Название | Politische Philosophie des Gemeinsinns |
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Автор произведения | Oskar Negt |
Жанр | Афоризмы и цитаты |
Серия | |
Издательство | Афоризмы и цитаты |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783958298217 |
Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt
Vorlesung vom 21. November 1974
Die Veranstaltung begann mit einer viertelstündigen studentischen Diskussion über die Arbeitsbedingungen studentischer Tutoren und einen Streik von Studierenden der Germanistik. Hierauf beziehen sich auch die einleitenden Ausführungen von Negt, die sein eigenes Verständnis von dem, was seine Vorlesungen sein sollen, besonders deutlich machen.
Es ist ganz klar, dass in diese Universität gesellschaftliche Konflikte hineinspielen, deren Höhepunkt noch nicht erreicht ist, sondern die sich ungeheuer verschärfen werden. Daneben einen ruhigen Lehrbetrieb aufbauen zu wollen, halte ich für illusionär und ausgeschlossen und auch für fatal für die ablaufenden Bildungsprozesse. Ich glaube nicht, dass man neben diesem explosiven Potenzial, das an der Universität existiert und immer noch verstärkt wird, einfach einen normalen Betrieb aufrechterhalten kann.
Zudem führt der Numerus clausus zu zunehmender Konkurrenz zwischen den Betreffenden, schon bevor sie an die Universität kommen. Das heißt, hier sind auch charakterlich Momente im Spiel, mit denen wir eines Tages rechnen müssen. Die Leute werden wirklich nicht mehr kollektiv arbeiten wollen, sondern ihre Sozialisationsprozesse aus der Schule und ihre entsprechenden Verkümmerungen fortsetzen. Das Potenzial wird sich also verändern, nicht zuletzt durch den absurden Widerspruch eines erleichterten Zugangs zur Universität durch die Immaturenprüfung hier in Niedersachsen einerseits und der ständigen Einschränkung dieser Zugangsmöglichkeiten durch den Numerus clausus andererseits. Ich weiß gar nicht, wo da etwas wie Rationalität, technische Rationalität drinsteckt. Entsprechend werden sich die Explosionen vergrößern.
Dennoch wäre es falsch und ganz fatal, wenn wir nicht versuchen wollten, aus diesem Zusammenhang heraus doch noch Bildungsprozesse zu organisieren, die allerdings auch darauf beruhen, streckenweise tatsächlich Reflexionsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Theoriebildung, für die Entfaltung eines Theoriebewusstseins zu schaffen. Von Standards will ich gar nicht reden, was eine mir widerliche Verkümmerung des Theorieanspruchs wäre. Es werden hier nicht Standards produziert, sondern ich versuche nichts weiter, als die Tatsache zu verdeutlichen, dass man für Einzelinterpretationen in der Germanistik wie für Forschung in der empirischen Sozialforschung, um Phänomene zu verstehen, Theorie braucht. Das ist unabdingbar. Man kann darauf nicht verzichten und sagen, wir gehen unmittelbar auf die Phänomene zu, denn ohne Theorie gehen wir den Phänomenen auf den Leim. Das können wir natürlich machen, eine Form von Unmittelbarkeit institutionalisieren, das aber führt auch zur völligen Destruktion aller Möglichkeiten von Bildungsprozessen. Was ich hier mache, ist nichts weiter, als eine als sträflich vernachlässigt betrachtete Tradition der Theorie aufzuarbeiten, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass das in anderen Disziplinen genauso relevant ist, denn der Theorieüberhang ist nicht so groß, dass man auf ihn verzichten könnte. Vielmehr ist der Theoriemangel derart eklatant, dass beispielsweise Leute in der Germanistik nicht mehr wissen, wie sie ein Gedicht interpretieren sollen, weil sie keine ästhetische Theorie im Kopf haben – und dabei wäre es immer noch besser, eine falsche zu haben als gar keine. An der falschen kann man immerhin das Einzelne nachprüfen.
Die Theorielosigkeit aber ist ein ungeheurer Mangel – auch in der Linken, das ist überhaupt nicht zu bestreiten –, und dieser Theoriemangel ist eine ungeheure Schwierigkeit für alle langfristigen studentischen Bildungsprozesse. Theoriearbeit hat aber eine bestimmte Zeitstruktur: Man kann nicht über Kant diskutieren, wenn man nicht wenigstens vier Wochen etwas über ihn gehört hat. Es ist völlig ausgeschlossen, das muss Unsinn werden. Es lässt sich nicht aus dem hohlen Bauch heraus über den Kategorischen Imperativ diskutieren, den ich hiermit im Übrigen zum ersten Mal erwähne, wie mir auffällt. Man kann darüber nicht diskutieren, wenn man nicht weiß, was es ist, und wenn man weiß, was es ist, weiß man noch lange nicht, was es bedeutet. Erst wenn man mit Begriffen umgehen kann, kann man eines Tages auch wirklich ihren Zusammenhang diskutieren. Das ist genauso mit Dialektik. Die Dialektik aber ist derart auf den Hund gekommen in der Universität, das ist unbeschreiblich.
Das ist die gleiche Situation wie 1850, als Hegel an deutschen Universitäten wirklich tot war und nur die verschiedensten Irrationalismen vom späten Friedrich Schelling (1775–1854) und von Arthur Schopenhauer (1788–1860) sich breitmachten und über Hegel herfielen. Auch heute sind Hegel und die Dialektik nicht mehr da. Das heißt natürlich auch, dass ein zentrales Stück des Marxismus fehlt, woran die eifrige Lektüre des »Kapitals« nichts zu ändern vermag. Es nützt nämlich überhaupt nichts, wenn man sich vom ersten Satz des »Kapitals« bis zum letzten durchzwängt, weil man die darin behandelten Prozesse nicht begreifen kann, wenn man nicht wenigstens ein paar Seiten Hegel gelesen und verstanden hat. Das bedeutet, dass wir von dieser hetzenden, mit heraushängender Zunge den Theorien und den aktuellen Ereignissen nachlaufenden Struktur der Bildungsprozesse wegkommen müssen. Wir müssen einerseits ein Bewusstsein gegenüber dringenden aktuellen Problemen entwickeln und andererseits dafür sorgen, dass eine solche Vorlesung trotz laufender Aktion ungehindert stattfinden kann.
Beides sind unsere Probleme, und es lässt sich nichts davon abtrennen. Ich erinnere mich daran, dass nach dem Putsch in Chile (11.9.1973) der Rosa Luxemburg Kongress in Reggio, Italien ablief. Da fand, das ist kritisch einzuwenden, zum Teil eine Akademisierung statt, doch dabei war die Problematik Chiles permanent präsent, ohne dass der Kongress durch irgendwelche Aktionen unterbrochen worden wäre. Vielmehr sind wir anschließend abends demonstrieren gegangen. Die aktuelle Zerfaserung aber ist etwas Fürchterliches, und das erlebe ich jetzt schon seit 1967.
Ich fing an mit einem Seminar über Marx. Dahin kamen 1000 Leute, und alle waren sie dabei, Cohn-Bendit, Krahl u. a. Das war phantastisch und lief auch die ersten Stunden ausgezeichnet, selbst beim frühen Marx. Aber dann schien ihnen allmählich die Materie zu trocken, auch zeitlich zu weit entfernt und mit den damaligen Ereignissen nicht zu vermitteln. Als ich das merkte, sagte ich mir: »Nimm Lenin, und zwar den Linksradikalismus, das muss doch etwas sein, was sie unmittelbar berührt«, und als wir uns da durchgequält hatten, kam endlich die Institutsbesetzung.110 Befreit zogen die Leute ins Institut und ließen das Seminar fallen. Man merkte buchstäblich die Erlösung, als Genossen auftraten und sagten: »Was sollen wir hier über Lenin diskutieren, da wird das Institut besetzt. Das sind unsere Aufgaben. Also marschieren wir dahin.«
Das ist die Fatalität der Ad-hoc-Gewichtung in der Überzeugung, mit Lenin könne man sich immer noch beschäftigen, aber ein Institut besetzen, das mache man nicht jeden Tag. Diese Kalkulation mit der Aktualität ist etwas ganz Ruinöses. Deshalb müssen wir gemeinsam Formen entwickeln, die an Theoriebildung festhalten in der Überzeugung, dass das langfristig gesehen auch eine politische Tätigkeit ist. Wenn wir in der Beschäftigung mit Kant, Hegel aber nur eine Pflichtübung sehen, dann bedarf es nur noch des Anlasses, um diese Anstrengungen sofort wieder aufzugeben. Das ist genauso, wenn in der traditionellen Schule, Gott sei Dank nicht in allen Schulen, eine Klasse sitzt, die aufmerksam zuhört, was Karl der Große einst gemacht hat, und plötzlich kommt einer mit einem Kaninchen herein: Natürlich springt die Klasse auseinander. Die Autonomie von Aufmerksamkeit muss sich durch die Sache herstellen. Wenn sie nicht da ist, nützt alles nichts. Wenn aber diese Autonomie hergestellt ist, wie in der Glocksee Schule, dann stört eine solche Klasse kein Kaninchen und kein Frosch. Diese Konstitution von Aufmerksamkeit gelingt nur durch eine Form von selbstreguliertem politischem Lernen. Es muss dazu kommen, dass diejenigen, die hier sitzen – und es ist sehr eindrucksvoll, dass hier so viele sitzen –, dass Sie tatsächlich das, was vorgetragen wird, als wichtig für