Dornröschen muss sterben. Ulrike Barow

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Название Dornröschen muss sterben
Автор произведения Ulrike Barow
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264249



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von Menschen, Gepäckkarren und Pferdekutschen wartete darauf, sich zum langen Marsch über die Hafenstraße zu formieren.

      Auch Wolf Arnken und sein Sohn Jannis hatten sich eingereiht.

      Endlich wieder auf Baltrum! Wolf freute sich. Ein ganzes Jahr war seit dem letzten Aufenthalt vergangen, aber im traditionellen Himmelfahrtsdurcheinander am Hafen war er schnell wieder heimisch.

      »Papa, hier steht unsere Wippe. Ich passe drauf auf, und du holst die Koffer, okay?« Jannis Arnken hatte damit schnell eine Aufgabenverteilung vorgenommen, der sich sein Vater kaum entziehen konnte. Immerhin war Wolf einen Kopf größer als sein vierzehnjähriger Sohn. Das war gut für den Überblick.

      Er nickte Jannis zu und versuchte, sich zum Container Nummer 13 vorzuarbeiten. Schmerzhaft schloss sein Knie Bekanntschaft mit der Wippe von Haus Silbermöwe. Verletzungen beim Kampf um das Gepäck waren nicht ungewöhnlich, wenn der Anleger wieder einmal voll war. Weiter. Nach gut fünf Minuten hatte Wolf es geschafft. Er griff die beiden Koffer, aber noch ehe er die Stätte mit seiner Beute verlassen konnte, stellte er fest, dass er beinahe ein falsches Gepäckstück in seine Karre geladen hätte. Schon stand der rechtmäßige Besitzer neben ihm und nahm ihm mit einem schnellen Griff die Tasche aus der Hand.

      »Entschuldigung«, murmelte Wolf, erwischte diesmal die richtige Tasche und kehrte zu seinem Sohn zurück. »Jetzt ist mir klar, warum du nicht gehen wolltest. Jedes Jahr das gleiche Theater. Aber was soll’s. Wir haben Ferien!«

      Jannis grinste. Er freute sich schon seit Wochen auf die paar Tage mit seinem Vater. Und auf seine Kumpel, die auch jedes Jahr zur gleichen Zeit mit ihren Eltern auf die Insel kamen. Seit einigen Jahren fanden an diesem Wochenende außerdem die Strandspiele statt, initiiert vom Niedersächsischen Turnerbund und für jeden offen. Da konnte er sich richtig austoben und viele neue Leute kennenlernen.

      Im Ferienhaus Marianne wurden sie als gute Freunde empfangen, denn Wolf Arnken war schon als Kind mit seinen Eltern bei dem alten Ehepaar Kanter häufig zu Gast gewesen. Die beiden lebten nicht mehr, aber ihr Sohn Erwin hatte mit seiner Frau die Pension weitergeführt und Wolf Arnken war nun wiederum mit seiner Familie Stammgast im Hause.

      »Haben wir die gleichen Zimmer wie im letzten Jahr?«, fragte Jannis. Henriette Kanter nickte, und Wolfs Sohn setzte sich, beladen mit Gepäck, stöhnend in Bewegung.

      »Kannst man von Glück sagen, dass ich meine Magnete alle in der Küchenschublade liegen habe, sonst kämst du gar nicht die Treppe hoch«, rief Erwin Kanter leutselig hinter dem Vierzehnjährigen her, der stolz in beiden Ohrläppchen je zwei silberfarbene Ringe trug, die bei jedem Schritt hell klingelten.

      »Cool bleiben, Mann, ist doch nur blanker Neid.« Jannis schüttelte seinen Kopf, dass die Creolen noch lauter klimperten.

      »Wie ist es, Wolf, wollen wir zur Feier des Tages einen Lütten zu uns nehmen, wenn ihr die Koffer ausgepackt habt?«, fragte Kanter. »Wir sind mit der Arbeit auch fast durch, und außerdem ist nicht nur Himmelfahrt, sondern auch Vatertag, also Grund genug, eine Rast in unserer Küche einzulegen.«

      Wolf Arnken nickte ergeben. Eigentlich reizte das Wetter eher zu einem Strandspaziergang, aber er wusste, dass er nicht darum herumkommen würde, über die neuesten Ereignisse im Leben seiner Familie zu berichten. Und zwar ausführlich. Gleichzeitig würde er alles erfahren, was sich während seiner Abwesenheit auf der Insel zugetragen hatte. Auch ausführlich. »Okay, treffen wir uns um elf. Schönen Gruß von meiner Frau übrigens noch. Anke wäre so gerne mitgekommen. Aber der Dienst im Krankenhaus, ihr kennt das ja. Sie will demnächst alleine mal ’ne Woche kommen. Falls ihr ein Zimmer frei habt.«

      Erwin Kanter nickte. »Für euch doch immer.« Und augenzwinkernd fügte er hinzu: »Aber jetzt ein paar Tage ohne Gattin, das ist doch auch ganz schön, oder? Dann bis gleich. Der Genever steht schon kalt.«

      Oben an der Treppe wurde Wolf von Jannis empfangen. »Na, wird der erste Urlaubstag wieder wie im Rausch vorbeiziehen, Pappilein?«

      »Halt bloß dein vorlautes Mundwerk, sonst schicke ich dich gleich zurück nach Bremen, mein lieber Freund. Mit der Bahnhofsmission! Und wehe, du petzt Mama was, dann gibt’s, dann gibt’s …«

      »Ein leckeres Abendessen im Hotel Fresena, wenn ich bitten darf, dann schweige ich. Und bis dahin hast du frei, weil ich mich um wichtigere Dinge kümmern muss, wie zum Beispiel alte Freunde und junge Damen, die zwar jetzt noch dem Ball, in Kürze aber mir nachlaufen werden. Tschüss!«

      Bevor Wolf auch nur die Chance hatte, die Frage loszuwerden, wann der Sohn denn seinen Koffer auszupacken gedächte, war er schon alleine. Er ließ sich lang aufs Bett fallen.

      Urlaub.

      Seine kleine, aber erlauchte Detektei in der Bremer Innenstadt hatte er für vier Tage geschlossen. Sogar sein Handy lag ausgeschaltet zu Hause. Zu viele Klienten kannten seine Nummer und machten zu jeder Tages- und Nachtzeit Gebrauch davon. Er hatte mit seiner Frau verabredet, über das Handy von Jannis Kontakt mit ihr zu halten. Das musste genügen.

      Endlich einmal Ruhe. Wie war das noch? ›Keine Staus. Keine Kompromisse‹. Er grinste und ließ seine Gedanken von einem großen Bier zu einem kleinen Genever schweifen, was ihn zwangsläufig wieder an seine Verabredung erinnerte. Um elf in der Küche. Also los.

      Schnell verstaute er seine Sachen in dem schönen alten Eichenschrank. Familie Kanter hatte immer darauf Wert gelegt, dass sich ihre Gäste besonders wohl fühlten, und war im Winter, wenn nichts los war, häufig am Festland bei Antiquitätenhändlern auf der Suche nach besonders ausgefallenen Möbelstücken. Die stellten sie dann aufwändig restauriert in ihre Gästezimmer. Wolf mochte diesen Stil, er vermittelte ihm das Gefühl von Beständigkeit und Sicherheit. Auch wenn die Betten manchmal quietschten. Das ist eben der Atem des Alters, dachte er und war stolz auf seine lyrische Ader.

      4

      Hendrik hatte genug von der Wuselei am Hafen. Er machte sich auf den Weg zum Strand. Mit Britta war er zwar erst für den Nachmittag verabredet, aber er hoffte, sie könnte bereits am Morgen ein wenig Zeit für ihn erübrigen. Allerdings war ihm bewusst, dass jetzt, da alle Teilnehmer der Strandspiele angereist waren, in der Mehrzweckhalle wohl ein ähnliches Gedränge herrschte wie am Hafen.

      Langsam schlenderte er über die Hafenstraße. Alles genau geregelt, dachte er spöttisch, als ihm wieder einmal die weiß gezogene Linie auf der Straße klarmachte, dass Fahrradfahrer und Fußgänger strikt voneinander getrennt den Weg in den Ort anzutreten hatten.

      Rechts von ihm stieg eine einmotorige Cessna gegen den Wind vom Flugplatz auf. D-ECHP stand mit großen blauen Buchstaben auf der Seitenklappe. Delta-Echo-Charly-Hotel-Papa, internationales Alphabet, dachte er. Was der Mensch sich so in seinem Leben an Wissensfetzen aneignet, ist schon erstaunlich.

      Die Hellerwiesen, die die Hafenstraße begrenzten, zeigten trotz der frühen Jahreszeit einen leichten Ansatz von Braun. Die Gräben waren trocken gefallen. Es hatte einfach zu wenig geregnet in diesem Frühjahr.

      Vor dem Nationalparkhaus wartete eine junge Familie auf Einlass. Eines der beiden kleinen Mädchen, die im Bollerwagen saßen, wagte einen Ausbruchsversuch, wurde aber gleich von der Mutter mit schriller Stimme zurückgerufen. »Chantal, geh nich’ aus den Bollerwagen!! Sitzenbleiben, sons hackt’s!!« Chantal war das offensichtlich völlig egal, sie versuchte abermals, aus dem Holzwägelchen zu klettern. Vielleicht ist auch das Wort ›hackt’s‹ in ihrem Sprachschatz noch nicht so ganz angekommen, dachte Hendrik.

      Er bog ab, lief an der Post vorbei und sah bald das Baltrumer Wahrzeichen, die Inselglocke, vor sich. Das kantige Holzgestell mit der alten holländischen Schiffsglocke stand auf einem mit Heckenrosen eingefassten Rasenstück neben der alten Kirche. Ein mit Koffern beladener Pferdewagen bahnte sich mühsam einen Weg zwischen Menschen, die sich völlig ungehemmt und achtlos von einer auf die andere Straßenseite bewegten, begeistert von dem Wissen, hier keinem Auto zu begegnen. Vielleicht ist die Idee gar nicht verkehrt, alle Inselstraßen mit weißen Mittelstrichen zu teilen, sinnierte Hendrik. Dann hätten die Urlauber wenigstens eine Richtlinie, im wahrsten Sinne des Wortes. So wie am Festland die Verkehrsschilder für ein weiches Bett von Anweisungen