Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Название Politische Philosophie des Gemeinsinns
Автор произведения Oskar Negt
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783958298217



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sind sie aber, wenn auch nicht durch sein Zutun, meist gescheitert, was auch er nicht verhindern konnte. Schon über Bakunins Mobilität haben sich Marx und Engels aufgeregt, die zeit ihres Lebens an einem Platz der Welt festgenagelt waren, Marx noch dazu in einem Museum.105 Das ist nur eine lustige Anekdote, aber wer einmal den Briefwechsel verfolgt, kann nicht übersehen, dass solche subjektiven Momente eine Rolle spielen. Bakunin hatte etwas Zigeunerhaftes an sich, während Sesshaftigkeit gewissermaßen die Definition für die Arbeitsmoral von Marx war, der am »Kapital« förmlich klebte und nicht weiterkam. Diese Form der Sesshaftigkeit, des Beständigen und dessen, was Geltung hat und lange dauert, was mit Schweiß erworben ist, alle diese Momente spielen im privaten Briefwechsel von Marx eine Rolle, und im Grunde ist das die Produktionsweise eines bürgerlichen Gelehrten, der sich bis zum Tode in seinen Ideen aufzehrt. Tatsächlich war Marx auch durchaus darauf bedacht, als Bürger zu gelten. Ich möchte das mit einer weiteren Anekdote illustrieren. Als eine seiner Töchter heiraten wollte, setzte sich Marx hin und fragte denjenigen, der um ihre Hand anhielt: »Sie wollen meine Tochter heiraten, wie ich erfahre. Was haben Sie denn anzubieten, was haben Sie für Besitz, haben Sie geregeltes Einkommen?«106

      Doch auch von solchen persönlichen Momenten abgesehen haben die Hektik, die Unbeständigkeit, das Zigeunerhafte, der Dilettantismus, der sich darin ausdrückte, dass Anarchisten innerhalb von zwei Tagen fertige Programme produzierten für irgendeine Bewegung, die im Gange war oder in Gang gesetzt werden sollte, diese Schnelligkeit, mit der sie auf Situationen reagierten, haben bei Marx und Engels größte Vorbehalte hervorgerufen.

      Was jedoch inhaltlich als Anarchismus verstanden wurde, ist sehr verschieden. Zum Beispiel war bei Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), der als Anarchist bezeichnet wird, die Wohnungsfrage, welche die Arbeiter tatsächlich berührte, entscheidend. Alle Auseinandersetzungen mit Proudhon, abgesehen von Marx’ »Misère de la Philosophie« (1847), drehen sich um diese Wohnungsfrage. Mit welcher Intensität sich auch Marx und Engels mit diesem Problem beschäftigt haben, ist kaum nachvollziehbar, wobei das Argument von Engels war, man könne das Wohnungsproblem erst lösen, wenn das Kapitalverhältnis abgeschafft ist.107 Das konnten die Arbeiter natürlich nicht verstehen, weil die Lösung der Wohnungsprobleme viel zu dringend gewesen ist und hier unmittelbare Interessen angesprochen und mobilisiert wurden. Proudhons Verbreitung bei den Massen beruhte darauf, dass er die Massen nicht auf eine radikale Wendung ihres Schicksals vertröstete, sondern ihnen konkrete Schritte anbot.

      Hier ist schon zu sehen, dass Anarchisten nicht immer nur im Sinn hatten, was Marx ihnen vorwarf, den Staat mit einem Schlag zu beseitigen, sondern als Anarchismus wurde auch bezeichnet, was Alltagsvermittlungen anbot wie der Proudhon’sche Versuch, die Wohnungsfrage zu lösen. Dieser Versuch war ganz zweifellos eine Illusion, aber er hatte in der europäischen Arbeiterschaft bedeutende Wirkung entfaltet.

      Ein zweiter Punkt ist, dass die Anarchisten durchgängig vorgeschlagen haben, bestimmte korporative und kooperative Selbstregulierungsformen nicht erst nach der Beseitigung des Kapitalverhältnisses zu entwickeln, Produktivgenossenschaften etwa, die bereits in dieser Gesellschaft auf die neue Gesellschaft vorbereiten sollten. Des Weiteren haben die Anarchisten die Kommunalisierung gefördert, die Dezentralisierung der Selbstregulierung, was im Übrigen im spanischen Anarcho-Syndikalismus Realität wurde. Nicht der Staat soll demnach alles in der neuen Gesellschaft lösen, sondern die Kommunen. Der föderalistische Gedanke, die föderative Struktur relativ autonomer Kommunen im Sinne selbstverwalteter Einheiten, spielt auch bei Proudhon eine große Rolle.

      Ein weiteres Element dringt in diesen Anarchismus ein, das vielleicht nicht von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) stammt, aber dort wie in der russischen Geschichte und auch bei Lew Tolstoi (1828–1910) eine große Rolle gespielt hat: die Assimilierung, die Transposition christlicher Nächstenliebe in das, was bei Proudhon Mutualismus heißt, Gegenseitigkeit oder brüderliche Hilfe. Diese Verbindung von humanitärer Weltanschauung und Christentum, auch von deutschem Idealismus und Christentum, findet sich dann auch in Formen des Anarchismus wieder, etwa bei Gustav Landauer (1870–1919), einem der Rätesozialisten. Er gehört zu denjenigen, die glauben, dass ein Stück Selbstbildung, Selbstorganisation und Selbstregulierung notwendig ist für die Beseitigung von Herrschaft – und zwar schon in dieser Gesellschaft. Das ist zwingend aus der Perspektive zu sehen, dass die Anarchisten nichts vertagen wollten, sondern es unter den Bedingungen realisieren und durchsetzen wollten, die existieren. In Landauers Begriff von Anarchismus, von Herrschaftslosigkeit, von Vertrauen auf die autonome Selbstregulierung der gesellschaftlichen Kräfte in überschaubaren Zusammenhängen ist der Humanismus fast schon penetrant. Schließlich ist im Rätegedanken selbst etwas von anarchistischen Vorstellungen eingegangen. Zumindest lässt sich sagen, dass sich eine bestimmte, subversive Komponente innerhalb des orthodoxen Marxismus der II. und der III. Internationale im Zusammenhang solcher anarchistischen Ideen und des Vorschlags von Selbstverwaltungsorganen, von Räten, herausgebildet hat. Es ist erstaunlich, dass gerade in den Bruchstellen des Übergangs von der II. zur III. Internationale – als die II. noch kritisiert wird, die III. sich aber noch nicht verfestigt hat – ein Werk wie Lenins »Staat und Revolution« (1917) entstehen konnte. Ich kann nur empfehlen, das fünfte Kapitel über die ökonomischen Bedingungen für das Absterben des Staates zu lesen. Hier wird von Lenin selbst eine Tradition eingebracht, die heute völlig vergessen ist, allerdings anti-anarchistisch gewendet, weil die Anarchisten eben doch von einer Abschaffung oder Zerschlagung des Staates gesprochen haben. Das Absterben des Staates ist bei Lenin hingegen ein langwieriger, fast organischer Prozess, aber die Bedingungen dieses Absterbens bestehen darin, dass sich so etwas wie Selbstverwaltung zur Gewohnheitsregel der Menschen ausbildet. Lenin spricht wörtlich davon, dass die Zeit kommen muss und kommen wird, wo die Regierung und die Selbstverwaltung der Dinge für jeden zu einer solchen Selbstverständlichkeit werden, dass keine gesonderte Gewalt über den Individuen notwendig ist. In dieser Lenin’schen Rätekonzeption fanden sich auch die späteren Rätesozialisten wieder wie zum Beispiel Erich Mühsam (1978–1934). Sie verbindet den Anarchismus mit einem Stück Leninismus, womit sich zwei Traditionen treffen, die vorher völlig auseinanderfielen.

      Ich möchte hier nur noch erwähnen, dass Franz Mehring (1846–1919), der eine Geschichte der Sozialdemokratie und auch der Entwicklung des Marx’schen Denkens geschrieben hat,108 als einer von wenigen versucht hat, diesen Streit zwischen Marx und den Anarchisten auf Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen, also auf den Anspruch von Marx, innerhalb der weltweiten Linken das Interpretationsmonopol innezuhaben. Mehring sieht darin auch ein psychologisches Problem und weist das relative Recht des Anarchismus im Marxismus nach. Böse Zungen gehen sogar so weit, zu behaupten, Marx habe eine Reihe von wichtigen Gedanken aus dem Anarchismus übernommen. Das glaube ich nicht. Aber es hat sich in der politischen Geschichte selbst etwas wie eine ewige Wiederkehr des Anarchismus gezeigt, worauf noch einzugehen sein wird.

      Worauf ich hier hinauswill, ist der im Anarchismus enthaltene Populismus, seine Ausrichtung auf das Volk. Das Volk ist Adressat seiner Ideen, ob es sich um die Gewaltsamkeit der russischen Anarchisten oder die Gewaltlosigkeit von Landauer handelt. Davon abgesehen, haben wir es dabei aber mit völlig verschiedenen Phänomenen zu tun. Die praktizierenden Anarchisten in Russland warfen Bomben und zwar in der richtigen Erwartung, sogar Engels hat das bestätigt, dass in einem despotischen System, wo sich das Wertgesetz noch nicht entfaltet hat, also ein gesellschaftlicher Zusammenhang durch Personen gestiftet wird, der Wegfall eben dieser Personen eine erhebliche Wirkung entfaltet. Die Personalisierung der Gewalt und der Objekte, die Gegenstand dieser Gewalt sind, sind aufeinander angewiesen. In bestimmten Phasen der Russischen Revolution ging das so weit, dass Engels sagte, vielleicht könnte der Blanquismus in Russland – von Anarchisten zu sprechen, wagte er nicht – wirkungsvoll sein: wenn also eine Handvoll Leute die Lunte an das Pulverfass hält, damit es zur Explosion kommt.109 Die explosive, widersprüchliche Lage verschiedener Produktionsweisen mit einer despotischen Struktur eröffnet individuellem Terror eine Möglichkeit, weil Einzelpersonen, die verschwinden, nicht völlig ersetzbar sind: Die akkumulierte Legitimation eines Potentaten ist in solchen Systemen nicht einfach ersetzbar. Es sind zwar Nachfolgeverhältnisse gesichert, aber das ersetzt nicht diese Legitimation. Insofern hatte natürlich der Anarchismus hier auch seinen Gegenstand und seine Berechtigung.

      Der Anarchismus Gustav Landauers ist hingegen ein pazifistischer Anarchismus. Im Übrigen