Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte. Christoph Wilker

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Название Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte
Автор произведения Christoph Wilker
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783862223718



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       Abb. 6: Rita im Alter von vier Jahren (links im Bild, 1934)

      Aus naheliegenden Gründen widersprach eine Erziehung durch Zeugen Jehovas den Wertvorstellungen des neuen Regimes. Wie unter dem NS-Regime mit Kindern von Zeugen Jehovas mitunter umgegangen wurde, zeigt die folgende Bemerkung in einer Veröffentlichung der Zeugen Jehovas aus dem Jahre 1937, die mit einem ironischen „Heil Hitler“ schließt:

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       Das goldene Zeitalter, September 1937

       Das goldene Zeitalter – 1936/37 „Personalien der Eltern gefährdeter Kinder

      Neulich kamen Polizeibeamte, […] um bei den Zeugen Jehovas, welche Kinder haben, festzustellen, wie ihre Personalien seien, dabei führten sie Formulare mit, die folgenden Kopf hatten: ‚Personalien der Eltern von gefährdeten Kindern‘. Das satanische Tier [das NS-Regime] betrachtet also die Kinder, welche streng christlich erzogen werden, als erzieherisch ‚gefährdet‘, beabsichtigt also einen Kinderraub. Was schert sich das Raubtier um das Naturgesetz, daß ein Kind seiner Mutter gehört […] ‚Heil Hitler‘.“[6]

      Mehr als 500 Fälle sind dokumentiert, in denen Kinder aus den Reihen der Zeugen Jehovas ihren Eltern durch den NS-Staat entrissen wurden. Aus heutiger Sicht erscheint diese Zahl klein, auch wenn man sie in Relation setzt zu der Zahl der Kinder der damals 25.000 Zeugen Jehovas im Deutschen Reich, die im fünfstelligen Bereich gelegen haben wird. Die Zahl zeigt aber andererseits, dass es sich dabei um ein reales Risiko handelte, mit möglicherweise tragischen Folgen. Berichte über derartige Maßnahmen mussten bei Familien von Zeugen Jehovas mit Kindern große Ängste ausgelöst haben.

      Auch Rita stand durchaus in der Gefahr, Opfer eines Kinderraubes durch die Nationalsozialisten zu werden, um eine NS-konforme Erziehung, zum Beispiel in einem NS-Erziehungsheim, zu erhalten.

      Wie ist heute, aus der zeitlichen Distanz, eine Erziehung durch Zeugen Jehovas während der NS-Diktatur zu beurteilen?

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       Abb. 7: Bericht der Gestapo München Wohnungsdurchsuchung

      Sie war ein Schutz vor dem Gedankengut, welches von den Nationalsozialisten verbreitet – und von weiten Teilen der Bevölkerung auch angenommen wurde. Über die Bedeutung der Erziehung im Elternhaus äußerte sich der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi 1999: „Sie [die Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime] haben uns gezeigt, dass Glaube und Anstand, humanistische Werte und überzeugte Menschlichkeit wenig mit Parteipositionen rechts oder links zu tun haben, wohl aber mit einer Erziehung zu und Einübung von religiösen und ethischen Werten.“[7]

      BETEILIGUNG VON RITAS ELTERN AN GEFÄHRLICHER FLUGBLATT-KAMPAGNE

      Die Beobachtungen und Erfahrungen, die Rita in den Folgejahren machen musste, passten nur zu gut zu dem, was ihre Eltern ihr über die Hitler-Regierung vermittelt hatten. Sie erinnert sich an einen Tag im Jahre 1936, als die Gestapo bei ihnen eine Wohnungsdurchsuchung machte.

       „Die Gestapo brachte die ganze Wohnung durcheinander. Die Polizei fand aber nichts.“

      Ende 1936 herrschte Hitler bereits seit knapp vier Jahren im Deutschen Reich und viele Zeugen Jehovas befanden sich inzwischen in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Um die Öffentlichkeit auf die Verfolgung durch das NS-Regime aufmerksam zu machen und dagegen zu protestieren, organisierten die Zeugen Jehovas eine zweite Kampagne.[8] Am 12. Dezember 1936 verbreiteten sie in einer Blitzaktion im ganzen Deutschen Reich Flugblätter mit dem Titel „Resolution“. Die Resolution war eine öffentliche Erklärung, dass sich die Glaubensgemeinschaft nicht an die Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit durch das NS-Regime halten werde und enthielt Informationen zur Verfolgung der Gemeinschaft.

      Auch der Werkmeister Ludwig Glasner verteilte am 12. Dezember 1936 diese Flugblätter. Seine Frau Katharina unterstützte ihn bei den Vorbereitungen. Die Aktion fand wenige Wochen vor dem siebten Geburtstag von Rita statt. Ritas Eltern hielten die sehr gut vorbereitete und im ganzen Deutschen Reich zu einer fest vereinbarten Zeit durchgeführte Verteilung streng vor ihrer Tochter geheim. Es galt, jedes Risiko zu vermeiden und Rita nicht unnötig zu belasten.

      VERBREITUNG DES PROTESTFLUGBLATTES LÖST VERFOLGUNGSWELLE AUS

      Die Verbreitung der Protestflugblätter löste eine heftige Verfolgungswelle gegen die Zeugen Jehovas im ganzen Deutschen Reich aus. Durch ihr öffentliches Wirken vor dem Verbot waren die Mitglieder der Religionsgemeinschaft in ihrer Umgebung meistens namentlich bekannt. Bei vielen folgten kurz nach der Flugblattaktion Hausdurchsuchungen. Am 3. Februar 1937 erschienen Gestapo-Beamte bei Familie Glasner und durchsuchten deren Wohnung. Eine unmittelbare Verbindung zur acht Wochen zurückliegenden Flugblattverteilung ist allerdings unwahrscheinlich. Erst bei dieser zweiten Wohnungsdurchsuchung am 3. Februar 1937 wurde die Gestapo fündig: „Gefunden und beschlagnahmt wurde ein Liederbuch ‚Gesänge zum Preise Jehovas‘“ (vergleiche Abbildung 7, hier).

      In den Augen der Gestapo-Beamten galt die Verbindung zur verbotenen Internationalen Bibelforscher-Vereinigung damit als bewiesen. Ritas Eltern wurden einen Tag später zur Gestapo vorgeladen. Die Vorführungsnote von Ludwig Glasner vom 4. Februar 1937 trägt den Stempelaufdruck „Haft“. Noch am selben Tag wurde Ludwig Glasner in das Polizeigefängnis München-Neudeck verbracht.

      Es folgten Verhöre durch Gestapo-Beamte, die vermuteten, dass Ludwig und Katharina Glasner an der Flugblatt-Kampagne vom 12. Dezember 1936 beteiligt gewesen waren. Doch Ludwig Glasner bestätigte keine illegale Betätigung für die Internationalen Bibelforscher. Am 11. Februar 1937 wurde er erneut verhört. Jetzt äußerte sich Ludwig Glasner zur Verteilung der Flugblätter, nachdem er eine Woche in Haft und sehr wahrscheinlich durch brutale Misshandlungen unter Druck gesetzt worden war.

      Auszug aus dem Gestapo-Protokoll vom 11. Februar 1937: „Am 11.2.37 Glasner aus Polizeihaft vorgeführt und nochmals zur Sache vernommen, erklärte nach längerem Leugnen, daß er nun die volle Wahrheit sagen wolle, worauf er folgende Erklärung abgab: Daß ich anfangs nicht sofort die Wahrheit sagen wollte, hat seinen Grund darin, daß ich nicht zum Verräter werden wollte. Ich gebe nun zu, daß ich Resolutionen verteilt habe…“[9]

      Bei einem weiteren Verhör am selben Tage nannte Ludwig Glasner unter dem Druck der Gestapo-Beamten weitere Details zur Verbreitung der Flugblätter. Nach drei Monaten Haft folgte am 13. Mai 1937 seine Verhandlung vor dem Münchner Sondergericht. Dabei drehte es sich um die Verbreitung des von den Nationalsozialisten als „Hetzschrift“ bezeichneten Protestflugblattes „Resolution“. Im Urteil des NS-Sondergerichts München vom 13. Mai 1937 gegen Ludwig Glasner wird der Inhalt des Flugblattes wie folgt kommentiert:

      „In der [Resolution wird] in scharfer und staatsfeindlicher Weise für die Lehre [der Bibelforscher] eingetreten und gegen das staatliche Verbot der Sekte und die in Durchführung des Verbots getroffenen staatlichen Maßnahmen Stellung genommen. Diese ‚Resolution‘ wurde am 12.12.1936 von den Anhängern der Bewegung schlagartig in Tausenden von Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet.“[10] Zur Beteiligung von Ludwig Glasner an der Verbreitung wird Folgendes festgestellt: „Am Donnerstag, den 10.12.1936, übergab [Lorenz] Hofstetter dem Angeklagten Ludwig Glasner am Max-Weber-Platz in München, wohin er ihn 2 Tage vorher bestellt hatte, 8 Päckchen mit je 50 Stck. der ‚Resolution‘. Am Abend desselben Tages kam Hofstetter zu Glasner in die Wohnung, erklärte ihm den Inhalt der Päckchen und beauftragte ihn, die Resolutionen durch die Eheleute Sedlmaier und Frau Friedl verteilen zu lassen und sich selbst an der Verteilung zu beteiligen. 3 Päckchen nahm Hofstetter an dem Abend wieder mit. Dem Angeklagten verblieben also 5 Päckchen mit je 50 Stück der ‚Resolution‘. Er steckte, teilweise mit Hilfe seiner Ehefrau, sämtliche Resolutionen in Briefumschläge. Später