Die Pest. Kent Heckenlively

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Название Die Pest
Автор произведения Kent Heckenlively
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783962571924



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man annahm, sie würde die Menschen selbstmordgefährdet machen. Das Licht in der Selbstmord-Wachzelle war die ganze Nacht an, damit die Wachleute die Gefangenen ständig auf Anzeichen eines abnormen Verhaltens hin überwachen konnten.

      Mikovits’ Zellengenossin war eine Frau, Marie (ein Pseudonym), die sich wegen einer Methamphetaminabhängigkeit in Behandlung befand. Da Marie mehrere starke Medikamente nahm, um ihre Sucht zu bekämpfen, und daher Gefahr lief, aus dem Bett zu fallen, musste Mikovits die oberste Koje nehmen.

      Die Zelle hatte dicke Betonwände. Sie war etwa 1,2 m breit, hatte eine untere und obere Koje aus Stahl, eine Toilette und ein an der Wand befestigtes Waschbecken sowie ganz oben ein kleines Fenster. Anstelle von Gitterstäben gab es am Eingang eine dicke Stahltür mit einem kleinen rechteckigen Fenster. Wenn die Stahltür zugemacht wurde und sie eingeschlossen war, fühlte sich Mikovits wie in einem Grab. Das Öffnen und Schließen der schweren Türen die ganze Nacht über ließ Mikovits jedes Mal erschauern. Sie hätte sich nie vorstellen können, jemals in einem solchen Ort zu landen. Anstatt einer Matratze erhielten sie so etwas wie eine Trainingsmatte und kein Kissen, da sie sich in der Selbstmord-Überwachungszelle befanden. Marie erklärte Mikovits, wie sie ihren Fuß auf eine Seite des kleinen Waschbeckens setzen konnte, um in die obere Koje zu klettern. Als Mikovits in die obere Koje gelangte, wurde sie von der fluoreszierenden, länglichen Lampe begrüßt, die nie ausging.

      Mikovits dachte über einen bestimmten Tag im WPI nach. Es war, kurz nachdem sie im Mai 2011 von der Invest in ME-Konferenz in England zurückgekehrt war, als Harvey in ihr Büro gestürmt kam. Er schrie sie an, weil er dachte, sie habe Annettes Bemühungen kritisiert, mit einer anderen ME/CFS-Selbsthilfeorganisation in Kontakt zu treten. Mikovits hatte nichts dergleichen getan, aber Harvey forderte: „Du wirst dich bei Annette entschuldigen!“

      „Okay! Okay!“, antwortete Mikovits, in der Hoffnung, die Situation zu entschärfen.

      Harveys dröhnende Stimme war zweifellos von anderen Mitarbeitern mitgehört worden, aber als sie beide Mikovits’ Büro verließen, legte er ein breites Lächeln auf und legte seinen Arm um ihre Schulter. Aber seine Hand umfasste nicht ihre ganze Schulter, sondern ergriff ihren Nacken, wo sie von ihren schulterlangen blonden Haaren verdeckt wurde. Als er an Mitarbeitern der UNR vorbeiging, ganz der Lächelnde und Freundliche, spürte Mikovits, wie er mit seiner Hand ihren Nacken so fest drückte, dass sie dachte, sein fester Griff würde Prellungen hinterlassen. Für Mikovits war die Botschaft unverkennbar: Sie hatte das Gefühl, er teile ihr damit mit, er könne sie jederzeit fertigmachen, und all diese Menschen, die er förderte, würden keine Stimme des Protestes erheben.

      Die gleiche Masche mit dem Quetschen ihres Halses setzte Harvey im August 2011 ein, als sie ein Restaurant mit einem Vertreter eines Pharmaunternehmens verließen, den Mikovits den Whittemores vorgestellt hatte. Harvey hoffte, dass das Unternehmen zusammen mit dem WPI eine klinische Studie für eine neue medikamentöse Therapie in die Wege leiten und dafür einen bedeutenden Betrag bereitstellen würde. Mikovits war während des Abends ungewöhnlich still, und am Ende des Essens hatte das Unternehmen beschlossen, nicht zusammenzuarbeiten.

      Seit dieser Zeit war Mikovits von einem wiederkehrenden Albtraum geplagt worden. In diesem Traum fuhr sie mit Freunden im Auto, sie hatten viel Spaß miteinander und lachten und redeten, als Harvey Whittemore sich plötzlich auf dem Rücksitz aufrichtete, mit seinem langen Arm ihren Hals ergriff und anfing, sie zu erwürgen. Die Metapher war eindeutig, er konnte ihr alles antun, und sie konnte nicht einmal schreien.

      In dieser ersten Nacht im Gefängnis machte sich Mikovits keine Sorgen um ihre eigene Sicherheit. Sie glaubte, dass Harveys Plan gewesen war, sie zurück nach Reno zu bringen, und sie wusste, dass die Notizbücher mit den Beweisen von Max in Sicherheit gebracht worden waren.

      Wer wusste denn, was man mit ihr in Nevada vorhatte?

      Doch egal, wie lange seine Arme reichten, Mikovits bezweifelte, dass Harveys Einfluss von Reno, Nevada, bis zu ihrer Gefängniszelle in Ventura, Kalifornien, reichen konnte. Es war paradox, aber sie fühlte sich in einer Zelle mit einer sich erholenden Methamphetamin-Süchtigen sicherer, als sie sich seit Monaten gefühlt hatte.

      * * *

      Mikovits ließ ihre Gedanken zu Dr. John Coffin schweifen, den viele als den großen alten Mann der Virologie betrachteten. Sie dachte an sein Zitat in Science, in dem er sie mit Jeanne d’Arc verglichen hatte.

      Auf den höchsten Ebenen von Wissenschaft und Forschung findet man Kämpfe um Macht und Territorien. Wenn ein junger Forscher etwas Neues auf dem Gebiet eines anderen entdeckt, wird oft der selbsternannte Leiter dieses Wissensgebietes einen zweiten Artikel und den ersten Rezensionsartikel darüber schreiben und den jungen Forscher regelrecht hinausdrängen. Coffin hatte in der Tat zu ihrem ursprünglichen Artikel in der Zeitschrift Science einen unterstützenden Leitartikel mit dem Titel „A New Virus for Old Diseases“ geschrieben.39 Und jetzt war er auf der anderen Seite.

      Wer, so fragte sich Mikovits, würde einen Forscherkollegen mit Jeanne d’Arc vergleichen, einer heiligen Kriegerin aus dem 14. Jahrhundert, die zu Unrecht der Ketzerei bezichtigt wurde, und dann prophezeien „Die Wissenschaftler werden sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen“? Das war eine groteske Behauptung. Warum sollte ein Wissenschaftler auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden für die Veröffentlichung von Daten, die sich als falsch erweisen könnten? In den 1970er-Jahren wurden viele Artikel veröffentlicht, in denen fälschlicherweise behauptet wurde, dass humane krankheitserregende Retroviren entdeckt wurden. Keiner dieser Menschen wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einige von ihnen wurden sogar in die National Academy gewählt. Hatte Coffin die wissenschaftliche Gemeinde mit den Akteuren der Inquisition verglichen? Was könnte sie über einen solchen Vergleich denken? Wenn sich ihre Forschung als falsch herausstellen würde, dann lasse man doch jemand anderes die gleichen Experimente durchführen und sie widerlegen. So läuft das in der Wissenschaft. Man kann bei einer Sache recht haben und bei der nächsten unrecht. Sie wäre in der Lage, das zu akzeptieren. Coffin hatte sich geirrt, was das Vorkommen von humanen Retroviren betraf. War er deshalb im Gefängnis gelandet? In Ungnade gefallen? Nein. Hinter dieser Geschichte steckte so viel mehr.

      Aber so sehr sie auch glaubte, dass Coffin in vielen Fällen unangemessen gehandelt hatte, hatte sie doch den Eindruck, dass sehr viele ihrer Probleme von ihren ehemaligen Verbündeten, den Whittemores, herrührten. Sie glaubte, dass die Rezession den Immobilienbeständen der Whittemores schwer geschadet habe, fragte sich aber auch, ob andere mit weit mehr Macht sie zwingen könnten, gegen ihre natürlichen Neigungen zu handeln.

      Aber warum sollte jemand nicht daran interessiert sein, den Millionen von Patienten mit ME/CFS und Kindern mit Autismus zu helfen?

      * * *

      Trotz allem, was geschehen war – als Mikovits in ihrer Koje lag, versuchte sie, für die Whittemores zu beten. Mikovits hatte sie wirklich gemocht. Viele ihrer Freunde glaubten, dass ihr Untergang auf ihre unangebrachte Loyalität gegenüber den Whittemores zurückzuführen war, vielleicht auf eine emotionale Naivität, eine Unfähigkeit zu erkennen, wann Leute sie manipulierten. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass seit dem Ausbruch von ME/CFS am Lake Tahoe 1984 bis 1985 keine andere Person oder Gruppe mehr getan hatte, um die Aufmerksamkeit auf diese schreckliche Krankheit zu lenken, als das WPI.

      Der Dichter Henry Wadsworth Longfellow schrieb einmal: „Wenn wir die geheime Geschichte unserer Feinde lesen könnten, würden wir im Leben eines jeden Menschen genug Trauer und Leid finden, um jede Feindseligkeit zu entschärfen.“ In dieser Art und Weise dachte Mikovits an die Whittemores, als sie in ihrer Gefängniszelle saß.

      Mikovits glaubte, Annette sei mit dem WPI vollkommen überfordert, aber sie war eine Mutter, die um das Leben ihres Kindes kämpfte. Sie hatte das Gefühl, dass sich so viele Dinge gegen die Whittemores verschworen hatten, vor allem aber die Wirtschaft, und dass sie nicht ganz verstanden hatten, wie sehr die Regierung vermeiden wollte, einen ehrlichen Blick auf ME/CFS oder Autismus und die Rolle zu werfen, die Impfstoffe spielen könnten. Mikovits versuchte, diese Gedanken hinter sich zu lassen und sich auf etwas Höheres zu konzentrieren. Sie versuchte sich die Worte bestimmter biblischer Verse ins Gedächtnis zu rufen, die sie im Laufe der Jahre in der Kirche gehört hatte, konnte sich aber an