Mords-Töwerland. Angela Eßer

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Название Mords-Töwerland
Автор произведения Angela Eßer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268384



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nicht. Eigentlich müsste ich wohl die Polizei verständigen. Gibt’s auf Juist überhaupt eine Polizeistation? Mein Gott, ich bin total durcheinander. Doch, halt – als wir das letzte Mal auf Juist waren, hat Herbert seine Geldbörse verloren. Da waren wir gemeinsam auf dem Revier. Das war gar nicht weit von hier. Aber ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt im Dunkeln den Weg zu finden. Und wahrscheinlich ist da auch keiner mehr wach. Auf Juist schläft doch alles. Hätte ich mich bloß nicht verleiten lassen, die alte Frau Sönksen zu besuchen. Aber die ist ja immer so allein, die freut sich über Gesellschaft. In ihrer Keksdose hat sie immer dieses herrliche Schwarz-Weiß-Gebäck, das ich so gerne mag. Und Herbert konnte ja wirklich mal zwei, drei Stunden ohne mich zurechtkommen, oder?

      Doch da sieht man’s mal wieder: Wenn ich nicht auf ihn aufpasse, passiert etwas. Ausgerutscht und unglücklich gestürzt? Dachte ich auch zuerst, aber nun hatte ich Zeit, mir das gründlich zu überlegen. Nein, nein, das glaube ich einfach nicht. Nicht nach dem Ärger heute Nachmittag. Das kann kein Zufall sein …

      Ich liebe Kurkonzerte. Noch mehr als Herbert. Eigentlich geht er nur mir zuliebe hin, das weiß ich. Und das habe ich ihm immer hoch angerechnet. Mir gefällt die Musik, die auf Kurkonzerten zu Gehör gebracht wird. Nicht diese schnellen Rhythmen mit den lauten Bässen, sondern zarte Weisen mit vielen Geigen. Am besten sind die Walzermelodien. Herrlich! Ich singe dann auch sehr gerne mit. Ganz leise nur, ziemlich zurückhaltend. Und es macht mich traurig, wenn Herbert sagt, mein Gejaule sei kaum zu ertragen. Das tut mir weh, obwohl er dabei lächelt. Aber wenn dann diese Schunkelmelodien erklingen, kann ich einfach nicht anders. Nein, ich schunkele nicht, das mag ich nicht, aber ich singe gern mit. Der Dirigent hatte sogar ausdrücklich dazu aufgefordert. Also habe ich nicht nur leise, sondern auch ein bisschen lauter gesungen. Aber was passiert? Herbert und ich werden angemacht. Auf ganz hässliche und gemeine Weise. Das wäre ja nicht anzuhören. Ich träfe keinen Ton. Und dieses schreckliche Gejaule … Ja, die Leute haben meinen Gesang tatsächlich auch so genannt. So wie Herbert! So was von herzlos!

      Aber auf meinen Herbert kann ich mich verlassen, er ist immer loyal. Obwohl ich weiß, dass er meinen Gesang nicht schätzt, stand er felsenfest an meiner Seite. »Ich liebe es, wenn Walli singt«, hat er gesagt und eine alte Frau mit lila gefärbten Haaren bitterböse angesehen. »Glauben Sie wirklich, dass Ihr schriller Altfrauensopran schöner klingt?«

      Jetzt hatte Herbert aber was gesagt. Ein Riesentumult brach aus. Die alte Frau mit den lila gefärbten Haaren verteidigte ihren Sopran mit aller Kraft. Und davon hatte sie noch eine Menge auf Lager, das muss man sagen. Meine Güte, ist die auf uns losgegangen!

      »Unverschämtheit! Dreistigkeit! Diese Jugend von heute!« Was sie noch alles gesagt hat oder besser gekreischt hat, das weiß ich gar nicht mehr so genau. Auf jeden Fall musste das Kurkonzert abgebrochen werden.

      Das Lager der Besucher spaltete sich daraufhin. Einige schlugen sich auf die Seite dieser schrecklichen Frau, nicht wenige aber waren der Meinung, dass ich nicht schlechter singe als sie. Der Dirigent wollte nicht in den Streit hineingezogen werden und verschwand mit seinem Ensemble derart eilig, dass der Cellist über sein Instrument stolperte und in die Kesselpauke fiel. Eine an sich bestürzende Tatsache, die aber große Heiterkeit erzeugte und von den Streitigkeiten vorübergehend ablenkte.

      Herbert war danach sogar richtig gut drauf. Ich glaube, er hatte das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. Jedenfalls holte er sich von dem Stand, der hinter dem Konzertpavillon aufgebaut worden war, ein weiteres Bier und sah mit dem Glas in der Hand zu, wie die Konzertbesucher in alle Richtungen davonströmten.

      Und nun liegt mein Herbert im Schiffchenteich und rührt sich nicht mehr. Dass ich in der Stunde seines Todes nicht bei ihm war, macht mir schwer zu schaffen. Ach, Herbert …

      Was jetzt? Warten, bis die Sonne aufgeht? Irgendwann wird hier jemand auftauchen, der die nötigen Schritte einleitet, klar. Will ich dann überhaupt noch hier sein? Natürlich müsste ich die alte Frau beschuldigen, die von ihren Freundinnen Thea genannt wurde. Sie hat meinen Herbert auf dem Gewissen, keine Frage. Wahrscheinlich hat sie auch schon ihren Ehemann abgemurkst, als er es wagte, ihr zu widersprechen. Wer ihr Kurkonzert stört und noch dazu ihren Sopran kritisiert, den schickt sie ins Jenseits. So eine ist das! Anders kann das gar nicht gewesen sein.

      Vermutlich hat sie uns lange aufgelauert, bis es zu dunkeln begann, bis niemand mehr auf der Straße zu sehen war. Das geht schnell auf Juist. Vor allem in der Nebensaison, wenn auf der Insel fast nur alte Leute Urlaub machen. Herbert und ich gehen dann gerne spazieren, wenn die Dunkelheit vom Meer herüberkommt und sich über die Insel stülpt, wenn es still wird, wenn auch das Hufgeklapper nicht mehr zu hören ist, wenn die Urlauber in ihren Hotels und Pensionen oder in den Ferienwohnungen sitzen und zu Abend essen. Leider konnte Herbert sich heute nicht entschließen, wo wir essen wollten. Mir ist ja am liebsten, wenn wir zu Moni gehen, bei ihr schmeckt es mir immer. Aber Herbert hat mir erklärt, dass ein Bratkartoffelverhältnis nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, dass dort täglich Bratkartoffeln serviert werden. Überhaupt geht Herbert lieber in den »Friesenhof« oder ins »Hafenrestaurant« als zu Moni. Jedenfalls, wenn er Hunger hat. Dass er aber auch immer so lange braucht, um sich zu entscheiden! Hätte er einen schnellen Entschluss gefasst, dann wäre diese schreckliche Sache vermutlich gar nicht passiert. Aber Herbert hatte zunächst keinen rechten Appetit und überlegte dann so lange hin und her, bis es in keinem Restaurant mehr einen freien Tisch gab. Und dann war ich es leid. Ich hatte keine Lust, bis zum Schlafengehen mit Herbert zu überlegen, wo wir essen gehen wollen. Ich habe mich dann einfach verdrückt. Umgedreht und abgehauen! Zu Frau Sönksen. Von dem Schrei, den Herbert mir nachschickte, habe ich mich nicht zurückholen lassen. Manchmal muss man einem Mann eben zeigen, dass man sich nicht alles bieten lässt.

      Ich gehe zum Hafen, aber da ist nichts zu sehen und zu hören, schaue im Strandhotel nach, wo es nie ganz dunkel ist. Doch ich brauche mir nur den Nachtportier anzusehen, der vor seinem Monitor döst … Nein, von dem habe ich keine Hilfe zu erwarten. Kann ich auch verstehen. Was hat der mit meinem toten Herbert zu tun?

      Also doch das Polizeirevier! Aber Pustekuchen! Da ist es genauso dunkel wie überall, nur das Schild, auf dem »Polizei« steht, ist beleuchtet. Die Tür ist zu, hinter den Fenstern brennt kein Licht. Verdammt, ich will in mein Bett. Wenn ich Herbert nicht mehr helfen kann, gibt es keinen Grund, am Schiffchenteich sitzen zu bleiben. Am besten, ich gehe zu Moni. Dass sie mir Herbert abspenstig machen wollte, muss ich dann allerdings vergessen. Kann ich das? Eifersucht ist ein Gefühl, das sehr wehtut. Und immer, wenn Moni meinen Herbert angesehen hat, habe ich unter diesem Schmerz gelitten. Tief in mir drin. Ausgehalten habe ich das nur, weil ich Moni trotz allem mag. Und weil sie immer nett zu mir ist.

      Der Weg zu ihr ist nicht weit. Ein paar Hundert Meter Richtung Loog, dann das kleine Haus auf der rechten Seite. Klar, da ist auch alles dunkel. Aber der Strandkorb steht noch im Vorgarten, und darin liegt eine Decke. Dort werde ich es den Rest der Nacht aushalten.

      Dass ich so tief und fest geschlafen habe, kann nur daran liegen, dass ich von den Geschehnissen des vergangenen Tages fix und fertig war. Der eine kommt nach solch schrecklichen Ereignissen nicht in Schlaf, bei mir ist es anders, ich falle glatt ins Koma. Also … gewissermaßen. Ich komme erst zu mir, als die Gartenpforte knirscht und Schritte zu hören sind. Himmel, ich weiß zunächst gar nicht, wo ich bin. Als ich endlich klar denken kann, haben die beiden Polizeibeamten schon den Vorgarten durchquert und an Monis Tür geschellt. Mich haben sie im Strandkorb gar nicht gesehen. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt erst mal abwarte. Besonders freundlich gucken die beiden nicht. Denen traue ich zu, dass sie denjenigen, der Herbert am nächsten gestanden hat, am ehesten verdächtigen. Und das wäre natürlich ich.

      Moni ist noch ziemlich verschlafen, als sie die Tür öffnet. Und als sie hört, dass Herbert tot im Schiffchenteich gefunden worden ist, fängt sie gleich an zu schreien und zu weinen.

      »Das kann doch nicht wahr sein!«

      Das stöhnt sie immer wieder, und ich will schon aufstehen und ihr zur Seite springen. Aber da sagt sie mit einem Mal: »Wo ist überhaupt Walli?«

      Die Polizisten gucken sich fragend an und bitten darum, eingelassen zu werden. Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss, und ich sitze im Strandkorb wie gelähmt. Wieso hat Moni gleich nach mir gefragt? Will sie mich etwa