100%ig rekonstruieren, reicht es vielleicht aus, dass jemand die Frau erkennt! Ich schätze, der Metz kriegt das ziemlich schnell hin.«

      Mielke stürmt los, Swensen und Silvia Haman hasten hinterher. In der Flurmitte werden sie von Heinz Püchel gestoppt.

      »Übrigens, das mit dem Hubschrauber wird auch heute nichts! In Flensburg ist der Hund los, aber das habt ihr sicher schon selber im Fernsehen mitbekommen. Es geht um die kleine Beatrix aus Glücksburg, die seit drei Tagen vermisst wird. Im Moment brauchen die da oben alle Dinger, die sie kriegen können.«

      Bei dem Namen Beatrix durchzuckt das Fernsehbild der Eltern Swensens Kopf. Tagesthemen, Sonntagabend 23 Uhr 15. Das Ehepaar steht benommen hinter einem Mikrofonwall.

      »Wenn du uns hörst, Beatrix, Bleib stark! Wir suchen so lange, bis wir dich finden!«

      Nach dem Essen mit Anna hatte Swensen den Fernseher wegen der Nachrichten angeschaltet. Wie aus dem Nichts sprang ihn das geballte Leid an. Bei dem Fall Beatrix waren seine Augen feucht geworden und er ertappte sich dabei froh zu sein nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Zuständigkeitsbereich Flensburg.

      »Na, Hauptsache sie finden die Kleine.«

      Swensen spürt, wie ihm bei den Gedanken an die Zuständigkeit der Flensburger Kollegen das schlechte Gewissen in den Nacken schleicht.

      »Ja, und nun?« fragt Püchel etwas irritiert. »Wir können hier doch nicht einfach abwarten und Tee trinken!«

      »Was sollen wir denn machen? Die Kollegen vom Wasserschutz kommen nicht weit genug ins flache Watt. Außerdem kann man eine im Wasser schwimmende Leiche von einem Boot aus sowieso kaum sehen.«

      Swensens Ausführungen machen Püchel sichtlich nervös. Er zieht hastig seine Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine davon an.

      »Dazu kommt, dass es nicht klar ist, wohin sie durch die Gezeitenströmung und bei dem Unwetter am Wochenende getrieben worden ist. Vielleicht müssen wir einfach solange warten, bis die Frau irgendwo angeschwemmt wird. Aber diesbezüglich kennen sich die Kollegen vom Wasserschutz bestimmt aus. Die ›Sylt‹ liegt im Husumer Hafen. Ich ruf da einfach mal an. Es wird sowieso höchste Zeit, dass wir mal langsam die Küstenpolizei informieren!«

      »Ja, Jan mach das!« Keine 10 Sekunden und Püchel ist schon von einer großen Wolke umgeben. Swensen weicht automatisch zurück, näher an Silvia Haman und Stephan Mielke heran, die sich auch schon auf Distanz begeben haben.

      »Macht das mit dem Foto bitte schon mal allein, ich geh’ erst mal telefonieren und komm dann gleich nach.«

      »Danke, Jan! Ich sehe, die Sache ist bei dir gut aufgehoben.«

      Im selben Moment ist Püchel wieder in seinem Büro verschwunden, nur sein Zigarettenrauch steht noch im Raum und schwebt in feinen Spiralen langsam zur Decke.

      * * *

      Es ist zehn Uhr vorbei. Feierabend. Gerade hat er die Eingangstür seiner Videothek verschlossen, die Kasse geöffnet und begonnen, die Einnahmen zu prüfen. In dem Moment, als er das Kassenbuch aus der Schublade nehmen will, dringt ein leises Stöhnen an sein Ohr.

      Der Laden besteht aus drei ehemaligen Zimmern, die er durch das Aushängen der großen Durchgangstüren zu einer Gesamtfläche vereint hat.

      Das absonderliche Geräusch kommt eindeutig aus dem hintersten Raum. Er merkt, wie die Angst ihn unwillkürlich im Nacken packt und spürt dabei gleichzeitig den zwanghaften Drang nachzusehen. Irgendetwas treibt ihn voran, Schritt für Schritt. Im schummrigen Licht schweben die grellbunten Kassettencover in den Regalen an seinen Augen vorbei, erst die üblichen Hollywoodstars in ihren Heldenposen, dann die unbekannten Mädchen mit den gespreizten Schenkeln. Hier hinten ist das Geräusch mit einem Mal verstummt. Dafür bemerkt er eine Tür in der Wand, die ihm bis heute noch nie aufgefallen war. Mit den Händen fegt er die Pornokassetten vom Regal, die wild durcheinander zu Boden poltern. Ein Griff wird sichtbar. Doch bevor er ihn herunterdrücken kann, springt die Tür auf. Wie besessen reißt er einige Regalbretter aus der Verankerung und zwängt sich mühsam durch die entstandene Lücke. Eine schmale Treppe führt nach oben ins Dunkle. Das Holz knarrt unter seinem Gewicht. Er ertastet ein Loch in der Decke. Vorsichtig hebt er seinen Kopf über die Kante und blickt in einen großen Saal. Ganz am anderen Ende dringt ein schwaches, flackerndes Licht durch die Ritzen eines mächtigen Samtvorhangs.

      Ein Kino, durchzuckt es ihn. Nein, ein Marionettentheater, genau, das kann nur das Marionettentheater aus Storms ›Pole Poppenspäler‹ sein.

      Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er kann die purpurrote Farbe des Stoffes erkennen.

      »Komm herbei, Hajo Peters, komm herbei!«, krächzt eine unwirkliche Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Trotzdem wird er von ihr willenlos angezogen.

      »Ja, Peters, hierher! Hierher du erbärmlicher Feigling!«

      Schrecken und Neugier kämpfen in ihm. Jetzt steht er direkt vor dem Vorhang, genau in der Mitte, wo sich beide Hälften treffen. Seine Hände dringen durch den Spalt und teilen ihn. Vor ihm, auf Augenhöhe, baumelt an feinen Schnüren aufgehängt