Marseille.73. Dominique Manotti

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Название Marseille.73
Автор произведения Dominique Manotti
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867548366



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wir baden gehen, wäre er darüber nicht weiter traurig. Man muss auch die polizeiinternen Machtkämpfe zwischen Korsen und Pieds-Noirs bedenken, die sind verheerend. Wussten Sie, dass Percheron ein Pied-Noir ist?«

      »Nein, woher sollte ich das wissen?«

      »Ich schließe die Hypothese nicht aus, dass er uns Informationen über die UFRA sammeln schickt mit dem einzigen Zweck, innerhalb der Vereinigung gezielt Alliierte auszuwählen, um seinen Einfluss im Évêché zu festigen.«

      »Verstanden. Machen wir trotzdem unseren Job?«

      »Ja, Commissaire. Unsere Kollegen in Toulon haben nicht unrecht, der Algerienkrieg ist hier in der Region nicht zu Ende, das Feuer kann jederzeit wieder ausbrechen, und in Marseille steht es nicht gut. Wir werden unseren Job also so gut wie möglich machen.«

      »Delmas?«

      »Ich ziehe mit.«

      »Sehr gut. Aber wir wollen nichts überstürzen, wir machen die Dinge der Reihe nach und so, dass wir die Kontrolle behalten. Um Fallen zu umgehen. Womit fangen wir an?«

      »Wir haben nichts über die Marseiller Zweigstelle der UFRA. Wir müssen uns ein paar Informationen beschaffen, ehe wir die Touloner besuchen, sonst laufen wir Gefahr, dass man uns überfährt oder wir uns lächerlich machen.«

      Daquin beauftragt Delmas, alle Informationen über die UFRA-Zweigstelle in Marseille zusammenzutragen, die in diversen Behördenakten, Pressespiegeln und anderweitig verfügbar sind, und dabei auch einen Blick in die Verbrecher­kartei zu werfen. Und Grimbert wird versuchen, die »Polizisten aus unseren Reihen im Dunstkreis der UFRA« zu identifizieren, falls es sie gibt. Da er die Marseiller Polizei gut kennt, ruft er, bevor er in Aktion tritt, den Dicken Marcel an, um eine Verabredung zu treffen. Der Dicke Marcel ist eine Figur, deren Erlaubnis unabdingbar ist, will man sich in den Abteilungen der Police Urbaine bewegen. Er bestellt Grimbert für den nächsten Tag zum Mittagessen bei Étienne, ihrer gemeinsamen Kantine.

      Dienstag, 21. August

      Daquin durchstreift die Gegend um das Vereinslokal der UFRA Marseille, ohne dabei viel zu gewinnen. Das Lokal mit Fensterfront zur Straße besteht aus einem Warteraum und einem Büro. Eine sehr hübsche junge Frau empfängt und berät die wenigen Personen, die kommen, es ist nicht viel los, offenbar macht sie den Bürodienst allein. Um interessante Informationen zu finden, müsste ich wissen, wonach ich suche. Ich komme wieder, wenn es so weit ist.

      Grimbert hat sein Gespräch mit dem Dicken Marcel akribisch vorbereitet. Improvisation kommt nicht infrage. Um die Nachforschungen anzustellen, die ihm vorschweben, braucht er des Dicken stillschweigende Zustimmung, und das ist nicht einfach. Der Dicke Marcel hat keine klar definierte Führungsverantwortung, er begnügt sich mit dem Dienstgrad eines Brigadier-Chef mit unbestimmten Funktionen. Er taucht in keinem Organigramm auf, aber im Alltag der Police Urbaine geht nichts an ihm vorbei. Denn der Dicke Marcel kennt ihn weit besser als die amtierende Chefetage. Jeder redet mit ihm über seine Abteilung, seine Arbeit, seine Probleme, sein Leben. Quasioffiziell ruft er seine »Räte« zusammen, bedächtige Leute, womöglich etwas ausgelaugt, also ohne persönliche Ambition, die aus unterschiedlichen Abteilungen kommen und vor allem einer der mächtigen Einflussgruppen angehören, die sich in der Polizei organisiert haben – die Gewerkschaft Force Ouvrière, die Freimaurer, der SAC, die Vereine der Pieds-Noirs … –, und das Vertrauen ihrer Berufskollegen genießen. Er gibt ihnen an Informationen weiter, was zu diskutieren er für zweckdienlich hält, und gemeinsam versuchen sie polizeiinterne Konflikte zu entschärfen, für einen friedlichen Ablauf des Alltags zu sorgen. Ihre Analysen und Vorschläge werden von Marcel an die offiziellen Führungskräfte weitergeleitet, die sie meist aufgreifen und finden, dass sie gut damit fahren. Der Dicke Marcel arbeitet seit fünfzehn Jahren so, und im Großen und Ganzen hat die Marseiller Polizei auf diese Weise einiges überlebt: die Machtergreifung de Gaulles, die viel von einem Staatsstreich hatte; die Schaffung des schlagkräftigen Ordnungsdiensts SAC durch die gaullistische Staatsmacht, der wenig pingelig in seinen Methoden war und die offizielle Polizei unterwanderte; die Aufgabe Algeriens 1962, gefolgt von Attentaten und dem von der OAS geführten Minibürgerkrieg; der Massenzuzug von hunderttausend Repatriierten in der Stadt, darunter viele Polizisten aus der ehemaligen Kolonie, die auf direktem Weg in die Polizei des Mutterlands integriert wurden. Die jüngsten Erschütterungen: Im Mai 1968 beantwortet die gaullistische Staatsmacht die Proteste der Studenten und Arbeiter mit der Amnestierung aller Strafgefangenen der OAS, wahrscheinlich um Verbündete gegen »die linken Chaoten« zu gewinnen, die Gefängnisse leeren sich, viele der Begnadigten, und nicht die geringsten, lassen sich in der Region Marseille nieder. Epidemie von Überfällen, Tiefschläge und Einflusskämpfe innerhalb der Polizei, neue Probleme … Dann, 1969, ist de Gaulle weg, und jetzt wissen alle, dass an der Regierung in Paris Politiker beteiligt sind, die mit Französisch-Algerien und der OAS sympathisieren. Daraufhin leben in Marseille die Spannungen zwischen den korsischen Altmeistern und den Pied-Noir-­Herausforderern, die ihre Stunde für gekommen halten, auf allen Ebenen des Polizeiapparats wieder auf. Und der Dicke Marcel ist sich der Gefahren, die ihn umgeben, sehr wohl bewusst. Deshalb nicht unfroh, über »all das« mit Grimbert zu reden, einem Burschen, den er ganz jung als Schutzpolizist in die Polizei hat eintreten und dann recht schnell aufsteigen sehen. Er hatte ihn schon früh bemerkt und erwogen, ihn zu einem seiner »Räte« zu machen, vielleicht sogar einem Vertrauten. Aber Grimbert hat ihn enttäuscht, als er das interne Auswahlverfahren zum Inspecteur durchlief und zur Kriminalpolizei wechselte. Die Kriminalpolizei, das sind Intelligenzler, keine Bullen. Trotzdem hat Marcel sich eine gewisse Zuneigung für ihn bewahrt, wie für einen brillanten Sohn, der immer nur macht, was er will.

      Bei Étienne zwängen sich Grimbert und der Dicke Marcel an einen kleinen Tisch. Marcel wendet dem Raum den Rücken zu, was bedeutet: Nicht stören. Supion für den einen, Fleischbällchen für den anderen, zwei Bier. Kein Vorgeplänkel, die Zeit läuft, Grimbert kommt sofort zum Kern der Sache.

      »Mein Team hat von der Kriminalpolizei Toulon einen Wink bekommen, die Kollegen stellen im Umfeld der UFRA die Zunahme von Gewalttaten fest, immer häufiger bewaffnet. Sie fürchten, es könnte sich um eine Art Testlauf für den Aufbau einer gut strukturierten Untergrundorganisation mit terroristischen Aktivitäten handeln. Sie fragen, wie es bei uns aussieht, hier in Marseille und insbesondere bei der Marseiller Polizei.«

      »Warum sprichst du mich darauf an? Bildest du dir ein, ich weiß es und verrate es dir?«

      »Nein. Aber ich glaube, dass auch du dir Sorgen machst, Marcel. Hinter dieser Art Organisation steckt ein Machtkampf, es geht um die Macht innerhalb der Polizei, deine Macht. Wenn Polizisten sich systematisch an einem mehr oder weniger geheimen Netzwerk außerhalb deiner Kontrolle beteiligen, wirst du irgendwann abserviert, und das weißt du.«

      Marcel schweigt, Grimbert sieht ihm beim Denken zu. Dann entschließt er sich zum Reden.

      »Was hast du bei der Kriminalpolizei verloren? Du fehlst mir, Grimbert. Was willst du?«

      »Ich informiere dich, dass ich herumzuschnüffeln gedenke. Du weißt es und behinderst mich nicht.«

      »Und du hältst mich auf dem Laufenden, Schritt für Schritt.«

      Grimbert nickt und lächelt.

      »Étienne, zwei Espresso.«

      Sobald er Marcel verlassen hat, ruft Grimbert seine Frau an.

      »Es wäre eine gute Idee, deine Freundin Françoise heute oder morgen zum Abendessen einzuladen, sie hat Ferien, es sollte klappen.«

      Mélanie Grimbert ist eine blühende Frau. Sie ist Lehrerin, sie liebt ihren Beruf, sie liebt die zwei hübschen Bengel, die sie mit Grimbert fabriziert hat, sie liebt Grimbert selbst, ein zuverlässiger Mann und mit seiner Arbeit hinreichend ausgelastet, um ihr in der Familie die Schlüsselhoheit zu überlassen. Das ist es durchaus wert, ihm hin und wieder unter die Arme zu greifen, so wie heute Abend. Sie hat die Jungs zum Abendessen und Übernachten zu Freunden geschickt und Françoise eingeladen, ihre Freundin aus Kindertagen, die in der Verwaltung der Marseiller Polizeipräfektur arbeitet und in den Sechzigerjahren damit beauftragt war, die Eingliederung