Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte. Christoph Wilker

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Название Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte
Автор произведения Christoph Wilker
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783862223718



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       KAPITEL 1

      Frühes Verbot der Glaubensgemeinschaft – Erste Auswirkungen auf Ritas Familie

      Rita Glasner erlebte als Angehörige einer verfolgten Minderheit zwölf Jahre NS-Terrorherrschaft. Wie empfand sie, als Einzige in der Schule den Hitlergruß abzulehnen und wie reagierten ihre Lehrer? Wie ist sie damit umgegangen, nach der zweiten Inhaftierung ihrer Mutter im Jahre 1943 mehrere Monate völlig auf sich allein gestellt zu sein? Welche Erinnerungen hat sie an den dramatischen Gerichtsprozess in Berlin, als ihre Mutter zunächst zum Tode verurteilt werden sollte, schließlich aber sieben Jahre Zuchthaus erhielt? Warum sah das Gericht für ihre Mutter diese hohe Strafe vor? Wie ging alles letztendlich aus und wie beurteilt Rita diese schwere Zeit heute, im Alter von 85 Jahren? Bevor Rita als Zeitzeugin auf diese und viele weitere Fragen und Szenen ihres Lebens eingeht, nehmen wir den Beginn des NS-Regimes und die ersten Auswirkungen auf ihre Familie in den Blick.

      Nachdem Adolf Hitler Ende Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, überstürzten sich die Ereignisse. Zug um Zug und in schneller Reihenfolge wurden Freiheits- und Menschenrechte immer mehr beschnitten, um den Handlungsspielraum für Hitlers politische Ziele zu erweitern. Er wurde zum Diktator über Gut und Böse; und wer sich widersetzte, musste mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen.

      Rita Glasner war zu dieser Zeit ein Kleinkind, 1933 gerade einmal drei Jahre alt. Ihre Eltern waren im selben Jahr Bibelforscher geworden, wie die Anhänger der Religionsgemeinschaft, die 1931 den Namen Jehovas Zeugen angenommen hatten, in der Öffentlichkeit weiter genannt wurden.[1] Die Bibelforscher gehörten zu den wenigen, die sich nicht vom NS-Überwachungsstaat dessen „Werte“ diktieren ließen. Sie folgten weiter biblischen Maßstäben für Gut und Böse. Daher waren sie überzeugte Kriegsgegner. Und sie verweigerten den Hitlergruß, weil sie den Führerkult ablehnten. Die Konsequenz ihrer Haltung und Überzeugung führte zu zahlreichen Konflikten mit dem NS-Staat.

      Doch das frühe Verbot der Glaubensgemeinschaft in den Ländern des Deutschen Reiches bereits wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers (10. April in Mecklenburg, 13. April 1933 in Bayern usw.) hatte andere Ursachen. Zum einen störten sich die Nationalsozialisten an dem internationalen Charakter der Bibelforscher-Bewegung („Internationale Bibelforscher-Vereinigung“). Hinzu kam die Propaganda national gesinnter Personen, die die Bibelforscher beispielsweise als „eine pazifistische, unkontrollierbaren ausländischen Einflüssen unterliegende und dem Judentum Schrittmacherdienste leistende Organisation“ oder als „amerikanische Sekte mit starkem kommunistischen Einschlag“ bezeichneten und damit Vorurteile gegen die Gemeinschaft schürten.[2] In der vom nationalsozialistischen Politiker Julius Streicher herausgegebenen antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ wurde bereits im Dezember 1924 unter dem Titel „Entlarvung der ‚Ernsten Bibelforscher‘“ die angeblich „intime Verbindung mit dem internationalen Judentum“ betont und behauptet, „daß die sogen[annten] ‚Ernsten Bibelforscher‘ eine mit Judengeld aufgezogene Unternehmung zur Irreführung der christlichen Menschheit“ sei. In dem Artikel wird erwähnt, dass die „Enthüllungen“ einem Bericht der katholischen Kirchenzeitung der Erzdiözese Bamberg vom 14. Dezember 1924 entnommen worden seien.

       Abb. 2: Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministers des Innern vom 13. April 1933 über das Verbot der Ernsten Bibelforscher

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       Abb. 3: Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933

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      Ohnehin bestanden angesichts des Einflusses der beiden großen Kirchen Ressentiments in der Gesellschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diejenigen, die sich den Zeugen Jehovas angeschlossen hatten, in den weitaus meisten Fällen vorher aus der Kirche ausgetreten waren. Das traf auch auf die Eltern von Rita zu, die vorher der katholischen Kirche angehört hatten. Die Haltung der katholischen Kirche wird auch deutlich durch das Agieren des damaligen Münchner Kardinals Michael von Faulhaber (1869–1952). Der Theologe war ab 1917 Erzbischof von München und Freising, ab 1921 Kardinal und Professor für „Alttestamentliche Exegese und biblische Theologie“. Faulhaber bedankte sich mit Schreiben vom 5. Mai 1933 bei den bayerischen Staatsministern für die gegen die Zeugen Jehovas getroffenen Maßnahmen, die in Bayern drei Wochen zuvor, am 13. April 1933, verboten worden waren. Der Kardinal erkannte in dem Schreiben dankbar an, „daß sich im öffentlichen Leben unter der neuen Regierung manches verbessert hat: Die Gottlosenbewegung ist eingedämmt, die Freidenker können nicht mehr offen gegen Christentum und Kirche toben, die Bibelforscher können nicht mehr ihre amerikanisch-kommunistische Tätigkeit entfalten.“[3]

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       Abb. 4: Straßenschild „Kardinal-Faulhaber-Straße“, Münchener Innenstadt

      Die Ablehnung des Hitlergrußes löste zwar auch Verfolgungsmaßnahmen aus, sie war aber nicht die originäre Ursache des frühen Verbots. Und die kompromisslose Verweigerung des Wehrdienstes wurde erst mehr als zwei Jahre nach Beginn der NS-Herrschaft zu einem Problem der Zeugen Jehovas, nachdem mit Erlass des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 die Wehrpflicht wieder eingeführt worden war.

      Ein bedeutendes Konfliktpotenzial entstand durch das Verbot der Glaubensgemeinschaft im April 1933 an sich. Die Zeugen Jehovas vertraten den Standpunkt „göttliches Recht bricht weltliches Recht“ und missachteten daher das Verbot, indem sie sich weiter zu Bibelkreisen trafen und ihr christliches Gedankengut verbreiteten. Bereits das gemeinsame Lesen in der Bibel löste Verhaftungen und Gefängnisstrafen aus, weil dadurch der organisatorische Zusammenhalt der verbotenen Vereinigung gefördert wurde.

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       Abb. 5: Ludwig und Katharina Glasner mit der zweijährigen Rita (Bildmitte, 1932)

      Die meisten der 1933 bekannten 500 Münchner Zeugen Jehovas setzten mit ihren Kindern ihre Aktivitäten ungeachtet des Verbots fort. Auch Ludwig und Katharina Glasner besuchten mit ihrer kleinen Tochter Rita weiter die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas, die nun in kleineren Kreisen, im Untergrund „Zellen“ genannt, stattfanden.

       Text der etwa 20.000 Protesttelegramme aus aller Welt:

       „IHRE SCHLECHTE BEHANDLUNG DER ZEUGEN JEHOVAS EMPÖRT GUTE MENSCHEN UND ENTEHRT GOTTES NAMEN. HÖREN SIE AUF JEHOVAS ZEUGEN WEITER ZU VERFOLGEN, SONST WIRD GOTT SIE UND IHRE NATIONALE PARTEI VERNICHTEN …“

      1934 reagierten die Zeugen Jehovas erstmals mit einer Kampagne auf das Verbot und die gegen ihre Gemeinschaft geführten Verfolgungsmaßnahmen. Am 7. Oktober 1934 wurde von allen Ortsgruppen der Zeugen Jehovas in Deutschland ein an die Reichsregierung gerichteter Protestbrief verschickt. Außerdem wurden tausende Protesttelegramme aus dem Ausland versandt, weil auch das Informationsnetz in andere Länder weiter intakt war.

      Für München organisierte der damalige Leiter der Ortsgruppe, Johann Kölbl, den Versand der Protestnote. Der Historiker Henrik Eberle stellte fest, dass der an Hitler gerichtete Protest massive Folgen hatte. Mindestens tausend dieser Schreiben wurden an die Gestapo[4] „zur weiteren Bearbeitung“ weitergeleitet. Es folgte eine reichsweite Verhaftungswelle. Eberle bewertete diese Aktion der Zeugen Jehovas als „Akt kollektiver und kompromissloser Selbstbehauptung, der Achtung abringt.“[5] Rita war zu dieser Zeit etwa fünf Jahre alt.

      RITAS ERZIEHUNG

      Rita wurde von klein auf im christlichen Glauben nach dem Verständnis der Zeugen Jehovas erzogen. In ihren Schilderungen betont sie, dass sie bereits mit drei Jahren grundlegende Aussagen der Bibel verstehen und schätzen lernte. Schon früh trat sie fest für diese Werte ein. Rita berichtet, dass sich ihr Vater auch Zeit nahm, um ihr zu erklären, was es mit Hitler und seinem Staat auf sich hatte.