Название | Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке |
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Автор произведения | Томас Манн |
Жанр | Зарубежная классика |
Серия | Klassische Literatur (Каро) |
Издательство | Зарубежная классика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 978-5-9925-1477-3 |
„Ja, das ist merkwürdig“, sagte sie. „Übrigens verstehe ich es, wenn ich mir Mühe gebe.“
Hierauf erwiderte er, dass es irgendwelcher Mühe nicht lohne, und dann lachten sie miteinander. Auch die Rätin Spatz lachte und fand es merkwürdig; aber sie sagte nicht, dass sie es verstünde.
Das Konversationszimmer war geräumig und schön. Die hohe, weiße Flügeltür zu dem anstoßenden Billardraume stand weit geöffnet, wo die Herren mit den unbeherrschten Beinen und andere sich vergnügten. Andererseits gewährte eine Glastür den Anblick auf die breite Terrasse und den Garten. Seitwärts davon stand ein Piano[30]. Ein grün ausgeschlagener Spieltisch war vorhanden, an dem der diabetische General mit ein paar anderen Herren Whist[31] spielte. Damen lasen und waren mit Handarbeiten beschäftigt. Ein eiserner Ofen besorgte die Heizung, aber vor dem stilvollen Kamin, in dem nachgeahmte, mit glühroten Papierstreifen beklebte Kohlen lagen, waren behagliche Plauderplätze.
„Sie sind ein Frühaufsteher, Herr Spinell“, sagte Herrn Klöterjahns Gattin. „Zufällig habe ich Sie nun schon zwei-oder dreimal um halb acht Uhr am Morgen das Haus verlassen sehen.“
„Ein Frühaufsteher? Ach, sehr mit Unterschied, gnädige Frau. Die Sache ist die, dass ich früh aufstehe, weil ich eigentlich ein Langschläfer bin.“
„Das müssen Sie nun erklären, Herr Spinell!“ – Auch die Rätin Spatz wollte es erklärt haben.
„Nun… ist man ein Frühaufsteher, so hat man es, dünkt mich[32], nicht nötig, gar so früh aufzustehen. Das Gewissen, gnädige Frau. es ist eine schlimme Sache mit dem Gewissen! Ich und meinesgleichen, wir schlagen uns Zeit unseres Lebens[33] damit herum und haben alle Hände voll zu tun, es hier und da zu betrügen und ihm kleine, schlaue Genugtuungen zuteil werden zu lassen. Wir sind unnütze Geschöpfe, ich und meinesgleichen, und abgesehen von wenigen guten Stunden schleppen wir uns an dem Bewusstsein unserer Unnützlichkeit wund und krank. Wir hassen das Nützliche, wir wissen, dass es gemein und unschön ist, und wir verteidigen diese Wahrheit, wie man nur Wahrheiten verteidigt, die man unbedingt nötig hat. Und dennoch sind wir so ganz vom bösen Gewissen zernagt, dass kein heller Fleck mehr an uns ist. Hinzu kommt, dass die ganze Art unserer inneren Existenz, unsere Weltanschauung, unsere Arbeitsweise… von schrecklich ungesunder, unterminierender, aufreibender Wirkung ist, und auch dies verschlimmert die Sache. Da gibt es nun kleine Linderungsmittel, ohne die man es einfach nicht aushielte. Eine gewisse Artigkeit und hygienische Strenge der Lebensführung zum Beispiel ist manchen von uns Bedürfnis. Früh aufstehen, grausam früh, ein kaltes Bad und ein Spaziergang hinaus in den Schnee. Das macht, dass wir vielleicht eine Stunde lang ein wenig zufrieden mit uns sind. Gäbe ich mich, wie ich bin, so würde ich bis in den Nachmittag hinein im Bette liegen, glauben Sie mir. Wenn ich früh aufstehe, so ist das eigentlich Heuchelei.“
„Nein, weshalb, Herr Spinell! Ich nenne das Selbstüberwindung. Nicht wahr, Frau Rätin?“ – Auch die Rätin Spatz nannte es Selbstüberwindung.
„Heuchelei oder Selbstüberwindung, gnädige Frau! Welches Wort man nun vorzieht. Ich bin so gramvoll ehrlich veranlagt, dass ich.“
„Das ist es. Sicher grämen Sie sich zuviel.“
„Ja, gnädige Frau, ich gräme mich viel.“
Das gute Wetter hielt an. Weiß, hart und sauber, in Windstille und lichtem Frost, in blendender Helle und bläulichem Schatten lag die Gegend, lagen Berge, Haus und Garten, und ein zartblauer Himmel, in dem Myriaden von flimmernden Leuchtkörperchen, von glitzernden Kristallen zu tanzen schienen, wölbte sich makellos über dem Ganzen. Der Gattin Herrn Klöterjahns ging es leidlich in dieser Zeit; sie war fieberfrei, hustete fast gar nicht und aß ohne allzuviel Widerwillen. Oftmals saß sie, wie das ihre Vorschrift war, stundenlang im sonnigen Frost auf der Terrasse. Sie saß im Schnee, ganz in Decken und Pelzwerk verpackt, und atmete hoffnungsvoll die reine, eisige Luft, um ihrer Luftröhre zu dienen. Dann bemerkte sie zuweilen Herrn Spinell, wie er, ebenfalls warm gekleidet und in Pelzschuhen, die seinen Füßen einen phantastischen Umfang verliehen, sich im Garten erging. Er ging mit tastenden Schritten und einer gewissen behutsamen und steifgraziösen Armhaltung durch den Schnee, grüßte sie ehrerbietig, wenn er zur Terrasse kam, und stieg die unteren Stufen hinan, um ein kleines Gespräch zu beginnen.
„Heute, auf meinem Morgenspaziergang, habe ich eine schöne Frau gesehen… Gott, sie war schön!“ sagte er, legte den Kopf auf die Seite und spreizte die Hände.
„Wirklich, Herr Spinell? Beschreiben Sie sie mir doch!“
„Nein, das kann ich nicht. Oder ich würde Ihnen doch ein unrichtiges Bild von ihr geben. Ich habe die Dame im Vorübergehen nur mit einem halben Blicke gestreift, ich habe sie in Wirklichkeit nicht gesehen. Aber der verwischte Schatten von ihr, den ich empfing, hat genügt, meine Phantasie anzuregen und mich ein Bild mit fortnehmen zu lassen, das schön ist. Gott, es ist schön!“
Sie lachte. „Ist das Ihre Art, sich schöne Frauen zu betrachten, Herr Spinell?“
„Ja, gnädige Frau; und es ist eine bessere Art, als wenn ich ihnen plump und wirklichkeitsgierig ins Gesicht starre und den Eindruck einer fehlerhaften Tatsächlichkeit davontrüge…“
„Wirklichkeitsgierig… Das ist ein sonderbares Wort! Ein richtiges Schriftstellerwort, Herr Spinell! Aber es macht Eindruck auf mich, will ich Ihnen sagen. Es liegt so manches darin, wovon ich ein wenig verstehe, etwas Unabhängiges und Freies, das sogar der Wirklichkeit die Achtung kündigt, obgleich sie doch das Respektabelste ist, was es gibt, ja das Respektable selbst. Und dann begreife ich, dass es etwas gibt außer dem Handgreiflichen, etwas Zarteres.“
„Ich weiß nur ein Gesicht“, sagte er plötzlich mit einer seltsam freudigen Bewegung in der Stimme, erhob seine geballten Hände zu den Schultern und ließ in einem exaltierten Lächeln seine kariösen Zähne sehen. “Ich weiß nur ein Gesicht, dessen veredelte Wirklichkeit durch meine Einbildung korrigieren zu wollen sündhaft wäre, das ich betrachten, auf dem ich verweilen möchte, nicht Minuten, nicht Stunden, sondern mein ganzes Leben lang, mich ganz darin verlieren und alles Irdische darüber vergessen.“
„Ja, ja, Herr Spinell. Nur dass Fräulein von Osterloh doch ziemlich abstehende Ohren hat.“
Er schwieg und verbeugte sich tief. Als er wieder aufrecht stand, ruhten seine Augen mit einem Ausdruck von Verlegenheit und Schmerz auf dem kleinen, seltsamen Äderchen, das sich blaßblau und kränklich in der Klarheit ihrer wie durchsichtigen Stirn verzweigte.
Ein Kauz, ein ganz wunderlicher Kauz! Herrn Klöterjahns Gattin dachte zuweilen nach über ihn, denn sie hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. Sei es, dass der Luftwechsel anfing, die Wirkung zu versagen, oder dass irgendein positiv schädlicher Einfluss sie berührt hatte: ihr Befinden war schlechter geworden, der Zustand ihrer Luftröhre schien zu wünschen übrigzulassen, sie fühlte sich schwach, müde, appetitlos, fieberte nicht selten; und Doktor Leander hatte ihr aufs entschiedenste Ruhe, Stillverhalten und Vorsicht empfohlen. So saß sie, wenn sie nicht liegen musste, in Gesellschaft der Rätin Spatz, verhielt sich still und hing, eine Handarbeit im Schoße, an der sie nicht arbeitete, diesem oder jenem Gedanken nach.
Ja, er machte ihr Gedanken, dieser absonderliche Herr Spinell, und, was das Merkwürdige war, nicht sowohl über seine als über ihre eigene Person; auf irgendeine Weise rief er in ihr eine seltsame Neugier, ein nie gekanntes Interesse für ihr eigenes Sein hervor. Eines Tages hatte er beim Gespräch geäußert:
„Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen… sowenig neu ist es, sowenig kann man ablassen, davor zu stehen und zu staunen. Da ist ein wunderbares Geschöpf, eine Sylphe[34], ein Duftgebild, ein Märchentraum von einem Wesen. Was tut sie? Sie geht hin und ergibt sich einem Jahrmarktsherkules
30
Piano
31
Whist
32
es dünkt mich = es scheint mir – мне кажется
33
Zeit unseres Lebens – в течение всей нашей жизни
34
Sylphe